Alan Woods, der Herausgeber von In Defence of Marxism, stellt in dieser Einführung den dialektischen Materialismus, die revolutionäre Philosophie des Marxismus vor. Der Text ist Teil des Buchs „Ideologiekritik – gegen die akademische Entstellung des Marxismus„, welches hier erhältlich ist.
In jedem Spezialgebiet menschlicher Tätigkeit – vom Tischlerhandwerk bis zur Gehirnchirurgie – braucht es ein gewisses Mass an Wissen und Fertigkeiten, die man sich durch ein Studium der Materie aneignen muss. Die Vorstellung, wir könnten ohne Lernen auskommen, steht in offenem Widerspruch zu unserer Alltagserfahrung.
Wenn ich zum Zahnarzt gehe und dieser mir mitteilt: „Ich habe nie Zahnmedizin studiert und weiss nichts darüber, aber öffnen Sie ihren Mund, ich werde es versuchen“, würde ich die Praxis auf dem schnellsten Wege verlassen. Wenn ich Probleme mit meiner Zentralheizung habe und ein Mann zu mir nach Hause kommt, einen Hammer aus der Tasche zieht und sagt: „Ich weiss nichts von Installationstechnik, aber zeigen Sie mir Ihre Heizung, ich werde das schon machen“, würde ich ihm sicherlich zeigen, wo der Ausgang ist.
Die meisten Menschen würden es nicht im Traum wagen, zu Fragen der Gehirnchirurgie oder der Quantenmechanik eine Meinung zu äussern, wenn sie auf diesen Gebieten über keine Spezialkenntnisse verfügen. Anders verhält es sich beim Marxismus, zu dem jeder eine Meinung äussern kann, ohne eine einzige Zeile von Marx und Engels gelesen zu haben. Selbst die sogenannten akademischen Experten, die ganze Bücher gegen den Marxismus schreiben, haben sich offensichtlich nicht sonderlich mit dem Werk von Marx beschäftigt oder, wenn sie es doch getan haben, bei dieser Lektüre nichts verstanden.
Noch bedauerlicher ist die Tatsache, dass auch viele, die sich selbst als Marxisten bezeichnen, nicht mit den Schriften von Marx und Engels vertraut sind. Meiner Erfahrung nach machen sich nur die wenigsten die Mühe, die marxistische Theorie in all ihrem Reichtum und ihrer Vielfalt zu erforschen. Allzu oft streifen sie nur die Oberfläche und wiederholen gedankenlos ein paar Schlagwörter und aus dem Zusammenhang gerissene Zitate, die sie auswendig gelernt haben. Der tatsächliche Inhalt dieser Aussagen bleibt für sie aber ein Buch mit sieben Siegeln.
Viele Menschen denken, sie wissen über den Marxismus Bescheid, weil sie sich im Laufe der Zeit mit einigen seiner grundlegenden Ideen bekannt gemacht haben. Aber was bekannt ist, hat man – gerade, weil es bekannt ist – noch lange nicht genau verstanden, oder um es mit Hegel zu sagen: „Das Bekannte überhaupt ist darum, weil es bekannt ist, nicht erkannt.“
Auf keinem anderen Gebiet ist diese Aussage so zutreffend wie in der Philosophie. Es wird allzu oft vergessen, dass sich der Marxismus als Philosophie entwickelte, und dass die philosophische Methode des Marxismus von grundlegender Bedeutung für das Verständnis der Ideen von Marx und Engels ist.
Hier stehen wir jedoch vor einer grossen Schwierigkeit. Die systematischste Darstellung der Dialektik ist in den Schriften von Hegel enthalten, insbesondere in seinem umfangreichen Werk Wissenschaft der Logik. Doch der Leser läuft Gefahr bei dieser Lektüre schnell zu ermüden, weil Hegel seine Ideen auf eine schwer zugängliche Art und Weise darlegt – Engels beschrieb sie als „abstrakt und abstrus“, während Lenin anmerkte, dass das Lesen von Wissenschaft der Logik der beste Weg sei, Kopfschmerzen zu bekommen.
Marx verfolgte die Absicht, ein Werk über den dialektischen Materialismus zu schreiben, um seiner Leserschaft den rationalen Kern von Hegels Gedanken zugänglich zu machen. Leider starb Marx, bevor er diesen Plan umsetzen konnte. Sein unermüdlicher Mitstreiter Friedrich Engels schrieb eine Reihe brillanter Studien zur dialektischen Philosophie, darunter Ludwig Feuerbach und der Ausgang der deutschen klassischen Philosophie, den Anti-Dühring und die Dialektik der Natur.
Das letztgenannte Buch sollte die Grundlage für ein längeres Werk über die marxistische Philosophie sein. Die Herausgabe des zweiten und dritten Bandes des Kapitals, die Marx bei seinem Tod unvollendet liess, stellte sich jedoch als derart grosse Aufgabe heraus, dass es dazu nicht mehr kommen sollte. Es stimmt natürlich, dass man, verstreut über die Werke von Marx, Engels, Lenin, Trotzki und Plechanow, eine Fülle an Material zu diesem Thema finden kann. Doch es ist sehr aufwendig, all diese Informationen zusammenzutragen.
