Ein Brief an die Redaktion des Infrarots, der Mitgliederzeitung der JUSO, die nach längerer Pause wieder aufgelegt wird. Erläuterungen zur Theorie des Mehrwerts von Marx und zur Frage, ob es einen «gerechten Lohn» gibt und was das für den Klassenkampf bedeutet.
Liebe Genossinnen und Genossen vom Infrarot
Zuallererst möchten wir euch ganz herzlich gratulieren zur Neuauflage des Infrarots. Das ist ein wichtiger Schritt. Eine sozialistische Partei braucht eine Zeitung, in der ihre Ideen präsentiert und geklärt werden können. Im Besonderen beglückwünschen wir euch zu dieser zweiten Ausgabe zum «Klassenkampf». Das Thema könnte nicht besser gewählt sein in der heutigen Periode, die immer mehr Menschen zur Einsicht führen wird, dass nur die mächtige globale Klasse der Lohnabhängigen der kapitalistischen Barbarei ein Ende setzen kann. Auch die Umsetzung ist euch im Grossen und Ganzen gelungen.
Wir bemerken hier nur beiläufig, dass die «Contra-Klassenkampf»-Position auf den Seiten 6/7 eine fundamental bürgerliche Auffassung vertritt. Wer es ablehnt, den Klassenkampf «von unten» zu führen, landet notwendigerweise bei der Verteidigung des heutigen Systems der Ausbeutung. Der Verfasser hat sich mit Max Weber denn auch einen klassenbewussten Vertreter der deutschen industriellen Bourgeoisie, Vertreter des bürgerlichen Nationalismus und offenen Anti-Sozialisten als theoretische Stütze ausgesucht. Die lesenden GenossInnen werden selbst urteilen können. Wir als Marxistinnen und Marxisten sind jedenfalls fest davon überzeugt, dass solche Positionen weder in eine sozialistische Partei noch in deren Zeitung gehören, schon gar nicht in Form einer Pro-Contra-Gegenüberstellung von offenbar gleichrangigen Ansichten. Eine sozialistische Partei muss sozialisisch sein und sich bedingungslos auf den Standpunkt der Arbeiterklasse stellen, wenn sie ihrem Namen gerecht werden soll und auch tatsächlich etwas für die Sache des Sozialismus tun will.
Wir wollen uns hier aber auf das Wichtigste konzentrieren, nämlich die Seite «Was ist Klassenkampf?». Wir begrüssen den Versuch einer einfachen Erklärung der Mehrwert-Theorie von Marx. Es wird klar gesagt, dass KapitalistInnen und ArbeiterInnen diametral entgegengesetzte Interessen haben und dies heute wesentlich noch genauso der Fall ist wie zu Marx’ Zeiten – und das ist die Hauptsache.
Allerdings gibt es in eurer Darstellung der Mehrwerttheorie einige sehr grundlegende theoretische Missverständnisse. Mit der Entdeckung des Mehrwerts hat Marx das Rätsel der kapitalistischen Ausbeutung gelöst. Nur durch sie können wir verstehen, wie der Kapitalismus funktioniert und was der Klassenkampf ist. Die Mehrwerttheorie ist deshalb die zentrale Waffe im theoretischen Arsenal der SozialistInnen. Wir können uns in dieser Frage keine Unklarheit leisten. Schon die kleinsten Fehler in der Theorie haben hier grosse politische Fehler zur Folge.
Ihr schreibt, der Profit komme daher, dass die ArbeiterInnen nicht den «vollen Wert der Arbeit» ausbezahlt bekämen und daher nicht «gerecht» entlohnt würden. Oder anders: dass «der ganze Mehrwert von den Arbeitenden erarbeitet [wurde], sie kriegen jedoch nur einen Teil davon ausbezahlt». Die ArbeiterInnen hätten deshalb ein «Interesse an gerechter Entlöhnung des erarbeiteten Mehrwerts». Das bringt vieles durcheinander. Dabei sind die Fehler keineswegs neu. Sie waren schon im 19. Jahrhundert Gegenstand grosser Debatten in der europäischen Arbeiterbewegung. Auf sie hingewiesen hat kein Geringerer als Karl Marx selbst. An verschiedensten Punkten seines Lebens hat er haargenau diese theoretischen Fehler und die damit verbundenen politischen Schlussfolgerungen bekämpft, etwa in den Auffassungen des Anarchisten Proudhon, bei Lassalle (einem der Gründerväter der Sozialdemokratie Deutschlands) oder beim britischen Owenisten John Weston in seinem Vortrag Lohn, Preis und Profit, seiner einfachsten und neben dem ersten Band von Das Kapital seiner wichtigsten Darstellung der Mehrwerttheorie.
