In den letzten Monaten ging eine Flut von Kritik an Chinas Uiguren-Politik durch die Medien. Regelmäßig wird über Repressionsmaßnahmen berichtet – auch in Österreich. Was steckt dahinter? Mario Wassilikos und James Kilby analysieren.
Die UigurInnen sind eine unterdrückte nationale Minderheit in China. Die meisten von ihnen leben in der Region Xinjiang, die nur auf dem Papier „unabhängig“ und „autonom“ ist. Sie gingen aus einem Stammeszusammenschluss verschiedener Steppenvölker hervor, der Angehörige mongolischer sowie türkischer Herkunft in sich vereinte. Die UigurInnen haben eine eigene Kultur, sind zum Großteil MuslimInnen und sprechen eine Sprache, die mit dem Türkischen verwandt ist. Seit den 1750er Jahren werden sie vom chinesischen Staat unterdrückt. In den 1920er und 1930er Jahren wurde Xinjiang jedoch von der revolutionären Dynamik erfasst, die sich nach der Oktoberrevolution auch in Zentralasien ausbreitete. Neben den UigurInnen erhoben sich viele weitere Völker zu dieser Zeit gegen Despotismus, nationale und religiöse Unterdrückung sowie den Nationalismus der Han-ChinesInnen. Doch anstatt diese Bewegungen zu unterstützen und sie in die Sowjetunion zu integrieren, kooperierte die stalinistische Bürokratie mit reaktionären Machthabern der betroffenen Regionen. So konnte sie diese aufbegehrenden Völker in Schach halten. Das Ziel dahinter war die Verhinderung eines Eindringens ihrer revolutionären Kraft in die Sowjetunion, in der es in den 1920er und 1930er Jahren selbst politisch sowie sozial gärte. Im Fall der UigurInnen bedeutete dies die Unterstützung des Warlords Sheng Shicai.
Nach dem Sieg der chinesischen Revolution gegen die bürgerlich-nationalistische Kuomintang schloss Stalin mit Mao im Jahr 1949 einen Vertrag ab, in dem die Kontrolle über Xinjiang auf die neu gebildete Volksrepublik China übertragen wurde. Doch auch diese verweigerte den UigurInnen das Recht auf nationale Selbstbestimmung. Denn die maoistische Bürokratie nahm sich den russischen Stalinismus zum Vorbild. So wurde Xinjiang 1955 zwar zur „autonomen Region der Uiguren“ erklärt, jedoch in Wirklichkeit der Kontrolle einer halbmilitärischen Organisation namens Xinjiang Produktions- und Aufbau-Korps (XPCC) unterstellt. Ihre Aufgaben waren die Besiedelung der Region mit Han-ChinesInnen, die wirtschaftliche Ausbeutung Xinjiangs und die Erfüllung administrativer Tätigkeiten im Dienst des chinesischen Staatsapparates. Nachdem sich China mit der Sowjetunion überworfen hatte, unterstützte es zusammen mit den USA die radikalen Islamisten in Afghanistan, die gegen die Sowjetintervention kämpften. China stattete sie mit Waffen und Geld aus. Es wurden auch eine Reihe von Ausbildungscamps in Xinjiang aufgebaut.
Mit der Wiederherstellung des Kapitalismus – insbesondere in den 1990er und 2000er Jahren – verschlechterte sich die soziale und politische Lage für die UigurInnen noch weiter. Das XPCC gründete zahlreiche teilprivatisierte, börsennotierte Untergesellschaften. Diese Unternehmen sind unter anderem in der Herstellung landwirtschaftlicher Exportprodukte, dem Bauwesen, der Montanindustrie und vor allem in der Energiewirtschaft tätig, da sich in Xinjiang insgesamt ein Fünftel der Kohle-, Gas- und Erdölvorkommen Chinas befindet. Von dort aus verläuft die für die chinesische Wirtschaft äußerst wichtige West-Ost-Gaspipeline nach Shanghai. Die ProfiteurInnen dieser ökonomischen Erschließung waren jedoch nicht die Massen der ArbeiterInnen und der BäuerInnen der Region, sondern hohe KPCh-FunktionärInnen, ManagerInnen und InvestorInnen, die vor allem zugezogene Han-ChinesInnen sind. Viele UigurInnen müssen hingegen noch heute in Armut leben – hauptsächlich auf dem Land. Zudem werden zehntausende Angehörige dieser Minderheit seit Jahren als ZwangsarbeiterInnen in Zulieferbetrieben für westliche Konzerne eingesetzt, was zu einem Drücken des Lohnniveaus in diesen chinesischen Unternehmen führte. Es kam in der Folge zu immer größeren nationalen Spannungen. Das ist nicht verwunderlich. Schon Lenin erkannte, dass die Brotfrage – also die Frage des Lebensstandards – die Wurzel der nationalen Frage ist.
