Der Zweck dieses 2018 beschlossenen Dokuments ist es, eine klare Trennlinie zwischen einer Reihe idealistischer und postmoderner Ideen und dem Marxismus zu ziehen.
Die Krise des Kapitalismus hat viele tiefliegende, oppositionelle Strömungen gegen die herrschende Gesellschaft, ihre Werte, ihre Moral und ihre unerträgliche Ungerechtigkeit und Unterdrückung sichtbar gemacht. Der wesentliche Widerspruch in der Gesellschaft bleibt der Gegensatz von Lohnarbeit und Kapital. Doch die Unterdrückung nimmt viele verschiedene Formen an, von deren einige bedeutend älter und tiefer verwurzelt sind als die Lohnsklaverei.
Zu den universellsten und härtesten Unterdrückungsformen gehört die Unterdrückung der Frau in einer von Männern beherrschten Welt. Der Aufstand der Frauen gegen diese ungeheuerliche Unterdrückung im Kampf für die sozialistische Revolution ist von grundlegender Bedeutung, denn diese kann ohne die volle Teilhabe der Frauen am Kampf gegen den Kapitalismus nicht erreicht werden.
Im Lauf der Jahrhunderte hat sich die Stabilität der Klassengesellschaft in der Familie eine solide Basis geschaffen – also dadurch, dass die Frauen den Männern als Sklavinnen unterworfen wurden. Diese Form der Sklaverei ist viel älter als der Kapitalismus. Wie Engels erklärte, war die Entwicklung der patriarchalen Familie „die welthistorische Niederlage des weiblichen Geschlechts. Der Mann ergriff das Steuer auch im Hause, die Frau wurde entwürdigt, geknechtet, Sklavin seiner Lust und blosses Werkzeug der Kinderzeugung.“ (Friedrich Engels: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, S. 61.)
Diese männliche Herrschaft und die untertänige Stellung der Frauen in Gesellschaft und Familie werden jetzt in Frage gestellt, ebenso wie all die anderen barbarischen Institutionen, die wir aus der Vergangenheit ererbt haben. Warum sollten Frauen es sich weiterhin gefallen lassen, Menschen zweiter Klasse zu sein? Dass die Rolle der Frauen in Gesellschaft und Familie hinterfragt wird, hat ernsthafte revolutionäre Auswirkungen und kann dazu führen, dass die kapitalistische Gesellschaft selbst in revolutionärer Weise hinterfragt wird.
Der Verfall des senilen Kapitalismus führt zu einer wahrhaften Zerstörung der Lebensbedingungen aller ArbeiterInnen. Doch Frauen und junge Menschen werden davon besonders hart getroffen. Vielen wird der Zugang zu angemessener Arbeit und Wohnraum einfach verwehrt. Alleinerziehende und ihre Kinder werden zu Armut und einem Leben in Not verdammt. Auch nur ein Dach über dem Kopf zu haben, wird für viele Menschen schwierig oder gar unmöglich. Am Arbeitsplatz leiden Frauen unter ungleicher Bezahlung ebenso wie an allen möglichen Arten von Belästigung und Missbrauch. Die Situation ist absolut unerträglich geworden.
Die Degeneration der kapitalistischen Gesellschaft entblösst sich in krasser Weise durch die Epidemie von Gewalt gegen Frauen. In Indien, Pakistan, Argentinien, Mexiko und weiteren Ländern hat sich das in einer beispiellosen Anzahl von Entführungen, Vergewaltigungen und Morden ausgedrückt. Doch auch in Gesellschaften, die sich selbst gern als zivilisiert beschreiben, werden ähnliche Widerwärtigkeiten gegen Frauen und Kinder verübt. Das sind abstossende Anzeichen dafür, wie krank und überreif für den Sturz unsere Gesellschaft ist.
Das wachsende Gefühl von Entfremdung, Ungerechtigkeit und Unterdrückung befeuert unter Frauen eine allgemeine Widerstandsbewegung gegen die herrschenden Verhältnisse. Millionen von Frauen erwachen. Insbesondere die jüngere Generation verspürt eine glühende Empörung über die Diskriminierung, Unterdrückung und Demütigung, die ihnen in diesem ungerechten System zugemutet wird. Das ist eine zutiefst fortschrittliche und revolutionäre Erscheinung, die wir begrüssen und mit dem grössten Enthusiasmus unterstützen sollten.