Die Verwirrung in eurer Darstellung resultiert aus der Vorstellung, dass die ArbeiterInnen nicht zum «vollen Wert der Arbeit» entlohnt würden. Marx hat darauf hingewiesen, dass «der Wert der Arbeit» ein unsinniger Begriff ist.1 Statt die Quelle des Mehrwerts zu enthüllen, verschleiert er sie.
Aber beginnen wir von vorne. Der Startpunkt für die Mehrwerttheorie ist die Feststellung, dass nur menschliche Arbeit Wert schafft. Der Wert einer Ware entspricht daher der in ihr «enthaltenen» Arbeit, oder genauer mit Marx: er wird bestimmt durch die zu ihrer Herstellung «gesellschaftlich durchschnittlich notwendige Arbeitszeit». Damit verstehen wir aber noch nicht, woher der Mehrwert und damit der Profit kommt.
Eine zweite Feststellung ist absolut entscheidend: Im Kapitalismus ist die Arbeitskraft zu einer Ware geworden. Im Unterschied zu früheren Produktionsweisen wie der Sklaverei oder dem Feudalismus, sind die ArbeiterInnen rechtlich frei und Eigentümer ihrer eigenen Arbeitskraft. Da sie aber selbst keine Produktionsmittel besitzen, sind sie gezwungen, ihre Arbeitskraft für einen Lohn an einen Kapitalisten zu verkaufen. «Was der Arbeiter verkauft», erklärt Marx, «ist nicht direkt seine Arbeit, sondern seine Arbeitskraft, über die er dem Kapitalisten vorübergehend die Verfügung überlässt.»2
Der Wert der Ware Arbeitskraft wird bestimmt wie der Wert jeder anderen Ware auch: durch die zu ihrer Herstellung gesellschaftlich durchschnittlich notwendige Arbeitszeit. Das heisst in diesem spezifischen Fall: durch die notwendige Arbeitszeit zur Herstellung all der Waren, die der Arbeiter kaufen muss, um sich zu erhalten und so seine Arbeitskraft jeden Tag aufs Neue verauszugaben (Lebensmittel, Unterhalt, Kleidung, Bildung etc. etc.). Der Lohn ist nichts anderes als der monetäre Ausdruck dieses Werts der Arbeitskraft. Der Arbeiter verkauft also auf dem Markt seine Arbeitskraft an einen Kapitalisten und erhält dafür einen Lohn – eine Markttransaktion wie alle anderen auch: Ware gegen Geld.
Der Kapitalist «konsumiert» diese Ware dann dadurch, dass er den Arbeiter seine Arbeitskraft verausgaben lässt, ihn also für sich arbeiten lässt. Hier schliesst sich der Kreis zur ersten Feststellung: Arbeit schafft Wert. Die Arbeitskraft ist also eine ganz besondere Ware, weil durch ihren Konsum durch den Kapitalisten (durch ihre Anwendung) neuer Wert geschaffen wird. Die Ware Arbeitskraft ist die einzige Ware, die neuen Wert erschaffen kann, indem sie konsumiert wird.
Der springende Punkt ist, dass der Kapitalist den Arbeiter so lange und so intensiv arbeiten lässt, dass dieser am Ende des Monats mehr Wert geschaffen hat, als seine Arbeitskraft selbst besitzt und er ihm als Lohn bezahlen muss. Die Differenz zwischen dem Lohn und dem neu geschaffenen Wert ist der Mehrwert.
Der Lohn entspricht also nicht dem, was der Arbeiter durch seine Arbeit an Wert schafft, sondern dem Wert seiner Arbeitskraft. Der Wert der Ware Arbeitskraft (≈ der Lohn) und der Wert des Arbeitsproduktes (≈ der Preis der hergestellten Ware) sind zwei verschiedene Dinge. Halten wir sie nicht auseinander, können wir nicht verstehen, was der Mehrwert ist und woher er kommt, schliesslich ist er nichts anderes als die Differenz zwischen den beiden.