Vor über 20 Jahren schrieb ich in Zusammenarbeit mit meinem Genossen und Lehrer Ted Grant das Buch Aufstand der Vernunft. Meines Wissens war es der erste Versuch, die Methode des dialektischen Materialismus auf die Ergebnisse der modernen Naturwissenschaften anzuwenden, seit Engels sein Buch Dialektik der Natur verfasst hat. Aber eine mehr oder weniger systematische Darstellung der marxistischen Philosophie bleibt weiterhin noch fertigzustellen.
Seit einiger Zeit plane ich, ein Buch über marxistische Philosophie zu schreiben, in dem es mir hoffentlich gelingt, die Ideen von Hegel so darzulegen, dass sie auch einer breiteren Leserschaft zugänglich sind. Leider wurde dieses Projekt durch andere Aufgaben verzögert, vor allem durch die Fertigstellung der vollständigen Version von Trotzkis Stalin. Ich hoffe, diese Aufgabe in nicht allzu ferner Zukunft vollenden zu können.
Heutzutage ist die Einstellung der meisten Menschen zur Philosophie meist von Gleichgültigkeit oder gar Verachtung gekennzeichnet. Angesichts des Zustands der modernen Philosophie ist das durchaus verständlich. Alles dreht sich um Bedeutung und Semantik, was dazu führt, dass man nicht umhin kommt, an die verworrenen Debatten der mittelalterlichen Scholastiker zu denken, die endlos über das Geschlecht der Engel stritten und der Frage nachgingen, wie viele Engel auf dem Kopf einer Nadel tanzen können.
Seit anderthalb Jahrhunderten gleicht das Reich der Philosophie einer trockenen Wüste, in der es nur gelegentlich Spuren von Leben gibt. Man wird in dieser Einöde vergeblich nach einer Quelle der Erleuchtung suchen. Es ist schwer zu sagen, was schlimmer ist: die unerträgliche Überheblichkeit der sogenannten Postmoderne, oder die offensichtliche Leere ihres Inhalts. Von der einstigen Schatzkammer menschlichen Denkens vergangener Epochen, die so viel Erleuchtung gebracht hat, scheint nicht mehr viel übrig zu sein.
Mit dem jüngsten Hang zur sogenannten Postmoderne hat die bürgerliche Philosophie ihren Tiefpunkt erreicht. Der dürftige Inhalt dieses Trends hat seine Anhänger nicht daran gehindert, die absurdesten Allüren an den Tag zu legen. Dies geht einher mit einer arroganten Verachtung gegenüber den grossen Philosophen der Vergangenheit. Wenn wir die Jauchegruben der modernen Philosophie untersuchen, kommen uns umgehend die Worte von Hegel aus dem Vorwort zu seiner Phänomenologie des Geistes in den Sinn:
„An diesem, woran dem Geiste genügt, ist die Grösse seines Verlustes zu ermessen.“(G. W. F. Hegel: Die Phänomenologie des Geistes, S. 13.)
Die Geringschätzung, oder besser gesagt, die völlige Gleichgültigkeit gegenüber der Philosophie, die die meisten Menschen an den Tag legen, ist wohlverdient. Aber es ist bedauerlich, dass mit der Abkehr vom heutigen philosophischen Sumpf auch die grossen Denker der Vergangenheit vernachlässigt werden. Denn sie waren im Gegensatz zu den modernen Scharlatanen Riesen des menschlichen Denkens. Wir können heute noch immer viel von den alten Griechen, von Spinoza und von Hegel lernen. Sie waren Pioniere, die den Weg für die brillanten Errungenschaften der marxistischen Philosophie aufbereitet haben, und die zu Recht als ein wichtiger Teil unseres revolutionären Erbes betrachtet werden können.
In der angelsächsischen Welt im Allgemeinen hat die Philosophie immer schon eine bemerkenswert geringe Rolle gespielt. Soweit die Amerikaner und ihre britischen Vettern eine Philosophie besitzen, haben sie den Umfang ihres Denkens auf die engen Grenzen des Empirismus und seines Seelenverwandten, den Pragmatismus, beschränkt. Weitreichende Verallgemeinerungen von theoretischerem Charakter wurden in diesen beiden Ländern schon immer mit etwas Misstrauen betrachtet.
Philosophie ist abstraktes Denken, aber philosophische Verallgemeinerungen sind der angelsächsischen Tradition fremd. Die Tradition des Empirismus duldet keine Verallgemeinerungen. Sie verlangt ständig das Konkrete, die Fakten, aber indem sie sich auf diesen engen Ansatz beschränkt, sieht sie ständig den Wald vor lauter Bäumen nicht.
Früher spielte der Empirismus eine äusserst fortschrittliche und sogar revolutionäre Rolle bei der Entwicklung des menschlichen Denkens und der Wissenschaft. Empirie ist jedoch nur innerhalb gewisser Grenzen hilfreich. Im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert übte die mit dem Namen von Sir Francis Bacon verbundene Denkschule einen widersprüchlichen Einfluss auf die weitere Entwicklung aus.