Selbstverständlich sind MarxistInnen hundertprozentige UnterstützerInnen der vollständigen Befreiung der Frau. In dieser Frage kann es nicht das geringste Zögern, nicht die geringste Zweideutigkeit, nicht den geringsten Zweifel geben. Wir müssen auf allen Ebenen die Unterdrückung der Frau bekämpfen; nicht nur in Worten, sondern in Taten. Unter keinen Umständen können wir zulassen, dass der Eindruck entsteht, das wäre irgendwie eine zweitrangige Angelegenheit, die man unter die allgemeine Kategorie „Klassenkampf“ subsumieren könne. Es wäre fatal für die Sache des Marxismus, wenn Frauen glaubten, die MarxistInnen seien bereit, den Kampf um ihre Rechte auf nach dem Sieg des Sozialismus zu verschieben. Das ist völlig falsch und eine bösartige Karikatur des revolutionären Marxismus.
Es stimmt zwar, dass die völlige Befreiung der Frau (und des Mannes) erst in einer klassenlosen Gesellschaft erreicht werden kann und es stimmt ebenso sehr, dass eine solche Gesellschaft nur durch den revolutionären Sturz des Kapitalismus erreicht werden kann. Man kann Frauen nicht abverlangen, ihre unmittelbaren, drängenden Forderungen beiseite zu legen und auf die Ankunft des Sozialismus zu warten. Der Sieg der sozialistischen Revolution ist ohne den täglichen Kampf um Fortschritte im Kapitalismus undenkbar.
MarxistInnen müssen auch für die kleinsten Reformen kämpfen, die die Lebensverhältnisse der Arbeiterklasse im Kapitalismus verbessern könnten. Das hat zwei Gründe. Erstens kämpfen wir, um die ArbeiterInnen gegen die Ausbeutung zu verteidigen, um Kultur und um Zivilisation gegen Barbarei zu verteidigen. Zweitens, und wichtiger: Nur durch die Erfahrung des täglichen Kampfes kann die Klasse ihre eigene Macht spüren lernen, ihre organisatorische Macht entwickeln und ihr kollektives Bewusstsein auf die Ebene heben, die geschichtlich gefordert ist.
Wie die SektiererInnen und DogmatikerInnen zu verlangen, dass die ArbeiterInnen ihre täglichen Forderungen „im Interesse der Revolution“ verleugnen, ist der Gipfel der Dummheit. Das würde uns zu kompletter Sterilität und Isolation verdammen. Auf diesem Weg würde die sozialistische Revolution für immer eine unmögliche Illusion bleiben. Ebenso ist es eine grundlegende Pflicht aller echten revolutionären MarxistInnen, für den Fortschritt der Frau, gegen reaktionären männlichen Chauvinismus, für fortschrittliche Reformen und völlige Gleichheit auf gesellschaftlichem, politischem und wirtschaftlichem Gebiet zu kämpfen.
Am 8. März 2018 haben wir einen deutlichen Hinweis auf das revolutionäre Potential der Frauenbewegung in Spanien sehen können. 5,3 Millionen Menschen beiderlei Geschlechts folgten dem Aufruf zum Streik. Hunderttausende nahmen in ganz Spanien an Demonstrationen teil. Diese hervorragende Mobilisierung wurde unter dem Banner des Feminismus durchgeführt, drückte aber auch eine ungeheure Stimmung der Unzufriedenheit aus, die sich in der spanischen Gesellschaft anhand einer ganzen Reihe von Themen aufgebaut hat. So führten auch die PensionistInnen um diese Zeit Massendemonstrationen durch.
Im Mittelpunkt standen aber spezifische Themen der Frauenunterdrückung: Die ungleiche Bezahlung; Gewalt und Belästigung von Frauen in der Familie, am Arbeitsplatz, in der Bildung; die Last der Hausarbeit usw. Das wurde beispielhaft durch den Fall einer Gruppenvergewaltigung in Pamplona und das empörende Verhalten der rechten Richter aufgezeigt, was einen klaren Beleg für die Fäulnis und den reaktionären Charakter des ganzen spanischen Staatsapparates, der Polizei und der Justiz lieferte. All diese Institutionen wurden direkt von der Franco-Diktatur ererbt, weil der sogenannte „demokratische Übergang“ verraten wurde.