Entgegen eurer Darstellung können die ArbeiterInnen folglich nicht «nur einen Teil des Mehrwerts» ausbezahlt bekommen. Korrekt ist, dass sie nur einen Teil des von ihnen geschaffenen Werts ausbezahlt bekommen: nämlich den Teil, der dem Wert ihrer eigenen Arbeitskraft entspricht. Der Mehrwert ist der andere Teil: er ist per Definition das, was die ArbeiterInnen nicht ausbezahlt bekommen. Der gesamte Mehrwert geht immer und in jedem Fall in die Tasche der Kapitalisten (in Form von Profit an die Industriellen; in Form von Zins an die Banken und Kreditgeber; in Form von Rente an die Bodenbesitzer) – sonst wäre es kein Mehrwert.
Euer Fehler – wie der vieler anderer zuvor – kommt also daher, dass ihr unter dem Deckmantel des Begriffs «Wert der Arbeit» den Wert der Arbeitskraft mit dem Wert des Arbeitsproduktes zusammenwerft. Indem ihr so die wirkliche Quelle des Mehrwerts verschleiert habt, bleibt euch nichts anderes übrig, als die Quelle des Mehrwerts/Profits in einer «Ungerechtigkeit» zu suchen. Eben darin, dass die Kapitalisten die ArbeiterInnen zu tief und nicht ihrem «vollen Wert» entlohnen würden. Der Grund für die Ausbeutung wird so zu einer subjektiven Sache: Die Kapitalisten zahlen den Arbeitern zu wenig, weil sie ungerecht sind, weil sie fies sind, weil sie Profit machen wollen.
Dass ihr das in dieser Form nicht offen aussprecht, spielt keine Rolle. Es ist die eigentliche methodische Grundlage eurer Ausführungen. Und sie zieht notwendige Konsequenzen nach sich. Weil ihr die Ausbeutung nicht aus den inneren, objektiven Gesetzmässigkeiten des Kapitalismus selbst erklären könnt, wird theoretisch auch ein besserer, weniger ausbeuterischer Kapitalismus denkbar: Es müsste nur gelingen, die Kapitalisten dazu zu bringen, weniger «ungerecht» zu sein. So endet diese Methode zwangsläufig in einem ohnmächtigen, reformistischen Moralismus.
Marx’ Merwerttheorie ermöglicht uns dagegen ein wissenschaftliches Verständnis des Kapitalismus und der Ausbeutung. Die Ausbeutung ist kein unglücklicher Fehler; sie kommt nicht daher, dass die ArbeiterInnen den falschen Lohn erhalten, der nicht mit dem «Wert der Arbeit» übereinstimmt. Sie ist die notwendige Grundlage des Kapitalismus. Sie geschieht gerade dadurch, dass die Arbeitskraft zu ihrem wirklichen Wert verkauft wird, im Arbeitsprozess dann aber neuen Wert schafft, den sich der Kapitalist aneignet. Marx erklärt:
«Um daher die allgemeine Natur des Profits zu erklären, müsst ihr von dem Grundsatz ausgehn, dass im Durchschnitt Waren zu ihren wirklichen Werten verkauft werden und dass Profite sich herleiten aus dem Verkauf der Waren zu ihren Werten, d.h. im Verhältnis zu dem in ihnen vergegenständlichten Arbeitsquantum. Könnt ihr den Profit nicht unter dieser Voraussetzung erklären, so könnt ihr ihn überhaupt nicht erklären.»3
Ihr leitet aus eurer Darstellung des Mehrwerts ab, dass die Arbeiter nicht «gerecht entlohnt» würden, weil sie nicht den «vollen Wert der Arbeit» bekämen. Wir haben erklärt, dass diese Aussage vom Fehlverständnis herrührt, das den Wert der Arbeitskraft mit dem Wert des Arbeitsproduktes gleichsetzt. Was bedeutet das nun für die Forderung nach einer «gerechteren Entlohnung»?