Einerseits hatte sie einen sehr positiven Effekt auf die Entwicklung der Wissenschaften, indem er die Notwendigkeit von Beobachtungen und Experimenten betonte. Auf der anderen Seite entstand dadurch eine enge Perspektive, die sich vor allem in Grossbritannien und den Vereinigten Staaten negativ auf die Entwicklung des philosophischen Denkens ausgewirkt hat. Diese eigentümliche angelsächsische Abneigung gegen die Theorie, die Tendenz zu einengendem Empirismus, die ausgesprochene Verehrung der „Fakten“ und eine hartnäckige Weigerung, Verallgemeinerungen zu akzeptieren, hat das gebildete Denken in Grossbritannien und in der Folge auch in den Vereinigten Staaten so lange geformt, dass diese Ansichten den Charakter eines tiefsitzenden Vorurteils angenommen haben.
Für den Empiriker existiert alles nur in seiner äusseren Erscheinungsform. Davon ausgehend untersucht er die Dinge immer nur in ihrer Einmaligkeit, in ihrem Ruhezustand und für sich allein, was damit endet, dass er die Vorstellung von einer Sache untersucht und nicht die Sache selbst. Die Sinneswahrnehmungen sind Gedanken, aber auf einer sehr niedrigen und grundlegenden Ebene. Für alltägliche Zwecke mögen solche Gedankenformen ausreichen, aber für komplexere Prozesse wird die Enge des Empirismus sofort zum Hindernis für einen Geist, der danach strebt, die Wahrheit zu erlangen.
Unter der Wahrheit verstehen wir menschliches Wissen, das die objektive Welt, ihre Gesetze und Eigenschaften korrekt widerspiegelt. In diesem Sinne hängt es nicht von einem Subjekt ab, wie sich das Bischof Berkeley, Hume und die anderen frühen Vertreter des englischen Empirismus vorstellten, die zwangsläufig im Sumpf des subjektiven Idealismus landeten.
Viele Menschen fühlen sich nur dann sicher, wenn sie sich auf die Fakten beziehen können. Doch die „Fakten“ wählen sich nicht von selbst aus. Es bedarf einer konkreten Methode, die uns hilft, über das unmittelbar Gegebene hinauszuschauen und die Prozesse, die über die „Fakten“ hinausgehen, blosszulegen. Trotz gegenteiliger Behauptungen ist es unmöglich, ohne eine vorgefasste Meinung einfach die „Fakten“ als Ausgangspunkt zu nehmen. Eine solche vermeintliche Objektivität hat es nie gegeben und wird es auch nie geben.
In unserer Herangehensweise an die Fakten lassen wir unsere eigenen Vorstellungen und Kategorien einfliessen. Diese können entweder bewusst oder unbewusst sein, spielen aber immer eine gewisse Rolle. Wer glaubt, ohne Philosophie auskommen zu können – und das trifft auf viele Wissenschaftler zu – wiederholt in der Regel unbewusst die gegenwärtig dominante „offizielle“ Philosophie und die vorherrschenden, gesellschaftlichen Vorurteile. Es ist daher unerlässlich, dass Wissenschaftler und bewusst denkende Menschen im Allgemeinen bestrebt sind, eine konsistente Sichtweise auf die Welt zu entwickeln, eine kohärente Philosophie, die als geeignetes Werkzeug zur Analyse von Dingen und Prozessen dienen kann.
Die Schlussfolgerungen aus der Sinneswahrnehmung sind hypothetisch und erfordern weitere Beweise. Durch Beobachtung über einen langen Zeitraum hinweg, kombiniert mit praktischer Tätigkeit, die es uns ermöglicht, die (Un-)Richtigkeit unserer Ideen zu überprüfen, können wir eine Reihe von wesentlichen Zusammenhängen zwischen Phänomenen entdecken. Gemeinsame Merkmale erlauben es uns, sie zu einer bestimmten Gattung oder Art zusammenzufassen.
Der Prozess der menschlichen Erkenntnis geht vom Besonderen zum Allgemeinen, aber auch vom Allgemeinen zum Besonderen. Es wäre daher falsch und einseitig, das Eine gegen das Andere zu stellen. Im dialektischen Materialismus sind die Methoden der Induktion und der Deduktion nicht miteinander unvereinbar, sondern werden als verschiedene Aspekte des dialektischen Erkenntnisprozesses gesehen, die untrennbar miteinander verbunden sind und sich gegenseitig bedingen.
Induktives Denken ist in letzter Instanz die Grundlage allen Wissens, denn alles, was wir wissen, ergibt sich letztlich aus der Beobachtung der objektiven Welt und aus unserer Erfahrung. Bei näherer Betrachtung werden jedoch die Grenzen einer streng induktiven Methode deutlich. Unabhängig davon, wie viele Fakten untersucht werden, bedarf es nur einer einzigen Ausnahme, um die allgemeine Schlussfolgerung, die wir daraus gezogen haben, zu untergraben. Wenn wir tausend weisse Schwäne gesehen haben und daraus den Schluss ziehen, dass alle Schwäne weiss sind, und dann einen schwarzen Schwan sehen, dann ist unsere Schlussfolgerung nicht mehr gültig.
In Dialektik der Natur verwies Engels auf das Paradoxon des Empirismus, der sich vorstellte, dass er die Metaphysik ein für alle Mal abgeschafft hatte, aber letztendlich alle Arten von mystischen Ideen akzeptierte.
[Diese Richtung,] „die, auf die blosse Erfahrung pochend, das Denken mit souveräner Verachtung behandelt und es wirklich in der Gedankenlosigkeit auch am weitesten gebracht hat.“ (Friedrich Engels: Dialektik der Natur, S. 337.)