Es ist ein Grundsatz des Marxismus, dass man in jeder Massenbewegung sorgfältig die reaktionären und fortschrittlichen Elemente voneinander unterscheiden muss. Dass es in dieser ausserordentlichen Bewegung ein gewaltiges fortschrittliches Element gegeben hat, steht völlig ausser Frage. Das haben wir nicht nur halbherzig, sondern energisch und enthusiastisch unterstützt.
Es wäre aber völlig falsch und einseitig, wollte man nur diesen Aspekt der Bewegung betonen und die andere Seite ausser Acht lassen. Welche Rolle spielten die Führerinnen dieser Bewegung? Sie forderten für die Demonstration Reihen und ganze Blocks, die nur für Frauen zugelassen wären und wollten nur lila Fahnen erlauben. Dem Streik sollten nur Frauen folgen, während Männer deren Arbeiten am Arbeitsplatz übernehmen, also als Streikbrecher handeln sollten!
Das hätte den Umfang der Bewegung am 8. März bedeutend verringert und einen Generalstreik völlig unmöglich gemacht. Das widersprach den Interessen der Bewegung vollkommen und drückte offensichtlich den engen Horizont sowie die reaktionäre und spalterische Politik der bürgerlichen und kleinbürgerlichen FeministInnen aus.
Unsere spanischen GenossInnen haben in dieser Massenbewegung energisch interveniert und ihre Ideen stiessen auf viel Sympathie. Obwohl wir uns nicht als FeministInnen bezeichnen, machen wir sehr deutlich, dass wir rückhaltlos den Kampf um Frauenbefreiung unterstützen und mit denen, die gegen die Unterdrückung kämpfen, Schulter an Schulter stehen. In keiner der Demonstrationen und Meetings gab es uns gegenüber Vorurteile, wenigstens nicht von Seiten der grossen Mehrheit der Frauen, die sich als Feministinnen betrachten.
Stimmt es, dass der Feminismus keine Denkschule oder Theorie ist? Das hängt davon ab, wie man ihn betrachtet. Es stimmt vollkommen, dass die Millionen, die am 8. März unter dem Banner des Feminismus an den Streiks und Demonstrationen teilnahmen, mit den feministischen Vorurteilen der Führung nicht das Geringste zu tun hatten. Sie kämpften instinktiv gegen reaktionäre Erscheinungen, die sie mit gerechtem Zorn erfüllten. Das ist der Ausgangspunkt für revolutionäre Entwicklungen.
Doch die Führung der Bewegung lag in den Händen der bürgerlichen und kleinbürgerlichen FeministInnen, die ohne Frage eine Denkschule und eine bestimmte Ideologie repräsentieren, die nicht nur dem Marxismus, sondern wesentlich auch den Interessen des Kampfes um Frauenbefreiung selbst fundamental entgegengesetzt sind.
Heutzutage ist der Begriff des Feminismus so weit gefasst, dass er so gut wie bedeutungslos geworden ist. Plötzlich ist jeder „Feminist“. Selbst die reaktionären PolitikerInnen des PP (Partido Popular, Volkspartei) nennen sich feministisch, weil zu ihnen nämlich, wie man sieht, auch Ministerinnen gehören – deren jede genauso reaktionär und korrupt ist wie ihre männlichen Pendants.
Die Zweitauflage des PP, die Ciudadanos, bestehen ganz besonders darauf, dass sie natürlich „feministisch“ sind. Doch die Wirklichkeit dieses bürgerlichen Feminismus wurde frappant enthüllt, als der Parteichef Albert Rivera selbst klarstellte, dass sie den feministischen Streik am 8. März nicht unterstützen konnten, „weil er antikapitalistisch war“. Wir stellen ausserdem fest, dass diejenigen Politiker der Ciudadanos, die sich schliesslich dazu durchrangen, sich auf der Demonstration blicken zu lassen, von den DemonstrantInnen ausgebuht und aus der Bewegung verwiesen wurden.
