Neben Karl Marx war Friedrich Engels einer der Gründerväter des «wissenschaftlichen Sozialismus»: der theoretischen Ideen, die heute allgemein als Marxismus bekannt sind. Am 28. November 2020 feiern wir seinen 200. Geburtstag.
Die enge Zusammenarbeit zwischen Marx und Engels dauerte etwa 40 Jahre. Sowohl im Leben als auch im Tod stand Engels jedoch immer im Schatten der unbestreitbaren Genialität von Marx. Engels wird oft – etwas zu Unrecht – als zweite Geige nach Marx angesehen. Selbst Engels nährte diese Ansicht häufig. In der Tat war Engels äusserst zurückhaltend und bescheiden und betonte stets die wichtige Rolle von Marx gegenüber seiner eigenen. «Was ich beigetragen, das konnte – allenfalls ein paar Spezialfächer ausgenommen – Marx auch wohl ohne mich fertigbringen», schrieb Engels.
«Was Marx geleistet, hätte ich nicht fertiggebracht. Marx stand höher, sah weiter, überblickte mehr und rascher als wir andern alle. Marx war ein Genie, wir andern höchstens Talente. Ohne ihn wäre die Theorie heute bei weitem nicht das, was sie ist. Sie trägt daher auch mit Recht seinen Namen.» (Friedrich Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, MEW 21, S. 291)
Trotz dieser Bescheidenheit ist es unbestreitbar, dass Engels einen umfassenden und herausragenden Beitrag zur marxistischen Theorie geleistet hat, und zwar nicht nur «in ein paar Spezialfächern». Seine fruchtbare Zusammenarbeit mit Marx war alles andere als einseitig.
In seinem Tagebuch im Exil unterstrich Leo Trotzki diesen Punkt:
«In der Reihe der grossen Männer ist Engels ohne Zweifel eine der lautersten, in sich geschlossensten und in ihrem Wesen edelsten Persönlichkeiten. … Das Christentum hat die Gestalt Christi geschaffen, um den ungreifbaren Gott Zebaoth zu vermenschlichen und ihn den Sterblichen näher zu bringen. Neben dem Olympier Marx erscheint Engels menschlicher, näher. Wie sie sich gegenseitig ergänzen; vielmehr: wie bewusst ergänzt doch Engels durch sich selbst Marx; und wie er sich im Laufe seines ganzen Lebens in der Ergänzung Marxens verzehrt! Darin erblickt er seine Lebensbestimmung, darin findet er Genugtuung – ohne die geringste Spur eines persönlichen Opfers –, stets sich selbst treu, stets lebensbejahend, stets seinem Milieu und seiner Zeit überlegen, inmitten schier grenzenloser geistiger Interessen, Hüter des echten Funkens der Genialität in der nie erkaltenden Glut des Gedankens. Vor dem Hintergrund des alltäglichen Lebens gewinnt die Gestalt von Engels an Marxens Seite ungemein an Wert (wobei die Persönlichkeit von Marx nicht das geringste einbüsst).» (Leo Trotzki, Tagebuch in Exil, Köln-Berlin 1958)
In den Geschichtsbüchern wird Engels oft einfach als der philanthropische Wohltäter von Marx bezeichnet. Zwar trugen Engels‘ finanzielle Beiträge (die aus dem Reichtum der Textilindustrie seiner bürgerlichen Familie stammten) wesentlich dazu bei, dass Marx seine Lebenszeit dem Schreiben widmen konnte. Aber infolgedessen werden Engels‘ eigene wichtige politische Beiträge zu den Ideen des Marxismus oft übersehen.
In Wahrheit war Engels selbst ein theoretischer Riese. Er war wahrscheinlich der am breitesten gebildete Mann seiner Zeit und hatte einen enzyklopädischen Geist. Er verfügte nicht nur über profunde Kenntnisse in Wirtschaft und Geschichte, sondern auch über ein brennendes Interesse an Philosophie, Wissenschaft, Literatur und sogar an militärischen Taktiken. In einigen akademischen Kreisen ist es Mode, politische Unterschiede zwischen Marx und Engels hervorzuheben. Die umfangreiche Korrespondenz zwischen den beiden lebenslangen Freunden zeigt jedoch die Untrennbarkeit ihrer Verbindung. Ihre zahlreichen gemeinsam verfassten Titel sind ein weiterer Beweis für ihre enge politischen Verbindung. Zwar waren die beiden deutschen Sozialisten bei ihrem ersten Treffen 1842 nicht voneinander beeindruckt. Aber ihr Respekt füreinander wuchs mit der Zeit.