In der Einleitung zu den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte verspottet Hegel zu Recht diejenigen Historiker, die besonders in Grossbritannien allzu häufig vorgeben, sich auf die Fakten zu beschränken und eine falsche Fassade der „akademischen Objektivität“ präsentieren, während sie ihren Vorurteilen freien Lauf lassen:
„Die Geschichte aber haben wir zu nehmen, wie sie ist: wir haben historisch, empirisch zu verfahren; unter anderm müssen wir uns nicht durch die Historiker vom Fach verführen lassen, denn diese, namentlich Deutsche, welche eine grosse Autorität besitzen, machen das, was sie den Philosophen vorwerfen, nämlich a priorische Erdichtungen in der Geschichte. Es ist z.B. eine weitverbreitete Erdichtung, dass ein erstes und ältestes Volk gewesen sei, unmittelbar von Gott belehrt, in vollkommener Einsicht und Weisheit, in durchdringender Kenntnis aller Naturgesetze und geistiger Wahrheit, oder dass es diese und jene Priestervölker gegeben, oder um etwas Spezielles anzuführen, dass es ein römisches Epos gegeben, aus welchem die römischen Geschichtschreiber die älteste Geschichte geschöpft haben usf. Dergleichen Autoritäten wollen wir den geistreichen Historikern von Fach überlassen, unter denen sie bei uns nicht ungewöhnlich sind. Als die erste Bedingung könnten wir somit aussprechen, dass wir das Historische getreu auffassen; allein in solchen allgemeinen Ausdrücken, wie treu und auffassen, liegt die Zweideutigkeit. Auch der gewöhnliche und mittelmässige Geschichtsschreiber, der etwa meint und vorgibt, er verhalte sich nur aufnehmend, nur dem Gegebenen sich hingebend, ist nicht passiv mit seinem Denken und bringt seine Kategorien mit und sieht durch sie das Vorhandene; bei allem insbesondere, was wissenschaftlich sein soll, darf die Vernunft nicht schlafen, und muss Nachdenken angewandt werden; wer die Welt vernünftig ansieht, den sieht sie auch vernünftig an, beides ist in Wechselbestimmung. Aber die unterschiedenen Weisen des Nachdenkens, der Gesichtspunkte, der Beurteilung schon über blosse Wichtigkeit und Unwichtigkeit der Tatsachen, welches die am nächsten liegende Kategorie ist, gehören nicht hierher.“ (G.F.W. Hegel: Die Vernunft in der Geschichte, S. 30f.)
Bertrand Russell vertrat Ansichten, die dem dialektischen Materialismus diametral entgegengesetzt sind, dennoch formulierte er, ganz auf der Linie von Hegel, eine stichhaltige Kritik an der Begrenztheit des Empirismus:
„In der Regel ist der schwierigste Teil der wissenschaftlichen Arbeit, das hypothetische Gerüst aufzustellen; es gehört am meisten Geschicklichkeit dazu. Bisher hat man noch keine Methode gefunden, die es ermöglichen würde, durch Regeln zu Hypothesen zu kommen. Gewöhnlich ist irgendeine Hypothese die unerlässliche Vorbedingung bei der Zusammenstellung von Tatsachen, da die Auswahl der Tatsachen nach dem Prinzip einer bestimmenden Relevanz erfolgen muss. Ohne etwas derartiges ist die blosse Anhäufung von Tatsachen verwirrend.“ (Bertrand Russell: Philosophie des Abendlandes, S. 453.)
Der Begriff „Dialektik“ stammt von dem griechischen Wort dialektike, abgeleitet von dialegomai, sich unterhalten oder diskutieren. Ursprünglich bedeutete es die Kunst der Diskussion, die in ihrer höchsten Form in den Sokratischen Dialogen Platons zu sehen ist.
Ausgehend von einer bestimmten Idee oder Meinung, die sich in der Regel aus den konkreten Erfahrungen und Problemen des Lebens der betroffenen Person ableitet, würde Sokrates Schritt für Schritt in einem rigorosen Argumentationsprozess die im ursprünglichen Vorschlag enthaltenen inneren Widersprüche aufdecken, seine Grenzen aufzeigen, die Diskussion auf eine höhere Ebene heben und so zu einem völlig anderen Vorschlag kommen.
Ein erstes Argument, die These, wird vorgebracht. Dieses wird durch ein gegenteiliges Argument, die Antithese, beantwortet. Schliesslich, nachdem wir die Frage gründlich untersucht und seziert haben, um ihre inneren Widersprüche zu enthüllen, kommen wir auf einer höheren Ebene zu einer neuen Schlussfolgerung – der Synthese. Das mag bedeuten, dass die beiden Seiten eine Einigung erzielen konnten (dies muss aber nicht der Fall sein), aber schon während des Diskussionsprozesses selbst vertiefen beide Seiten ihr Verständnis, und die Diskussion schreitet von einer niedrigeren auf eine höhere Stufe voran. Das ist die Dialektik des Diskussionsprozesses in ihrer klassischen Form.
