Die Mobilisierung der «gilets jaunes» (der «gelben Westen») stellt eine wichtige Etappe in der Entwicklung des Klassenkampfes in Frankreich dar. Ohne Partei, ohne Gewerkschaft, ohne eine bereits bestehende Organisation nahmen Hunderttausende von Menschen an Blockadeaktionen teil und fegten die Scheinzugeständnisse und Drohungen der Regierung weg. Die gelben Westen werden von einer grossen Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. Ihre Entschlossenheit entspricht ihrem Zorn und ihren Leiden. Sie glühen vor Empörung über eine Regierung, die die Steuerbelastung für ArbeiterInnen, RentnerInnen und die Mittelklassen immer weiter erhöht, während die Reichsten von allerlei Arten von Steuervergünstigungen profitieren. Die gelben Westen haben genau verstanden, dass das Argument der «ökologischen Wende» nur ein weiterer Vorwand ist, um die Masse der Bevölkerung zugunsten einer Handvoll reicher Parasiten auszuplündern.
Im Rahmen der «ökologischen Wende» hat die Regierung von Macron in den vergangenen Monaten die Benzin- und Dieselpreise erhöht. Fürs kommende Jahr ist geplant, den Diesel mit einer weiteren CO2-Steuer zu belasten.
Dagegen haben seit dem 17. November in ganz Frankreich Hunderttausende Strassen blockiert und demonstriert. Viele davon tragen die gelben Leuchtwesten, die in Frankreich jedes Fahrzeug an Bord haben muss. Sie sind zum Symbol der Massenbewegung geworden.
Während die Treibstoffsteuern der unmittelbare Anstoss für die Proteste waren, richtet sich der Zorn der Bevölkerung gegen die Politik der Regierung insgesamt. Ausgelöst wurde die Massenbewegung nicht durch Parteien oder Gewerkschaften, sondern über die sozialen Medien. Die Bewegung hat einen sehr breiten und politisch diffusen Charakter. 73% der Bevölkerung unterstützen die Proteste, auf dem Land sind es sogar 80%. Die Rechten, allen voran der Front National von Marine Le Pen, mobilisieren für die Proteste, denn sie wollen aus der allgemeinen Wut Kapital schlagen. Das führt zu einer überschnelle Ablehnung der Proteste von Seiten vieler Linken – was wiederum den Rechten dient.
Diese Bewegung ist politisch und sozial heterogen. Selbstverständlich! Die reaktionäre Politik der Regierung betrifft nicht nur die LohnarbeiterInnen, sondern auch HandwerkerInnen, KleinhändlerInnen, KleinbäuerInnen, die freien Berufe, RentnerInnen und andere soziale Zwischenschichten. Die soziale und politische Heterogenität der Bewegung der gelben Westen zeigt genau ihre Tiefe. Es ist keine Mobilisierung nur der «Arbeiteravantgarde», der bewusstesten und organisiertesten ArbeiterInnen. Es ist eine Massenbewegung, die ganz plötzlich auch sonst passive soziale Schichten wachrüttelt. Natürlich kann niemand sagen, wie weit es gehen wird. Aber klar ist, dass solche Bewegungen charakteristisch sind als Vorboten einer revolutionären Situation. Auf der Insel La Réunion hat die Bewegung bereits einen aufständischen Charakter angenommen.
Lenin über Massenbewegungen
Die linken Aktivisten, die die Nase rümpfen über die «Verwirrung» in der Bewegung, sollten darüber nachdenken, was Lenin 1916 schrieb:
«Wer eine ‘reine’ soziale Revolution erwartet, der wird sie niemals erleben. Der ist nur in Worten ein Revolutionär, der versteht nicht die wirkliche Revolution. (…) Die sozialistische Revolution in Europa kann nichts anderes sein als ein Ausbruch des Massenkampfes aller und jeglicher Unterdrückten und Unzufriedenen. Teile des Kleinbürgertums und der rückständigen Arbeiter werden unweigerlich an ihr teilnehmen – ohne eine solche Teilnahme ist ein Massenkampf nicht möglich, ist überhaupt keine Revolution möglich –, und ebenso unweigerlich werden sie in die Bewegung ihre Vorurteile, ihre reaktionären Phantastereien, ihre Fehler und Schwächen hineintragen. Objektiv aber werden sie das Kapital angreifen, und die klassenbewusste Avantgarde der Revolution, das fortgeschrittene Proletariat, das diese objektive Wahrheit des mannigfaltigen, vielstimmigen, buntscheckigen und äußerlich zersplitterten Massenkampfes zum Ausdruck bringt, wird es verstehen, ihn zu vereinheitlichen und zu lenken, die Macht zu erobern, die Banken in Besitz zu nehmen, die allen (wenn auch aus verschiedenen Gründen!) so verhassten Trusts zu expropriieren und andere diktatorische Massnahmen[1] durchzuführen, die in ihrer Gesamtheit den Sturz der Bourgeoisie und den Sieg des Sozialismus ergeben, einen Sieg, der sich durchaus nicht mit einem Schlag aller kleinbürgerlichen Schlacken ‘entledigen’ wird.»
