Auftakt zu einem heissen Herbst: Hunderttausende Menschen protestierten am 15. September in Madrid gegen die Kürzungspolitik der konservativen Regierung Rajoy.
In einigen Berichten werden Teilnehmerzahlen zwischen 500.000 und einer Million genannt. Separate regionale Demonstrationen fanden auf den balearischen und kanarischen Inseln statt.
Zur Demo aufgerufen hatten die grossen Gewerkschaftsbünde CCOO und UGT und eine Reihe weiterer Gewerkschaften und Protestbewegungen. Die meisten Menschen waren bis zu acht Stunden im Bus angereist. Schwerpunkte der verschiedenen Quelldemonstrationen, die sich in der Innenstadt vereinten, waren Bildungs- und Gesundheitswesen, öffentliche Dienste und Arbeitnehmerrechte, soziale Dienstre und Frauenrechte, insbesondere das Recht auf Abtreibung. Einige dieser Bewegungen und Kampagnen sind schon seit über einem Jahr im Widerstand gegen die speziellen Kürzungspläne der Regierung aktiv. Die angestaute Wut kam an diesem Tag in Madrid klar zum Vorschein.
Sechs Millionen Arbeitslose
Das öffentliche und politische Leben ist in den heissen spanischen Sommer- und Urlaubsmonaten normalerweise wie ausgestorben. Diesmal war es anders. Die Wirtschaftskrise war und ist in aller Munde. Die Arbeitslosigkeit hat die Marke von sechs Millionen erreicht und ist neben Griechenland die höchste in Europa. Angesichts von über 50 Prozent Jugendarbeitslosigkeit wandern besonders viele hochqualifizierte jüngere Menschen aus.
Aus Protest gegen um sich greifende Armut und Hunger gingen am 7. August führende Vertreter der andalusischen Gewerkschaft „Sindicato Andaluz de Trabajadores“ (SAT) in Supermärkte und marschierten demonstrativ mit prall gefüllten Einkaufswägen an der Kasse vorbei, ohne zu zahlen. Diese Aktion wurde von Juan Manuel Sánchez Gordillo, einem Abgeordneten der Vereinigten Linken im andalusischen Regionalparlament, angeführt. „Die Krise trifft Menschen mit Namen, Gesicht und Personalausweis“, erklärte Sánchez Gordillo: „In Andalusien leben 35 Prozent der Grossstadtbevölkerung unter der Armutsschwelle. 1,2 Millionen sind arbeitslos und in mehr als 200.000 Familien hat kein einziges Familienmitglied Arbeit. Viele Arbeitslose bekommen keinen einzigen Euro Stütze.“
Während bürgerliche Medien diese auch nur symbolisch gedachte Aktion scharf verurteilten, zeigte eine Mehrheit der Bevölkerung Sympathie. „Während die Krise das Volk enteignet, fordern wir eine Enteignung der Grossgrundbesitzer, Banken und grossen Supermarktketten, die in der Krise ein Vermögen machen.
Der nachfolgende lange Marsch der SAT durch Andalusien fand ein starkes Echo. Ende August kündigte die konservative Zentralregierung das Ende der staatlichen Unterstützung für Langzeitarbeitslose an. Nach starken öffentlichen Protesten machte die Regierung Rajoy dann wieder einen Rückzieher. Im September begann das neue Schuljahr mit Protesten von Lehrern, Eltern und Schülern auf allen Ebenen des Bildungswesens. Am 17. September streikten landesweit Eisenbahner und Beschäftigte kommunaler Verkehrsbetriebe gegen die drohende Privatisierung.
Bergarbeiter
Dass die grossen Gewerkschaften den Marsch auf Madrid am 15. September organisierten, ist eine Folge des massiven Drucks von unten. Im Juli zog der über 400 km lange Fussmarsch der Bergarbeiter aus dem nordspanischen Steinkohlerevier Asturien viel Aufmerksamkeit und Solidarität auf sich. Als die Kumpel nach 18 Tagen mitten in der Nacht in Madrid ankamen, erschienen über 150.000 Menschen, um ihnen einen würdigen Empfang zu bereiten. Zwei Tage später verliessen empörte Regierungsbedienstete spontan ihre Büros und demonstrierten gegen die Sparpläne der Regierung.
In der Immobilienkrise ist ein Tiefpunkt noch nicht abzusehen. Während zwei Millionen neue Wohnungen leerstehen, läuft die von den Banken initiierte alltägliche Zwangsräumung der Wohnungen überschuldeter kleiner Immobilienbesitzer unvermindert weiter. Der Absturz in die Rezession hält an, im zweiten Quartal 2012 schrumpfte das Bruttoinlandsprodukt um 1,3 Prozent. Die Kapitalflucht geht unvermindert weiter. Die spanischen Regionalregierungen sind pleite. Vor diesem Hintergrund werden die Zentrifugalkräfte stärker. So demonstrierten am 11. September 1,5 Millionen Menschen in Barcelona für die Unabhängigkeit der nordostspanischen Region Katalonien. Manche der bürgerlich-nationalistischen Katalanen träumen davon, dass ein unabhängiges Katalonien ohne das restliche Spanien in der Euro-Zone verbleibt
Was nun?
Nach dem Marsch auf Madrid stellt sich die Frage: Wie weiter? Bislang weigern sich die Spitzen der grossen Gewerkschaften, den von vielen geforderten 24-stündigen Generalstreik tatsächlich zu organisieren. Statt einer ernsthaften Strategie zur Mobilisierung und zum Sturz der konservativen Regierung fordern die Gewerkschaftsführer eine Volksabstmmung über die Kahlschlagspolitik der Regierung. Natürlich hat Regierunschef Rajoy dazu nicht die geringste Absicht.
Dass sich in Spanien viel sozialer und politischer Sprengstoff aufgebaut hat, kommt auch in Meinungsumfragen zum Ausdruck. So sind 89% mit dem Zustand und der Funktionsweise der Wirtschaft unzufrieden. 82% haben kein Vertrauen in die gesamtspanische Regierung. 88% misstrauen den Banken, 81% dem Parlament. 69% sind der Ansicht, dass die Justiz schlecht oder sehr schlecht funktioniert.
Die Zustimmung zur regierenden PP (Volkspartei) ist von 44% bei den Parlamentswahlen Ende 2011 auf 31% gesunken, die sozialdemokratische PSOE liegt bei nur noch 24,8% gegenüber 28,7% im Jahre 2011. Die Vereinigte Linke (IU) hingegen konnte sich von 6,9% auf einen Wert zwischen 11 und 13 Prozent verbessern.
Angesichts steigender Unzufriedenheit mit dem Kapitalismus und seinen staatlichen Institutionen könnte die IU nach Ansicht der marxistischen Strömung um unsere Schwesterzeitung Lucha de Clases (Klassenkampf) mit einem klaren antikapitalistischen Programm noch viel mehr Zukauf bekommen und ähnlich wie die griechische Linkspartei Syriza eine Machtalternative aufbauen. Der anstehende IU-Kongress im Dezember müsse sich ein Programm geben, dass nicht auf eine Reform des Kapitalismus, sondern einen Bruch mit dem System orientiert und die Organisation auf die anstehenden revolutionären Erschütterungen vorbereitet, fordert Lucha de Clases.
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