Die Dialektik setzt eine dynamische Sicht der Natur voraus, die das menschliche Denken vom rigor mortis (Leichenstarre, Anm. d. Red.) der formalen Logik befreit. Der erste wirkliche Vertreter der Dialektik war der griechische Philosoph Heraklit (um 544–484 v. Chr.). Das Werk dieses bemerkenswerten Mannes lebt bis heute in einer Reihe von kurzen, aber tiefgreifenden Aphorismen weiter:
„Feuer lebt der Erde Tod und Luft des Feuers Tod; Wasser lebt der Luft Tod und Erde den des Wassers.“
„Und es ist immer ein und dasselbe was in uns wohnt: Lebendes und Totes und das Wache und das Schlafende und Jung und Alt. Wenn es umschlägt, ist dieses jenes und jenes wiederum, wenn es umschlägt, dieses.“
„In dieselben Fluten steigen wir und steigen wir nicht: wir sind es und sind es nicht.“
Diese Aussagen trafen auf sehr viel Unverständnis, weil sie dem so genannten „gesunden Menschenverstand“ widersprachen. So obskur und paradox erschienen sie seinen Zeitgenossen, dass sie ihm den Spitznamen „der Dunkle“ einbrachten. Heraklit hingegen zeigte sich völlig gleichgültig gegenüber diesem Unverständnis und reagierte darauf mit Verachtung:
„Für dies Wort [Weltgesetz] aber, ob es gleich ewig ist, gewinnen die Menschen kein Verständnis, weder ehe sie es vernommen noch sobald sie es vernommen. Alles geschieht nach diesem Wort, und doch gebärden sie sich wie Unerprobte, so oft sie es probieren mit solchen Worten und Werken, wie ich sie künde, ein jegliches nach seiner Natur zerlegend und deutend, wie sich‘s damit verhält. Die anderen Menschen wissen freilich nicht, was sie im Wachen tun, wie sie ja auch vergessen, was sie im Schlafe [tun].
Sie verstehen es nicht, auch wenn sie es vernommen. So sind sie wie Taube. Das Sprichwort bezeugt‘s ihnen: ›Anwesend sind sie abwesend‹.“ (Heraklit, zitiert in: Hermann Diels: Die Fragmente der Vorsokratiker, 77.)
Heraklit sah, was andere, die sich gemäss ihrer Sinneswahrnehmung nur auf empirische Beweise stützten, nicht sehen konnten. In einer schonungslosen Kritik am Empirismus schrieb er:
„Schlimme Zeugen sind Augen und Ohren den Menschen, sofern sie Barbarenseelen haben.“ (ebd.)
Natürlich leitet sich all unser Wissen letztendlich von unseren Sinnen ab, aber die Sinneswahrnehmung kann uns nur einen Teil der Geschichte erzählen, und nicht unbedingt den wichtigsten Teil. So sagen uns unsere Sinne, dass die Erde flach ist. Hegel, der als Philosoph eine sehr hohe Meinung von Heraklit hatte, schrieb in seiner Geschichte der Philosophie:
„Hier sehen wir Land. Es gibt keinen Satz von Heraklit, den ich nicht in meiner Logik übernommen habe.“ (G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, S. 319.)
Der Psychologe Carl Jung schrieb:
„Der alte Heraklit, der wirklich ein grosser Weiser war, hat das wunderbarste aller psychologischen Gesetze entdeckt: nämlich die regulierende Funktion der Gegensätze…das Entgegenlaufen, worunter er verstand, dass alles einmal in sein Gegenteil hineinlaufe.“ (Carl G. Jung: Über die Psychologie des Unbewussten, S. 80f.)
Im Anti-Dühring gibt Engels folgende Einschätzung über die dialektische Weltauffassung von Heraklit:
„Wenn wir die Natur oder die Menschengeschichte oder unsre eigne geistige Tätigkeit der denkenden Betrachtung unterwerfen, so bietet sich uns zunächst dar das Bild einer unendlichen Verschlingung von Zusammenhängen und Wechselwirkungen, in der nichts bleibt, was, wo und wie es war, sondern alles sich bewegt, sich verändert, wird und vergeht. Diese ursprüngliche, naive, aber der Sache nach richtige Anschauung von der Welt ist die der alten griechischen Philosophie und ist zuerst klar ausgesprochen von Heraklit: Alles ist und ist auch nicht, denn alles fliesst, ist in steter Veränderung, in stetem Werden und Vergehn begriffen.“
„Die Bewegung ist die Daseinsweise der Materie. Nie und nirgends hat es Materie ohne Bewegung gegeben oder kann es sie geben.“(Friedrich Engels: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, S. 20, 55.)
In der Dialektik der Natur schreibt Engels auch:
„Formwechsel der Bewegung ist immer ein Vorgang, der zwischen mindestens zwei Körpern erfolgt, von denen der eine ein bestimmtes Quantum Bewegung dieser Qualität (z.B. Wärme) verliert, der andre ein entsprechendes Quantum Bewegung jener Qualität (mechanische Bewegung, Elektrizität, chemische Zersetzung) empfängt.“
„Die Dialektik, die sog. objektive, herrscht in der ganzen Natur, und die sog. subjektive Dialektik, das dialektische Denken, ist nur Reflex der in der Natur sich überall geltend machenden Bewegung in Gegensätzen, die durch ihren fortwährenden Widerstreit und ihr schliessliches Aufgehen ineinander, resp. in höhere Formen, eben das Leben der Natur bedingen.“ (Friedrich Engels: Dialektik der Natur, S. 349, 481.)
In Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft schrieb Engels:
„Ihren Abschluss fand diese neuere deutsche Philosophie im Hegelschen System, worin zum erstenmal – und das ist sein grosses Verdienst – die ganze natürliche, geschichtliche und geistige Welt als ein Prozess, d.h. als in steter Bewegung, Veränderung, Umbildung und Entwicklung begriffen, dargestellt und der Versuch gemacht wurde, den innern Zusammenhang in dieser Bewegung und Entwicklung nachzuweisen.“ (Friedrich Engels: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, S. 206.)
Die dialektische Methode erscheint in den Schriften des Heraklit in einer embryonalen, noch unentwickelten Form. Hegel entwickelte sie zu ihrer höchsten Form, auch wenn die Dialektik bei ihm noch in einer mystischen, idealistischen Form erscheint. Durch die theoretischen Arbeiten von Marx und Engels wurde jedoch zum ersten Mal der rationale Kern in Hegels Denken zur Geltung gebracht. Die dialektische Methode bietet uns in ihrer wissenschaftlich-materialistischen Form ein unverzichtbares Werkzeug, um die Funktionsweise von Natur, Gesellschaft und menschlichem Denken zu verstehen.
Hegels grosses dialektisches Meisterwerk ist die Wissenschaft der Logik, deren Struktur, so behauptete er selbst, eine aus der Geschichte der Philosophie abgeleitete Abstraktion sei. Sie ähnelt dem Prozess, den der Geist eines Kindes durchläuft, wenn es beginnt, äussere Wahrnehmungen ins Bewusstsein zu übersetzen, beginnend mit der Kategorie des „Seins“, und sich von ihr aus zu abstrakteren – Hegel hätte gesagt „konkreteren“ – Ideen vortastet.
Aber das grundlegende Problem mit diesem Werk liegt in der Struktur der Arbeit selbst. Als Idealist versuchte Hegel ein philosophisches System zu schaffen, das Schritt für Schritt durch alle Prozesse des bewussten Denkens hindurch letztlich zur absoluten Idee führen würde. Feuerbach sah in der absoluten Idee zu Recht nichts anderes als eine weitere Bezeichnung für Gott.
Diese Ansicht vertrat auch Lenin. Er schrieb in seinen Philosophischen Heften:
„Hegels Logik darf man in ihrer gegebenen Form nicht anwenden; man darf sie nicht als Gegebenes nehmen. Man muss ihr die logischen (gnoseologischen) Nuancen entnehmen und sie von der ‚Ideenmystik‘ reinigen: das ist noch eine grosse Arbeit.“ (Lenin: Philosophische Hefte, S. 253.)
Der künstliche Charakter von Hegels philosophischem System wird von Engels in einem Brief an Conrad Schmidt vom 1. November 1891 kommentiert. Er merkte dabei an, dass die Struktur von Hegels Logik „erkünstelt“ ist und dass der Übergang von einer Kategorie zur anderen oft willkürlich erfolgt. Er verweist dabei auf ein Wortspiel von Hegel, mit dem dieser von „zugrunde gehen“ zur Kategorie „Grund“ gelangt (vgl. Friedrich Engels: Brief an Conrad Schmidt, S. 204.).
Was die absolute Idee angeht, so kommentierte Engels ironisch, das Problem dabei ist, dass Hegel uns absolut nichts darüber erzählt. Der Versuch, das zweifellose Meisterwerk des dialektischen Denkens in die Zwangsjacke des Idealismus zu pressen, führte dazu, dass Hegels Werk häufig einen erzwungenen und willkürlichen Charakter annahm. Es war, um Engels noch einmal zu zitieren, „eine kolossale Fehlgeburt.“ (Friedrich Engels: Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, S. 23.)
Dennoch wird der geduldige Leser in Hegels Logik eine Vielzahl von fundierten und lohnenden Ideen finden. Trotz ihres idealistischen Charakters ist es möglich, wie durch einen verzerrenden Spiegel die Reflexion der materiellen Realität zu erkennen – nicht nur die Geschichte der Philosophie, sondern auch die Geschichte der menschlichen Gesellschaft und die Gesetze und Prozesse der Natur im Allgemeinen. Dazu ist es notwendig, Hegel aus einem kritischen und materialistischen Blickwinkel zu lesen, wie es Lenin in seinen Philosophischen Heften tat.
Leo Trotzki hat in seinem Artikel Das ABC der materialistischen Dialektik in wenigen Worten das Wesen der Dialektik mit beeindruckender Klarheit dargelegt. Kein Wunder, dass dieser Artikel die Kritiker der Dialektik in Rage versetzt hat. Er stellt die eigentliche Grundlage der logischen Konzepte in Frage, die die Philosophie seit Jahrhunderten dominieren: das Identitätsgesetz.
Die Verallgemeinerungen, die über einen längeren Zeitraum der menschlichen Entwicklung entstanden sind, von denen einige als Axiome (Grundsätze) angesehen werden, spielen eine wichtige Rolle bei der Entwicklung des Denkens, auf die wir nicht so einfach verzichten können. Die Denkformen der traditionellen Logik spielen eine wesentliche Rolle, indem sie elementare Regeln zur Vermeidung absurder Widersprüche aufstellen und einer stimmigen Argumentationslinie folgen, aber diese formalistische Denkweise hat nur innerhalb bestimmter Grenzen seine Gültigkeit.