Marx wurde erstmals durch die 1845 erschienenen Schriften über «Die Lage der arbeitenden Klasse in England» auf Engels‘ Talente aufmerksam. Diese Artikelserie basierte auf Engels‘ Beobachtungen des Arbeiterlebens in der geschäftigen Industriemetropole Manchester, wo sich die Textilfabrik seiner Familie befand. Die von Engels zusammengetragenen Beobachtungen waren prägend für die Gestaltung von Marx‘ eigenen Vorstellungen über die revolutionäre Rolle der Arbeiterklasse.
Ihre Verbindung beruhte vor allem auf einem gemeinsamen Verständnis der Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Herangehensweise an die Fragen von Geschichte, Gesellschaft und Wirtschaft. Marx und Engels waren in der Tat unabhängig voneinander zu diesem Schluss gekommen. Beide waren desillusioniert über die Sackgasse der zeitgenössischen Philosophie, die von radikalen Gruppen der damaligen Zeit, wie den Junghegelianern, dargestellt wurde. Es war dieses gegenseitige Gefühl der Unzufriedenheit mit ihren intellektuellen Altersgenossen, das zu ihrer frühen gemeinsamen Kritik in «Die Heilige Familie» und «Die deutsche Ideologie» führte.
Insbesondere das letztere Werk – 1846 als eine Reihe unvollendeter Manuskripte verfasst, aber zu Lebzeiten von Marx und Engels noch nicht veröffentlicht – diente dazu, die Grundlage ihrer gemeinsamen philosophischen Ideen zu umreissen und den theoretischen Rahmen ihrer revolutionären Weltanschauung festzulegen: den historischen Materialismus. Dies wiederum bildete die Grundlage für künftige gemeinsame Anstrengungen – am bekanntesten ist das «Manifest der Kommunistischen Partei».
Das Manifest wurde 1848 für den Bund der Kommunisten geschrieben, der zuvor unter dem Namen Bund der Gerechten bekannt war, aber auf Drängen von Marx und Engels umbenannt wurde. Dabei handelte es sich um eine Gruppe vorwiegend deutscher Emigranten, die ihre kommunistischen Landsleute Marx und Engels beauftragten, das Gründungsprogramm ihrer Partei zu verfassen. Engels verfasste den ersten Entwurf des Manifests in Form einer Reihe von Fragen und Antworten mit dem Titel «Grundsätze des Kommunismus». Dieser wurde dann von den beiden zu jenem historischen Dokument umgearbeitet, das heute in der ganzen Welt für seinen berühmten Schlachtruf bekannt ist: «Proletarier aller Länder, vereinigt euch!» Die einleitenden Zeilen des Manifests – «Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus» – heben auch die revolutionären Ereignisse zu Lebzeiten von Marx und Engels hervor, die das Denken der beiden Männer eindeutig tiefgreifend beeinflusst haben.
Die Französische Revolution hatte eine Fülle von sozialistischen Bewegungen hervorgebracht. Diese waren jedoch im Allgemeinen utopischer Natur und sahen im Sozialismus lediglich eine «grosse Idee», die von «grossen Männern» erkämpft werden müsse. Im Gegensatz zu diesem Idealismus versuchten Marx und Engels, eine materialistische Grundlage für die Bewegung der Arbeiterklasse zu schaffen; daher ihre eigene Beschreibung ihrer Ideen als «wissenschaftlicher Sozialismus». Sie erklärten, dass der Sozialismus keine ahistorische Blaupause für die Gesellschaft sei, sondern ein System sozioökonomischer Beziehungen. Dieses System wiederum erfordert bestimmte materielle Voraussetzungen – die Entwicklung von Grossindustrie und Monopolen; eine starke Arbeiterklasse; die Vernetzung des Weltmarkts – damit es entstehen und gedeihen kann.
Vor allem identifizierten Marx und Engels die Träger dieses revolutionären Wandels: die organisierte Arbeiterklasse – die «Totengräber» des Kapitalismus. Dieses radikale Potenzial der Arbeiterklasse konnte in den gewaltigen Bewegungen gesehen werden, die Europa zu dieser Zeit erschütterten: von den Chartisten in Grossbritannien bis zu den Revolutionen, die 1848 über den Kontinent fegten.
Aber die Begründer des Marxismus waren nicht blosse Beobachter solcher Ereignisse. Vielmehr widmeten sie ihr Leben dem Aufbau einer revolutionären Organisation, die in der Lage war, die Arbeiterklasse zum Sieg zu führen. Deshalb waren die beiden 1864 tatkräftig bei der Gründung der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA) beteiligt, die im Nachhinein als Erste Internationale bezeichnet wurde.