Marx gab eine klare Antwort: «Nach gleicher oder gar gerechter Entlohnung auf Basis des Lohnsystems rufen, ist dasselbe, wie auf Basis des Systems der Sklaverei nach Freiheit zu rufen. Was ihr für recht oder gerecht erachtet, steht nicht in Frage. Die Frage ist: Was ist bei einem gegebenen Produktionssystem notwendig und unvermeidlich?»4
Was meint er damit? Vorstellungen von Recht und Unrecht, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit stehen nicht als ewige Prinzipien über der Gesellschaft. Sie entspringen in letzter Instanz den ökonomischen Verhältnissen auf einer bestimmten Entwicklungsstufe. Der Kapitalismus bringt seine eigenen Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit mit sich, die den ökonomischen Gesetzmässigkeiten des kapitalistischen Systems entsprechen. Natürlich gibt es im Kapitalismus Prellerei, Betrug und Überausbeutung (Löhne unter dem wirklichen Wert der Arbeitskraft), aber als gesamtes System kann der Kapitalismus nur darauf basieren, dass gleiche Werte gegeneinander ausgetauscht werden und Waren im Durchschnitt zu ihren wirklichen Werten ausgetauscht werden. Das gilt auch für die Ware Arbeitskraft. Im Durchschnitt erhalten die ArbeiterInnen einen Lohn, der dem Wert ihrer Arbeitskraft entspricht. Dieser Lohn – und nur dieser – ist vom Standpunkt der Gesetzmässigkeiten des Kapitalismus «gerecht»: Der Wert der Ware Arbeitskraft ist hier gleich dem Wert des Lohns; Gleichwertiges wird ausgetauscht. Deshalb erklärt Marx: Die kapitalistische Verteilung ist die «einzige „gerechte“ Verteilung auf Grundlage der heutigen Produktionsweise».5
Der Knackpunkt der gesamten kapitalistischen Produktion ist, dass die Kapitalisten sich das Produkt fremder Arbeit aneignen, indem sie die Arbeitskraft zu ihrem Wert entlohnen. Dass die Kapitalisten auf dem einen Pol mehr und mehr Reichtum in ihren privaten Händen anhäufen, während die Arbeiterklasse auf dem anderen Pol auf ein elendes Dasein heruntergedrückt wird, ist die notwendige Konsequenz aus dieser kapitalistischen «Gerechtigkeit».
Selbstverständlich ist mit der kapitalistischen «Gerechtigkeit» nicht das letzte Wort gesprochen. Eine neue, sozialistische Produktionsweise wird neue Vorstellungen von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit mit sich bringen. Falls ihr die Forderung nach einem «gerechteren Lohn» nun deshalb dadurch retten wollt, dass ihr der kapitalistischen Gerechtigkeit eine andere, sozialistische Gerechtigkeit entgegensetzt, so verstrickt ihr euch nur in Widersinn: Vom Standpunkt der kapitalistischen Produktionsweise ist der Lohn (im Durchschnitt) gerecht; vom Standpunkt einer klassenlosen Gesellschaft wird die Verteilung nur gerecht sein, wenn es keine Ausbeutung und damit auch keinen Lohn mehr gibt.
Ihr mögt euch vielleicht fragen, wozu das wichtig ist. Ist das nicht einfach nur spitzfindig? Aber genau diese falsche Vorstellung geht – und ging in der Geschichte der Arbeiterbewegung – Hand in Hand mit einer reformistischen Herangehensweise, die im Klassenkampf zur völligen Ohnmacht führt. Wieso?
Weil – wie wir weiter oben erklärt haben – das falsche, moralisierend-subjektivistische Verständnis der Mehrwerttheorie impliziert, dass es einen «gerechteren» Kapitalismus geben kann. Die Revolution wird so zu einem netten Supplement. Man mag zwar in grossen Worten von ihr sprechen, zumindest bei schönem Wetter. Aber das Verständnis drückt in eine andere Richtung: Statt auf den Sturz des Kapitalismus, wird man sich darauf konzentrieren, diesen «gerechter» zu machen. Statt die Kapitalisten zu bekämpfen, wird man sie zu überzeugen versuchen.
Kurz: das falsche Verständnis endet im unmöglichen Versuch, den Kapitalismus zu reformieren. Ein korrektes Verständnis der Mehrwerttheorie hat dagegen notwendigerweise revolutionäre Konsequenzen.