Das Identitätsgesetz (A = A) ist die grundlegende, dogmatische Annahme aller formalen Logik und das seit über 2.000 Jahren. Dieses Gesetz ist typisch für das formale Denken: leer, starr und abstrakt. Das dialektische Denken ist im Gegensatz konkret, dynamisch und komplex: Es stellt Bewegung dar, die sich in ihrer allgemeinsten Form ausdrückt.
In seinem Buch Metaphysik arbeitete Aristoteles den Satz vom Widerspruch aus, der besagt, dass zwei einander widersprechende Aussagen nicht zugleich zutreffen können. Eine Erweiterung dessen ist der Satz vom ausgeschlossenen Dritten, ein logisches Grundprinzip bzw. Axiom, das besagt, dass für eine beliebige Aussage nur die Aussage selbst oder ihr Gegenteil wahr sein kann.
In einem anderen seiner Werke, dem Organon, erarbeitete Aristoteles jedoch die grundlegenden Gesetze der Dialektik. Leider wurden die Ideen des Aristoteles durch die katholische Kirche im Mittelalter in einer leblosen und scholastischen Form weitergegeben, ähnlich einer in Formaldehyd konservierten Leiche. Der Aristoteles der formalen Logik und des Syllogismus wurde einseitig überliefert, aber der Aristoteles des Organon geriet in Vergessenheit.
Der logische Formalismus wird seither im Allgemeinen als ein „Kunstgriff“ verwendet, wie Kant richtig angemerkt hat, um die Realität zu meiden. Wie einst die mittelalterlichen Scholastiker vergraben sich die Anhänger dieser Richtung in den vermeintlichen „Tiefen“ der Sprachphilosophie, wo sie endlos über die Bedeutung von Wörtern streiten, so wie sich die Scholastiker mit endlosen Debatten über das Geschlecht der Engel aufhielten.
Der logische Positivismus, der die angelsächsische Philosophie im 20. Jahrhundert in verschiedenen Facetten dominierte, war ein würdiger Erbe dieser schlechten Tradition der mittelalterlichen Scholastik, die davon besessen war, Fragen der Form zu beleuchten und linguistische Haarspalterei zu betreiben. Für die Vertreter dieser Philosophie ist die Dialektik ein Buch mit sieben Siegeln. Ihre Denkweise ist völlig dogmatisch und formalistisch.
Ob wir es nun das Identitätsgesetz oder das Prinzip der Äquivalenz nennen, macht wirklich keinen Unterschied. Am Ende bleibt „A = A“ das gleiche alte formale Dogma, das von Aristoteles aufgestellt wurde. Die Formen mögen sich verändert haben, aber der Inhalt bleibt, was er immer war: eine leere Hülle, oder wie Hegel es ausdrückte „die leblosen Knochen eines Skeletts“. (G. F. W. Hegel: Wissenschaft der Logik, S. 10.)
Das Identitätsgesetz besagt sehr deutlich, dass eine bestimmte Sache sich selbst gleich (oder mit sich selbst identisch) ist. Aber, wie Trotzki betont, sind die Dinge in der materiellen Welt nie mit sich selbst identisch, weil sie sich in einem ständigen Wandel befinden – sie fliessen ständig, um Heraklits wunderbar tiefgründigen Aphorismus zu verwenden. Das Identitätsgesetz ist also bestenfalls nur eine grobe Annäherung, die einer sich ständig verändernden Realität nicht gerecht werden kann. Das ist genau die Achillesferse der formalen Logik.
Alle Versuche, den Widerspruch aus der Logik zu eliminieren, sind gleichbedeutend mit dem Versuch, den Widerspruch aus der Natur selbst zu entfernen – aber der Widerspruch ist die Grundlage für jede Form von Bewegung, das Leben und die Entwicklung. Die Idee, dass „alles fliesst“, wurde durch die Entdeckungen der modernen Wissenschaft, insbesondere der Physik, auf beeindruckende Weise bestätigt.
In den letzten 100 Jahren hat die Physik eine Vielzahl von Beweisen dafür geliefert, dass Veränderung und Bewegung grundlegende Eigenschaften der Materie sind. Friedrich Engels beschrieb im Anti-Dühring die Bewegung als „die Daseinsweise der Materie“ – eine brillante Annahme. Aber Einstein ging noch viel weiter. 1905 bewies er, dass Materie und Energie äquivalent sind.
Es ist nicht möglich, die Dynamik der Welt, in der wir leben, ohne dialektisches Denken zu verstehen. Und schon gar nicht ist es möglich, ohne ein Verständnis der Dialektik ein bewusster Revolutionär oder eine bewusste Revolutionärin zu sein, die aktiv und bewusst in den historischen Prozess eingreifen möchten. Der mit der Chaostheorie verbundene Durchbruch im wissenschaftlichen Denken bietet reichlich Beweis für diese Behauptung.
Das erste Gesetz des dialektischen Materialismus ist die absolute Objektivität der Betrachtung: nicht Beispiele, nicht Umschweife, sondern die Sache selbst. Die Grundlage all unseres Wissens ist natürlich die sinnliche Erfahrung. Ich erlebe die Welt mit meinen Sinnen und kann sie auf keine andere Weise erleben. Das ist die Essenz des Empirismus.