Die Konflikte erreichten 2009 einen ersten großen Siedepunkt, als in einer Fabrik in Südchina ein Kampf ausbrach, bei dem zwei Uiguren von Han-Chinesen getötet wurden. In Ürümqi – der Hauptstadt Xinjiangs – wurde daraufhin ein Protest organisiert, der die Untersuchung der Morde durch die chinesische Regierung forderte. Diese reagierte mit äußerst brutaler Polizeigewalt. Es kam zu einem Aufstand mit hunderten Toten und Verletzten. In den folgenden Jahren gab es eine Reihe von Terroranschlägen gegen Han-ChinesInnen. Dabei handelte es sich vor allem um kleinere Taten – Messerangriffe oder Anschläge mit hausgemachtem Sprengstoff. Die chinesische Regierung beschuldigte dieselben islamistischen Gruppen für die Attentate, die sie in den 1980er Jahren mitaufbaute und unterstützte!
Bild: Paul Keller, Flickr
Diese Angriffe nimmt der chinesische Staat als Vorwand zur Verstärkung der Unterdrückung aller UigurInnen. Die zentralen Maßnahmen: starke Einschränkung des uigurischen Sprachunterrichts in Schulen, Verkaufsverbot für die meisten uigurischen Bücher, behördliche Verfolgung des „abnormalen Bartwachstums“ und des Tragens von Schleiern in der Öffentlichkeit. Zudem wird die staatliche Überwachung intensiviert. Netzwerke von Polizeikontrollpunkten, Überwachungskameras mit Gesichtserkennung, Ortungsgeräte an Autos und Telefonen gehören in Xinjiang mittlerweile zum Alltag. Im Rahmen des Programms „Han und Uiguren – eine Familie“ wurden 112.000 Han-chinesische KPCh-Mitglieder damit beauftragt, Kontrollbesuche bei uigurischen Familien durchzuführen. Diejenigen, die gegen die Bestimmungen verstoßen, werden häufig in Umerziehungslager gesteckt, die der chinesische Staat auf zynische Weise als „Berufsbildungszentren“ bezeichnet.
Doch das ist noch lange nicht alles. So startete das XPCC ein riesiges Programm zur Landgewinnung. Dabei werden tausende Han-ChinesInnen eingesetzt, um Wüstengebiete zurückzugewinnen bzw. zu bewirtschaften. Im Rahmen dieser „Rückeroberung der Wüste“ kommt es jedoch häufig zu Vertreibungen von UigurInnen, damit die Wasserressourcen ihres Landes zu den XPCC-Farmen umgeleitet werden können.
Die brutale Unterdrückung der UigurInnen ist schon seit Jahren gut dokumentiert. Warum interessiert sich die USA erst seit Kurzem für ihr Schicksal? Die Antwort: Die Sanktionen gegen chinesische Beamte haben nichts mit der Sorge um Menschenrechte zu tun, sondern sind nur einer von vielen Hebeln, mit denen die chinesische Regierung im aktuellen Handelskonflikt unter Druck gesetzt werden soll, sich den Bedingungen des westlichen Imperialismus zu unterwerfen. So sieht der „Uyghur Human Rights Policy Act of 2020“ der USA vor, dass der US-Präsident die Durchsetzung von Sanktionen zurückhalten kann, wenn dies im „nationalen Interesse“ (also im Interesse der Großunternehmen) liegt. Das bedeutet: Wenn sich der chinesische Staat den für die USA günstigen Handelsbedingungen unterwirft, kann er die UigurInnen weiterhin so behandeln, wie es ihm gefällt. Man sieht: Die Rechte der UigurInnen werden wie jene anderer unterdrückter Nationen von den imperialistischen Großmächten lediglich als Verhandlungsmasse in ihren Konflikten eingesetzt.
Die Heuchelei des westlichen Imperialismus sowie seine (angedrohten oder durchgeführten) Sanktionen sind auf das Schärfste zurückzuweisen. Er hat kein Interesse daran, Ausbeutung und Unterdrückung in China zu lindern. Eine Verteidigung des chinesischen Staatsapparates und seiner Politik ist jedoch ebenso falsch. Hierzulande ist das die Linie etwa der Kommunistische Jugend (KJÖ), indem sie z. B. im Bezug auf die Medienberichte über die Unterdrückung der UigurInnen von der „Neuauflage der antikommunistischen Kalten Kriegspropaganda“ spricht.