Diese wenigen Zeilen von Lenin charakterisieren gut die Bewegung der gelben Westen. Gleichzeitig weisen sie auch auf die Rolle hin, die die gewerkschaftlichen und politischen Organisationen der Arbeiterbewegung unter solchen Umständen spielen müssen: Sie müssen den Kampf der Massen vereinen und auf die Eroberung der Macht und den Sturz des Kapitalismus lenken. In dieser Hinsicht ist die Kluft zwischen dem, was Lenin vor einem Jahrhundert geschrieben hat, und dem, was die meisten «Führer» der Arbeiterbewegung heute tun, eklatant, ja abgrundtief. In der Realität «führen» sie gar nichts. Schlimmer noch, sie wenden sich von der Bewegung der gelben Westen ab oder greifen sie sogar an.
So bezeichnete beispielsweise Laurent Berger, der Chef der CFDT (des zahlenmässig grössten Gewerkschaftsbundes Frankreichs, traditionell der Sozialdemokratie nahestehend, Anm. d. Red.), diese Bewegung als «totalitär». In seiner Rolle als Agent der Bourgeoisie innerhalb der Arbeiterbewegung lässt sich Laurent Berger keine Gelegenheit entgehen, um die bestehende Ordnung, d.h. die Herrschaft («totalitär» in gewisser Weise) von Banken und multinationalen Konzernen, zu verteidigen.
Die Fehler der Gewerkschaftsführungen
Und was ist mit Philippe Martinez, der dem mächtigsten und kämpferischsten Gewerkschaftsbund (CGT) vorsteht? Der «Sturz der Bourgeoisie» und der «Sieg des Sozialismus» sind Lichtjahre von seinen Absichten entfernt. Das ist sehr bedauerlich, denn die Probleme der Massen können im Rahmen des Kapitalismus nicht gelöst werden. Welche Position vertritt nun aber Philippe Martinez? Er sagt, dass er die «legitime» Wut der gelben Westen versteht. Er weigert sich aber, seine Organisation in diese Bewegung zu involvieren, weil er nicht will, dass die CGT «an der Seite des Front National marschiert». Gleichzeitig erkennt er jedoch an, dass die extreme Rechte nur eine «Minderheit» in der Bewegung ist (tatsächlich ist sie als organisierte Kraft sogar marginal). Die ursprüngliche und zentrale Forderung der gelben Westen ist die Aufhebung der Erhöhung der Steuern auf den Treibstoff. Aber Philippe Martinez greift diese Forderung nicht auf und verteidigt sie nicht. Dagegen nutzte er die Gelegenheit, um von der Regierung eine Erhöhung des Mindestlohns zu fordern, damit die ArbeiterInnen sich – unter anderem – «umweltfreundliche Fahrzeuge» kaufen können!
Diese Position ist völlig falsch, völlig losgelöst von der realen Situation. Natürlich müssen wir für eine Erhöhung des Mindestlohns und der Gehälter im Allgemeinen kämpfen. Aber diese Forderung widerspricht nicht oder schliesst in keiner Weise die Forderung aus, die im Mittelpunkt der Bewegung der gelben Westen steht: die Aufhebung der Erhöhung der Treibstoffsteuer. Anstatt dem die Forderung nach einer Lohnerhöhung entgegenzusetzen, sollte die CGT-Führung die zentrale und korrekte Forderung der gelben Westen aufgreifen und gleichzeitig ihr Programm zur Stärkung der Kaufkraft verteidigen – natürlich auch mit Lohnerhöhungen.
Die CGT sollte erklären: «Die Erhöhung der Treibstoffsteuer hat nichts mit Ökologie zu tun. Das ist Plünderung zum Wohle der multinationalen Konzerne, denn das Geld aus den Steuererhöhungen wird in die Kassen der grossen Bosse fliessen, in Form von Subventionen und Steuergeschenken. Wenn die Regierung ein paar Milliarden Euro braucht, um ihren Haushalt zu finanzieren, dann soll sie sie aus den Kassen der multinationalen Konzerne nehmen – nicht aus den Taschen der Bevölkerung!» Aber anstatt dieses einfache und klare Statement zu machen, denkt Philippe Martinez, dass sich hinter der Bewegung der gelben Westen die grossen Bosse verstecken und ruft: «Traut ihnen nicht!».