Die frühen Empiriker – Bacon, Locke und Hobbes – waren Materialisten. Ihre Devise lautete: Nihil est in intellectu quod non sit prius in sensu (Nichts ist im Kopf, was nicht zuerst in den Sinnen war). Ihr Beharren auf die sinnliche Wahrnehmung als Grundlage allen Wissens stellte seinerzeit, gemessen an den leeren Spekulationen der mittelalterlichen Scholastiker, einen gigantischen Sprung nach vorne dar. Damit wurde der Boden für eine schnelle Expansion der Wissenschaften, die auf empirischen Untersuchungen, Beobachtungen und Experimenten basierte, geebnet.
Doch trotz ihres ungeheuer revolutionären Charakters war diese Form des Materialismus einseitig, begrenzt und daher unvollständig. Sie neigte dazu, die Fakten isoliert und statisch zu betrachten. Im Extremfall, wie etwa bei Hume und Berkeley, führte dies zu einem subjektiven Idealismus, der die Existenz einer vom Beobachter unabhängigen, materiellen Realität leugnete. Bischof Berkeley drückte es folgendermassen aus: Esse est percipi (Sein ist Wahrgenommenwerden).
Die Aussage „Ich interpretiere die Welt mit meinen Sinnen“ ist richtig, aber sie ist einseitig. Man muss hinzufügen, dass die Welt unabhängig von meinen Sinnen existiert. Andernfalls bleibt uns der absurde Satz, dass die Welt aufhört zu existieren, wenn ich die Augen schliesse. Dieses Argument wurde von Lenin in seinem philosophischen Meisterwerk Materialismus und Empiriokritizismus umfassend widerlegt.
In Wirklichkeit wird der Erkenntnisprozess im Empirismus auf eine sehr oberflächliche und einseitige Art und Weise dargestellt. Hegel, dessen objektiver Idealismus in Widerspruch zum subjektiven Idealismus steht, hat nachzuweisen versucht, dass die Erkenntnis ein Prozess ist, der verschiedene Phasen durchläuft. Von diesen Phasen ist die sensorische Wahrnehmung die niedrigste und beschränkt sich auf die blosse Aussage „es ist“.
Aber diese elementare Vorstellung gerät sofort in eine Reihe von Widersprüchen, wenn man das zu analysierende Objekt nicht isoliert betrachtet, sondern als einen Prozess des ständigen Wandels, in dem die Dinge in ihre Gegensätze verwandelt werden können.
Der Erkenntnisprozess besteht aus zwei wesentlichen Elementen: dem denkenden Subjekt und einem Gegenstand des Denkens. In Hegels Phänomenologie des Geistes wollte der grosse Dialektiker weder die eine noch die andere Seite analysieren, sondern ihre Einheit im Prozess des Denkens demonstrieren. Das Denken selbst sollte einer Untersuchung unterzogen werden.
Allerdings hatte Hegels Methode eine innewohnende Schwäche. Als Idealist ging Hegel nicht vom realen, konkreten, sinnlichen menschlichen Denken aus, sondern von einer idealistischen Abstraktion. In Wirklichkeit denken wir nicht nur mit unserem Geist, sondern mit allen unseren Sinnen – mit unserem ganzen Körper. Was den Menschen mit der Aussenwelt (Natur) verbindet, ist nicht abstraktes Denken, sondern menschliche Arbeit, mit der er nicht nur auf die Natur einwirkt, sondern gleichzeitig auch selbst einer Veränderung unterzogen wird.
Die Möglichkeiten der sinnlichen Erkenntnis sind begrenzt. Die Erkenntnis von Phänomenen, die ausserhalb der Reichweite der Empfindung liegen, ist nur durch abstraktes Denken, durch dialektisches Denken, möglich. Der Gegenstand des Denkens hat ein ihm innewohnendes Wesen, das Sein an sich. Der Zweck des Denkens ist es, dieses „Sein an sich“ in ein „Sein für uns“ zu verwandeln, d.h. von der Unwissenheit zur Erkenntnis voranzuschreiten.
Wir kommen der Wahrheit nicht näher, indem wir einfach eine Masse von Fakten zusammensammeln. Wenn wir von „allen Tieren“ sprechen, gehen wir nicht davon aus, dass das schon die gesamte Zoologie ausmacht. In seinen Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte wies Hegel darauf hin, dass es
„allerdings das Verlangen nach vernünftiger Einsicht, nach Erkenntnis, nicht bloss nach einer Sammlung von Kenntnissen [ist], was als subjektives Bedürfnis bei dem Studium der Wissenschaften vorauszusetzen ist.“ (G.F.W. Hegel: Die Vernunft in der Geschichte, S. 30.)
Die Kraft des Denkens liegt gerade in seiner Fähigkeit zur Abstraktion, seiner Fähigkeit, Besonderheiten auszuschliessen und zu Verallgemeinerungen zu gelangen, die die wichtigsten und wesentlichsten Aspekte eines bestimmten Phänomens zum Ausdruck bringen. Der erste Schritt besteht lediglich darin, ein Gefühl für ein Ding als einzelnes Objekt zu bekommen. Dies erweist sich jedoch als unmöglich und zwingt uns, tiefer in die Materie einzutauchen, indem wir innere Widersprüche aufdecken, die den Impuls für Bewegung und Veränderung geben, in denen die Dinge sich in ihr Gegenteil verkehren.
Einführung in die revolutionäre marxistische Philosophie – Teil 2
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