Nach der Chinesischen Revolution 1949 wurde der Kapitalismus in China überwunden, doch nur dem Namen nach durch „Sozialismus“ und „Kommunismus“ ersetzt. In Wirklichkeit hatten nie die die einfachen ArbeiterInnen und BäuerInnen die Macht im Land, sondern immer die Bürokratie im Staat, die den enormen Fortschritt der geplanten Wirtschaft systematisch zur eigenen Bereicherung nützte. Doch mittlerweile ist selbst von der maoistischen Karikatur des Kommunismus nur noch der Name übrig geblieben. Die kapitalistische Ausbeutung mit allen ihren Widersprüchen wurde restauriert (bereits 2005 überschritt der Privatsektor erstmals den 50-Prozent-Anteil am BIP) und China verfolgt selbst auf Weltebene eine aggressive, imperialistische Politik.
Heute besitzen 10 Prozent der chinesischen Bevölkerung 72 Prozent des volkswirtschaftlichen Gesamtvermögens, allein das oberste Prozent hat 47 Prozent inne. An der Spitze der Bourgeoisie Chinas stehen Multimilliardäre wie Alibaba-Group-Gründer Jack Ma, die beste Verbindungen zur Staatspartei KPCh haben bzw. teilweise sogar Parteimitglieder in führenden Positionen sind. Laut dem Hurun Report liegt das Vermögen der 153 reichsten Mitglieder des Volkskongresses (Chinas Parlament) und der Konsultativkonferenz (beratendes Gremium im chinesischen Staatsapparat) bei rund 570 Milliarden Euro. Das entspricht beinahe der jährlichen Wirtschaftsleistung der Schweiz!
Ihnen gegenüber stehen 63 Prozent der chinesischen Bevölkerung, deren Vermögen unter 10.000 US-Dollar pro Kopf liegt. Mit der Corona-Pandemie hat sich die enorme soziale Ungleichheit noch weiter gesteigert. „Die Reichen werden in dieser Krise immer reicher, aber die Armen werden wirklich hart getroffen“, betont Michael Pettis, Wirtschaftsexperte und Finanzprofessor an der Universität Peking.
Die KPCh-Bürokratie reagiert auf die damit verbundene mögliche Verschärfung des Klassenkampfes mit der Forcierung des Nationalismus. Dieser soll durch das Beschwören des nationalen Schulterschlusses unter dem Banner der dominierenden Han-Kultur von den immer stärker werdenden Missständen des chinesischen Kapitalismus ablenken – ein Prozess, der schon Jahre vor der Corona-Pandemie in Gang gesetzt wurde. Die Opfer dieser Politik sind nicht nur die UigurInnen, sondern auch andere Minderheiten. So wird z. B. die mongolische Sprache immer stärker unterdrückt – vor einigen Monaten gab es deswegen große Proteste von StudentInnen. Gleichzeitig wird die Repressionsschraube angezogen, um drohende soziale Proteste bereits im Keim ersticken zu können. Dass ein für die Regierung gefährliches Widerstandspotenzial in der Arbeiterklasse und ihrer Jugend vorhanden ist, zeigen nicht nur die jüngsten antikapitalistischen Online-Aktionen chinesischer Jugendlicher in Foren bzw. sozialen Medien, sondern auch vereinzelte Arbeitskämpfe sowie die Aktivitäten marxistischer Studentengruppen in den letzten Jahren, die sich mit streikenden ArbeiterInnen solidarisierten und zu revolutionären Schlussfolgerungen kamen.
In diesem Zusammenhang offenbart sich noch eine weitere Funktion der Repression nationaler Minderheiten: Das totalitäre Sicherheitsregime in Xinjiang sowie anderen Teilen Chinas dient als Testlabor für Methoden, die im ganzen Land zur Niederschlagung revoltierender Massen eingesetzt werden können. Es ist also notwendig, das KPCh-Regime zu stürzen und durch eine tatsächliche Arbeitermacht zu ersetzen, die den Sozialismus aufbauen kann. Dies ist nur mittels des gemeinsamen Kampfes der Arbeiterklasse und der Armen aller ethnischen Gruppen in China zu erreichen. Denn eine geteilte Bewegung ist eine geschwächte Bewegung. Daher müssen sich echte KommunistInnen (nicht nur) betreffend China das Recht aller unterdrückten Nationen auf Selbstbestimmung auf ihr Banner schreiben, um die freiwillige Einheit der Arbeiterklasse zu fördern.
Mario Wassilikos und James Kilby
Der Funke Österreich
Bilder: Der Funke Österreich
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