Indem sich die CGT-Führung weigert, sich im Kampf um die Senkung der Treibstoffsteuern zu engagieren, überlässt sie dieses Feld der Rechten und der extremen Rechten, deren professionelle Demagogen in den letzten Tagen entdeckt haben, dass sie ja gegen diese Steuern sind, und dies nun lautstark zum Ausdruck bringen. Glücklicherweise haben die AktivistInnen und Basismitglieder der CGT die Anweisungen von Philippe Martinez nicht beachtet. Sie haben sich mit den gelben Westen zusammen mobilisiert. Es wurden Verbindungen hergestellt, es wurden sogar gemeinsame Aktionen durchgeführt. Das ist der richtige Weg!
Unterstützung den gelben Westen – entlarven wir die Demagogen!
Ausserdem stellt sich die Frage: Wie gedenkt die CGT-Führung der Regierung – und damit den Unternehmern – die geforderte Erhöhung des Mindestlohns (+ 300 Euro) abzuzwingen? Indem man einen weiteren «Aktionstag» organisiert, trotz des offensichtlichen Scheiterns der Strategie der Aktionstage in den letzten zehn Jahren? Wir nehmen es an, wir wissen es nicht. Fürs Erste weigert sich Martinez an einer starken Massenbewegung, die gerade stattfindet teilzunehmen und fordert einfach mal Gehaltserhöhungen.
Wie haben es schon oft betont: Die Strategie der gewerkschaftlichen «Aktionstage» ist eine Sackgasse. Sie führte unter anderem zur Niederlage der grossen sozialen Bewegungen der Jahre 2010, 2016 und 2017. Die Krise des französischen Kapitalismus ist so tief, dass die Macron-Regierung in ihrem Rennen um Konterreformen nicht wegen Aktionstagen zurückweichen wird, so massiv sie auch sein mögen. Damit unsere Klasse einen ernsthaften Sieg erringen kann, bedarf es also einer Bewegung von verlängerbaren Streiks in einer wachsenden Zahl von Wirtschaftssektoren.
Bei jeder grossen Konterreform der letzten Jahre begnügten sich die französischen Gewerkschaften mit symbolischen «Aktionstagen». Da diese isoliert und zeitlich begrenzt bleiben, bauen sie nicht genügend Druck gegenüber den Bossen und der Regierung auf, um die Angriffe abzuwehren. Dagegen fordern unsere französischen GenossInnen von Révolution schon lange verlängerbare Streiks («grèves reconductibles»), ein traditionelles Mittel der französischen Arbeiterbewegung. Dabei wird zwar ein zeitlich begrenzter Streik ausgerufen, allerdings mit der Möglichkeit, ihn immer wieder zu erneuern. Ein solcher Streik muss über mehrere Sektoren ausgebreitet und so lange verlängert werden, bis das Ziel erreicht wurde.
Genau davor haben die Bourgeoisie und ihre Regierung Angst: dass die Bewegung der gelben Westen als Zünder für eine Bewegung von verlängerbaren Streiks dienen wird. Und in diesem Moment beschliesst Philippe Martinez zu erklären: «Ohne mich! Ich demonstriere nicht neben dem Front National». Diese Position ist absurd. Was die Bewegung der gelben Westen deutlich zeigt, ist die wachsende Verärgerung und Kampfbereitschaft grosser Schichten von ArbeiterInnen. Anstatt das Kampffeld zu verlassen, sollte die CGT-Führung alles in ihrer Macht Stehende tun, um diese Bewegung zu unterstützen – und auf ihre Dynamik bauen, um eine allgemeine Offensive der Arbeiterklasse gegen die gesamte reaktionäre Politik der Regierung auf die Tagesordnung zu setzen. Zunächst sollte die CGT-Führung eine massive Beteiligung an der für den 24. November in Paris geplanten Demonstration der gelben Westen organisieren, indem sie ihre Mitglieder zur Teilnahme aufruft. Dann würden die Wauquiez, Le Pen und andere bürgerliche Demagogen bald die Bewegung verlassen und so ihre Masken fallen lassen.
Redaktion von Révolution, 20. November 2018
[1] Zu Lenins Zeiten, vor den Schrecken des Nazismus und Stalinismus, hatte der Begriff «diktatorisch» nicht die Bedeutung, die er heute hat. Mit «diktatorischen Massnahmen» bezieht sich Lenin einfach auf Massnahmen (wirtschaftlich und politisch), mit die Arbeiterklasse der Bourgeoisie ihren Willen aufzwingt – so wie die Bourgeoisie im Kapitalismus den Arbeitern ihren Willen aufzwingt. In diesem Sinne ist die «Diktatur des Proletariats» nichts anderes als die Arbeiterdemokratie, die Macht der Arbeiter, sobald sie die «Diktatur des Kapitals» gestürzt haben.
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