Die Internationale war ein vielfältiger Flickenteppich von Organisationen der Arbeiterklasse und linken Gruppen, darunter auch utopische Sozialisten, Kommunisten und Anarchisten. Aber trotz der ideologischen Verwirrung innerhalb der IAA sahen Marx und Engels die Schaffung der Internationale als einen enormen Fortschritt für die Arbeiterklasse an. Ähnliches erklärten sie später in ihrer «Kritik des Gothaer Programms», dem politischen Dokument, das 1875 von der im Entstehen begriffenen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands angenommen wurde: «Jeder Schritt wirklicher Bewegung ist wichtiger als ein Dutzend Programme.»
Dennoch machten Marx und Engels es sich zum Ziel, ideologische Klarheit in die internationale Arbeiterbewegung zu bringen und die Bewegung auf ein festes theoretisches Fundament zu stellen. Aus diesem Grund widmeten sowohl Marx als auch Engels einen Grossteil ihrer Zeit und Energie der Korrespondenz mit anderen führenden politischen Persönlichkeiten und – was am wichtigsten ist – der Erstellung wichtiger Werke der marxistischen Theorie. Dieser Prozess der politischen Klärung bedeutet jedoch auch heftige Kämpfe und Auseinandersetzungen – vor allem mit Bakunin und den Anarchisten, die mit ihren Intrigen versuchten, die Internationale zu untergraben.
Nach der Niederlage der Pariser Kommune 1871 und angesichts des destruktiven Verhaltens der Anarchisten setzten sich Marx und Engels für die Auflösung der Ersten Internationale ein und lenkten ihre Aufmerksamkeit auf andere Bereiche. Aber ihre Bemühungen waren nicht vergeblich. Vielmehr kann dieser gescheiterte Versuch, eine internationale revolutionäre Organisation zu schaffen, rückblickend als der Auftakt zur Gründung von Massenparteien der Arbeiterklasse auf der Grundlage marxistischer Ideen angesehen werden.
Engels war seiner Zeit weit voraus, insbesondere was die Frage der Wissenschaft betraf. Er sah in den Vorgängen in der Natur eine Bestätigung der Gesetze der Dialektik. «Nicht in der geträumten Unabhängigkeit von den Naturgesetzen liegt die Freiheit, sondern in der Erkenntnis dieser Gesetze, und in der damit gegebnen Möglichkeit, sie planmässig zu bestimmten Zwecken wirken zu lassen», schrieb Engels. Eines seiner wichtigsten Werke war in dieser Hinsicht ein unvollendetes: seine Sammlung von Notizen, die später in der «Dialektik der Natur» zusammengestellt wurden. Diese waren ein Versuch, die Naturwissenschaften insgesamt vom materialistischen Standpunkt aus zu begreifen.
Es liegt auf der Hand, dass ein Grossteil von Engels‘ Analysen zu wissenschaftlichen Fragen durch das Wissen, die Daten und die Theorien der damaligen Zeit begrenzt war. So verwendet er zum Beispiel Wörter wie «Kraft», «Bewegung» und «Vis-Viva», während wir heute von Energie sprechen würden. An anderer Stelle spricht er von «eiweisshaltigen Körpern», während wir heute von DNA-, RNA- und Proteinmolekülen sprechen würden. Wichtig sind jedoch nicht so sehr die konkreten Schlussfolgerungen oder Hypothesen, zu denen Engels gelangte, sondern die dialektische und materialistische Analysemethode, die er anwandte, um die ungelösten wissenschaftlichen Theorien seiner Zeit herauszuarbeiten.
Tatsächlich ist es nicht überraschend, dass es in Engels‘ Werk Fehler gibt, sondern dass sich seine Ideen im Grossen und Ganzen über die Zeit bewährt haben. Allein diese Tatsache zeigt die Richtigkeit der dialektischen Ideen, die Engels wie folgt beschrieb:
«Die Dialektik ist aber weiter nichts als die Wissenschaft von den allgemeinen Bewegungs- und Entwicklungsgesetzen der Natur, der Menschengesellschaft und des Denkens.» (Friedrich Engels, MEW 20, S.131)
In der Tat war Engels durch die Anwendung der marxistischen philosophischen Methode auf die wissenschaftlichen Probleme der damaligen Zeit sogar in der Lage, viele der späteren Entwicklungen und Entdeckungen der Naturwissenschaft brillant vorherzusehen. Zum Beispiel zeigte Engels in seinem Aufsatz «Der Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen» die wichtige Rolle der Hand und der Werkzeuge bei der Evolution unserer Spezies auf. Spätere Evolutionsbiologen – geblendet von dem Idealismus, der im Kapitalismus und in der Klassengesellschaft einen Grossteil der Wissenschaft durchdringt – glaubten an das Konzept des «zerebralen Primats» – also die Annahme, dass das menschliche Gehirn zuerst grösser geworden sei und erst dann die Menschen in der Lage waren, komplexere Aufgaben zu erfüllen, die sie von anderen Spezies unterschieden.