Ersteres stützt sich auf moralische Entrüstung («das ist doch ungerecht!»); letzteres auf ein wissenschaftliches und nüchternes Verständnis des Klassenkampfes. Ersteres endet in leeren Appellen an den Klassenfeind; letzteres erklärt den Kapitalisten den Kampf. Ersteres akzeptiert im Vornherein das kapitalistische Lohnsystem als gegebenen Rahmen und fordert ein paar Krümel mehr für die Unterdrückten; letzteres zielt auf den Sturz der Kapitalisten und die Überwindung dieses ausbeuterischen Lohnsystems.
Die Mehrwerttheorie zeigt uns, dass die ArbeiterInnen durch ihre Lohnarbeit den gesamten Wert und damit gesellschaftlichen Reichtum schaffen, dass der Grossteil dieses Reichtums allerdings in den privaten Taschen der Kapitalisten landet. Das Problem damit – vom Standpunkt der Arbeiterklasse betrachtet – ist nicht, dass dies ungerecht ist. Das Problem ist, dass die Kapitalisten ihr Kapital nur dadurch anhäufen können, dass sie die Mehrheit der Weltbevölkerung zu einer elenden Existenz voller Wirtschaftskrisen und Unsicherheit zwingen.
Das Interesse der Lohnabhängigen ist nicht eine «gerechtere» Verteilung. Das Interesse der Lohnabhängigen ist die Verbesserung ihrer Lebensbedingungen und die bestmögliche Befriedigung ihrer Bedürfnisse. Wenn wir die heutige Situation als moralisch «ungerecht» empfinden, so ist das nur ein Ausdruck davon, dass wir erkennen oder zumindest fühlen, dass das Potenzial eines besseren Lebens da wäre, uns jedoch verwehrt bleibt. Der Grund, weshalb es uns verwehrt bleibt, sind die kapitalistischen Klassenverhältnisse selbst.
Die notwendige Schlussfolgerung der Mehrwerttheorie ist es, diese kapitalistischen Verhältnisse umzustürzen. Das darf nicht in dem Sinne missverstanden werden, dass wir nicht für Verbesserungen innerhalb des Kapitalismus kämpfen müssten. Das müssen wir unbedingt!
Aber ein korrektes Verständnis der Mehrwerttheorie zeigt uns einerseits, dass wir unser Leben nur verbessern können gegen die Kapitalisten: Haben die ArbeiterInnen mehr zum Leben, haben die Kapitalisten weniger Profit – und umgekehrt. Jeder Appell an die Vernunft der Kapitalisten wird deshalb im Nichts verpuffen. Ihre Interessen und unsere sind einander unvereinbar entgegengesetzt. Wir können nur auf die Kraft der Arbeiterklasse selbst zählen.
Und es zeigt uns andererseits, dass wir diesen Kampf für bessere Lebensbedingungen auf dem Boden des Kapitalismus niemals werden gewinnen können. Jeder Kampf für Reformen innerhalb des Kapitalismus ist deshalb nur so gut, wie er uns hilft, die Arbeiterklasse auf dem Weg zur Überwindung des Kapitalismus voranzubringen und zu organisieren. Genau das erklärte auch Marx in der Auseinandersetzung zu dieser Frage:
«…die Arbeiterklasse [sollte] die endgültige Wirksamkeit dieser tagtäglichen Kämpfe [für höhere Löhne] nicht überschätzen. Sie sollte nicht vergessen, dass sie gegen Wirkungen kämpft, nicht aber gegen die Ursachen dieser Wirkungen; dass sie zwar die Abwärtsbewegung verlangsamt, nicht aber ihre Richtung ändert; dass sie Palliativmittel anwendet, die das Übel nicht kurieren. Sie sollte daher nicht ausschliesslich in diesem unvermeidlichen Kleinkrieg aufgehen, der aus den nie enden wollenden Gewalttaten des Kapitals oder aus den Marktschwankungen unaufhörlich hervorgeht. Sie sollte begreifen, dass das gegenwärtige System bei all dem Elend, das es über sie verhängt, zugleich schwanger geht mit den materiellen Bedingungen und den gesellschaftlichen Formen, die für eine ökonomische Umgestaltung der Gesellschaft notwendig sind. Statt des konservativen Mottos: „Ein gerechter Tagelohn für ein gerechtes Tagewerk!“, sollte sie auf ihr Banner die revolutionäre Losung schreiben: „Nieder mit dem Lohnsystem!“»6
Ebenso schlussfolgert Engels in einem Artikel, den er eigens zu diesem Slogan Ein gerechter Tagelohn für ein gerechtes Tagewerk geschrieben hat:
«Die Gerechtigkeit der politischen Ökonomie, wie sie in Wirklichkeit die Gesetze fixiert, die die bestehende Gesellschaft beherrschen, diese Gerechtigkeit ist ganz auf der einen Seite – auf der des Kapitals. Begrabt darum den alten Wahlspruch für immer, und ersetzt ihn durch einen anderen: Besitzer der Arbeitsmittel — der Rohstoffe, Fabriken und Maschinen — soll das arbeitende Volk selbst sein.»7
Aus dem Gesagten sollte klar geworden sein, dass eine Darstellung der Mehrwerttheorie zeigen muss, dass die ArbeiterInnen mit ihrer Lohnarbeit mehr Wert schaffen als sie als Lohn bezahlt bekommen. Wir nennen das Ausbeutung, nicht aus moralischer Entrüstung, sondern weil es bedeutet, dass die Kapitalisten ihren Reichtum durch die Aneignung fremder Arbeit vermehren.