Engels betonte hingegen, dass die Vergrösserung des Gehirns – und die grössere Intelligenz – unserer Vorfahren keine zufällige oder unabhängige Ursache ist. Vielmehr ist diese evolutionäre Entwicklung ein Produkt der verstärkten Interaktion zwischen dem Menschen und seiner Umwelt, die durch die Zweifüssigkeit, eine aufrechte Körperhaltung und die anschliessende Befreiung der Hände möglich wurde. In ähnlicher Weise stellte Engels fest, dass die soziale Interaktion im Prozess der primitiven Produktion zur Entwicklung der Sprache führte. Dies wiederum verschaffte den frühen Menschen die Fähigkeit, komplexere Denkprozesse und höhere Bewusstseinsebenen zu bilden, die Abstraktion, Verallgemeinerung und Zukunftsplanung beinhalten.
Diese unglaublichen Erkenntnisse über die Frage der menschlichen Evolution wurden damals weitgehend ignoriert. Aber sie wurden durch neuere Entdeckungen bestätigt, wobei moderne Paläontologen wie der verstorbene Stephen Jay Gould verkündeten, dass sich Wissenschaftler auf diesem Gebiet eine beträchtliche Menge an vergeudeter Zeit hätten sparen können, wenn sie von Anfang an auf Engels gehört hätten. An anderer Stelle, in «Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats», wandte Engels die marxistische Methode des historischen Materialismus auf neue anthropologische Nachweise der frühen menschlichen Gesellschaften an. Auf diese Weise gelang es ihm, den Schleier des Geheimnisses der modernen Klassengesellschaft zu lüften und unter anderem zu erklären, wie die Unterdrückung der Frau entstanden
war.
Das wohl bedeutendste Werk Engels‘ war jedoch seine Antwort an den akademischen Philosophen Eugen Dühring, der arrogant seine eigene «grosse Theorie» als Widerlegung des Marxismus geschrieben hatte. Leider fanden Dührings Ideen bei einigen deutschen Sozialdemokraten ein Echo. Marx selbst war zu sehr mit der Arbeit am «Kapital» beschäftigt, um auf Dührings Verzerrungen zu antworten. Es blieb daher Engels überlassen, die Dinge richtig zu stellen. Dies tat er mit Bravour, indem er dessen Polemik zum Anlass nahm, die Grundprinzipien des wissenschaftlichen Sozialismus zu präzisieren und hervorragend zu erklären.
Im «Anti-Dühring» kehrt Engels zur Frage der Dialektik der Natur zurück und zeigt an wissenschaftlichen Beispielen die Richtigkeit eines dialektischen und materialistischen Ansatzes im Gegensatz zum Idealismus und den formalistischen Schemata seines Gegners Dühring auf. Auch hier sind viele seiner Kommentare eine erstaunliche Vorwegnahme von
Problemen, die moderne Wissenschaftler beschäftigen – insbesondere seine
Ausführungen über das Konzept der Unendlichkeit in Bezug auf Materie und Bewegung und warum es unsinnig ist, von einem «Anfang der Zeit» zu sprechen. Die heutigen Kosmologen, die sich an das widersprüchliche «Urknall»-Modell des Universums klammern, könnten sich mit der Lektüre dieser Kapitel von Engels einen grossen Gefallen tun.
Nach dem Tod seines engen Freundes Marx im Jahre 1883 setzte Engels dessen politische Arbeit fort – sowohl theoretisch als auch organisatorisch. Wichtig war, dass er die umfangreiche Sammlung von Notizen zur Ökonomie redigierte und zusammenstellte, die Marx hinterlassen hatte und die Bände zwei und drei von «Das Kapital» bildeten. Aus all diesen Gründen – und noch weiteren– schrieb der junge russische Revolutionär Wladimir Lenin, als er 1895 vom Tode Friedrich Engels‘ erfuhr:
«Der Name und das Leben von Engels sollte jedem Arbeiter bekannt sein… Vor allem lehrte er die Arbeiterklasse, sich selbst zu kennen und sich ihrer selbst bewusst zu sein, indem er die Wissenschaft an die Stelle der Träume setzte… Lasst uns stets das Andenken an Friedrich Engels ehren – einen grossen Kämpfer und Lehrer des Proletariats!»
Adam Booth
In Defence of Marxism
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