Will man das graphisch aufzeigen, muss deshalb klar werden, dass die ArbeiterInnen den gesamten neuen Wert schaffen, und dass dieser von der Arbeiterklasse geschaffene Wert dann in zwei Teile zerfällt: den Lohn (≈den Wert der Arbeitskraft) und den Mehrwert, der von den Kapitalisten eingestrichen wird. Eure Darstellung, so gut sie auch gemeint sein mag, tut nichts dergleichen. Stattdessen zerfällt der Wert bei euch in den Wert der Produktionsmittel und den Mehrwert (den ihr wiederum in Profit und Mehrwert zerfallen lässt, was Null Sinn ergibt…).
Zwar kann man die Produktionsmittel durchaus in so eine Darstellung aufnehmen, wenn man es richtig macht. Aber in dieser Form läuft die ganze Darstellung auf eine Legitimierung der kapitalistischen Ausbeutung und auf eine sozialpartnerschaftliche Orientierung hinaus, das heisst, auf den Versuch eines Kompromisses zwischen den Klassen, statt auf den Klassenkampf. Alleine die Formulierung, dass die Kapitalisten Produktionsmittel «zur Verfügung stellen» ist ein Euphemismus. Sie impliziert, dass die Kapitalisten wie die ArbeiterInnen beide als zwei verschiedene Seiten positiv etwas zur gesellschaftlichen Produktion beitragen – und damit, dass es letztlich beide braucht. Dabei sind die Produktionsmittel doch selbst zum allergrössten Teil das Produkt vorheriger Arbeit der Lohnabhängigen! Sie sind Wert, den die Arbeiterklasse durch ihre Arbeit geschaffen hat. Mit eurer Darstellung wird die gesellschaftliche Stellung der Kapitalisten einfach als gegeben hingenommen und es wird unmöglich, dass der Horizont den Kleinkampf innerhalb des kapitalistischen Ausbeutungssystems übersteigt.
Was ist aber das wirkliche Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit und welche Rolle spielen darin die Produktionsmittel? Die Kapitalisten sind in der Position, die Arbeitskraft der Lohnabhängigen auszubeuten, weil sie Kapital besitzen: die Produktionsmittel (Rohstoffe, Werkzeuge, Maschinen etc.) und genug Geld, um auf dem Arbeitsmarkt die Arbeitskraft der Lohnabhängigen einzukaufen, die durch die Anwendung ihrer Arbeitskraft auf diese Produktionsmittel dann Wert schaffen. Dass dieser Wert, der von der Arbeiterklasse kollektiv und gesellschaftlich geschaffen wurde, dann in der privaten Verfügungsgewalt der Kapitalisten landet, liegt genau daran, dass die Produktionsmittel im Kapitalismus das private Eigentum der Kapitalisten sind.
Was herausgestrichen werden muss, ist folglich nicht, dass die Kapitalisten «Produktionsmittel zur Verfügung stellen». Herausgestrichen werden muss, dass die Produktionsmittel im Kapitalismus das private Eigentum der Kapitalisten sind und von diesen monopolisiert werden. Diese Tatsache ermöglicht den Kapitalisten überhaupt erst, die Arbeitskraft der Lohnabhängigen auszubeuten. Diese Tatsache ermöglicht ihnen, den dadurch geschaffen Mehrwert dann wieder in die Produktion zu investieren zur weiteren Ausbeutung der Arbeitskraft und zur weiteren Anhäufung von Kapital.
Und diese Tatsache bedeutet, dass die lohnabhängige Mehrheit der Bevölkerung keinerlei Kontrolle über den Grossteil ihrer eigenen Lebensbedingungen hat, weil sie über die Verwendung des von ihr selbst geschaffenen gesellschaftlichen Reichtums nicht das Geringste zu sagen hat. Er befindet sich in den Händen der Kapitalisten und kann in deren Händen – auf Grund der Zwänge der kapitalistischen Konkurrenz – gar nicht der gesellschaftlichen Bedürfnisbefriedigung dienen. Statt der Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschheit, statt der bewussten Befriedigung der gesellschaftlichen Bedürfnisse in Harmonie mit ihrer Umwelt, dient dieser Reichtum nur der weiteren Anhäufung von Kapital einer handvoll Parasiten – ohne jede Rücksicht auf das Leben der Menschen und die Umwelt.
Das ist nicht einfach «ungerecht». Das bedeutet vor allem, dass wir, die arbeitende Mehrheit der Weltbevölkerung, uns in der Geiselhaft einer kleinen Minderheit befinden, die uns an die Wand fährt.
Die Arbeiterklasse kann und wird sich aus dieser Geiselhaft befreien. Es ist die Aufgabe von uns Sozialistinnen und Sozialisten, den Weg dazu aufzuzeigen. Die ArbeiterInnen schaffen durch ihre gesellschaftliche Arbeit den ganzen gesellschaftlichen Reichtum. Die Kapitalisten füllen sich nur die Taschen, weil die Produktionsmittel in privatem Eigentum sind. Nur wenn wir die Kapitalisten enteignen und die Produktionsmittel in gesellschaftliches, kollektives Eigentum überführen, gewinnt die Gesellschaft die Möglichkeit, die Produktion bewusst nach den Bedürfnissen der Menschen zu planen. Es ist unsere Pflicht, die Frage der Enteignung auf die Tagesordnung zu setzen. Nur so kann die kapitalistische Profitlogik gebrochen werden.
Das sind sehr grundlegende Punkte, die, wie gesagt, in der Arbeiterbewegung schon lang und breit diskutiert wurden. Wir sollten diese Lektionen und die Theorie studieren und nicht die gleichen Fehler wiederholen, die längst überwunden sein könnten. Fehler zu machen ist meist nichts schlimmes und gehört zu jedem Lernprozess. Fehler nicht zu korrigieren und wider besseres Wissens zu wiederholen, ist hingegen unverzeihbar.
Ihr schreibt in eurem Editorial, «dass wir JUSOs … unter den Arbeiter*innen ein Bewusstsein darüber schaffen wollen, dass wir alle zu einer Klasse gehören, um dann gemeinsam den Kapitalismus zu überwinden». Das können wir jedoch nur schaffen mit einem richtigen, wissenschaftlichen Verständnis der Mehrwerttheorie und damit des Klassenkampfes.
Wir bitten euch daher, in einer nächsten Ausgabe eine Richtigstellung zu publizieren. Wir sind gerne bereit, daran mitzuwirken. Wir werden diese Ausführungen hier sicher auch über die Funke-Kanäle teilen, weil sie helfen sollen, unser aller Verständnis zu heben. Aber das soll sich nicht ausschliessen. Es im Interesse von uns allen, in der gesamten sozialistischen Bewegung für grösstmögliche Klarheit zu sorgen.
Wir freuen uns über eine Reaktion und wünschen bereits gutes Gelingen für die nächste Ausgabe.
Solidarische Grüsse!
Für die Redaktion von Der Funke, Martin Kohler (JUSO Stadt-Bern)
1 – Das Kapital, Band 1, MEW23, S. 557 oder Lohn, Preis und Profit, MEW16, S. 130
2 – Lohn, Preis und Profit
3 – Marx, Lohn, Preis und Profit
4 – Lohn, Preis und Profit
5 – Marx, Kritik des Gothaer Programms, MEW19, S. 18f.
6 – Marx, LPP, S. 152
7 – Engels, Ein gerechter Tagelohn für ein gerechtes Tagewerk, MEW19, S. 249f.
Bildquelle:
https://artischock.net/fr/portefeuille/fr-juso.html
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