Selbst unter den fortschrittlichsten Teilen gibt es alle möglichen Verwirrungen und Illusionen, die von den bürgerlichen und kleinbürgerlichen „TheoretikerInnen“ des Feminismus mit Absicht genährt werden. Ein solcher Gedanke ist der „transversale“ Charakter der Bewegung – sie soll alle Frauen einschliessen, ohne Rücksicht auf ihre Klassenzugehörigkeit, politische Ideologie usw.
Mit einer freundlichen und geduldigen Herangehensweise können wir diese Vorurteile bekämpfen und die Verwirrung entwirren. Doch wir dürfen nicht zulassen, dass die Banner vermischt werden. Um die besten Elemente zu gewinnen, ist es notwendig, zu jedem Zeitpunkt eine feste und klare marxistische Haltung zu bewahren.
Ist es für uns notwendig, uns als FeministInnen zu bezeichnen, um eine Verbindung zu dieser wichtigen Schicht aufzubauen? Alle unsere Erfahrungen deuten darauf hin, dass das nicht der Fall ist. Folgendes Beispiel ist von grossem Interesse: In Antequera (Málaga) organisierten wir eine Veranstaltung zum feministischen Streik am 8. März, auf der einige Frauen aus linken und gewerkschaftlichen Organisationen sprachen. Eine unserer Genossinnen sprach auf der Veranstaltung und erklärte, dass sie Gewerkschafterin und revolutionäre Marxistin ist, sowie die Grundzüge unseres Programms. Am Ende der Veranstaltung kam sofort eine Gruppe junger Frauen zu unserem Infotisch und wollten bei uns mitmachen. Diese jungen Frauen betrachteten sich offensichtlich als Feministinnen, hatten aber kein Problem damit, sich mit dem Programm des Marxismus zu identifizieren.
Hätten unsere GenossInnen der Bewegung gegenüber eine sektiererische und dogmatische Haltung eingenommen, hätten sie sich von solchen Frauen unzweifelhaft entfremdet. Es kommt nicht in Frage, dass MarxistInnen eine so dumme Herangehensweise wählen. Gleichzeitig müssen wir aber eine prinzipienfeste Haltung einnehmen und unmissverständlich klarstellen, dass wir MarxistInnen sind, die für Frauenrechte kämpfen und dass wir davon ausgehen, dass dieser wichtige Kampf nur erfolgreich geführt werden kann, wenn er Teil eines allgemeinen revolutionären Klassenkampfes für eine vollständige Veränderung der Gesellschaft ist.
Hier haben wir eine sehr deutliche Analogie, nämlich die Haltung der MarxistInnen zur nationalen Frage. Unterstützen wir die Forderung nach Unabhängigkeit Kataloniens vom spanischen Staat? Ja. Gleichzeitig erklären wir aber, dass auf Basis des Kapitalismus die Unabhängigkeit nichts besser machen wird. Wir stehen für die katalanische Arbeiterrepublik, die in der Zukunft Teil einer sozialistischen Föderation der iberischen Völker sein kann.
Nennen wir uns deshalb marxistische NationalistInnen? Gewiss nicht! Wir sind keine NationalistInnen, sondern proletarische InternationalistInnen. Es ist eben gerade Teil unseres revolutionär-internationalistischen Programms, den Kampf des katalanischen Volkes um Befreiung von der Bevormundung des reaktionären spanischen Staats, der verwesenden PP-Regierung und der undemokratischen Monarchie, die von Franco ererbt wurde, zu unterstützen. Doch die Phrase „marxistisch-nationalistisch“ wäre ein Widerspruch in sich.
Noch einmal: Unsere Erfahrung in Katalonien legt nahe, dass ein derart verwirrender Sprachgebrauch nicht nötig ist, um die besten und revolutionärsten Elemente der ArbeiterInnen und Jugend zu überzeugen, deren viele bereits begonnen haben, das beschränkte und reaktionäre Wesen des bürgerlichen und kleinbürgerlichen Nationalismus zu erkennen und nach einer radikaleren, revolutionären und klassenorientierten Alternative suchen.
Letztendlich haben all diese Fragen – die Frage der nationalen Unterdrückung, der Kampf um Frauenbefreiung, der Kampf gegen den Rassismus – einen Klassencharakter. Das ist die grundsätzliche Trennlinie zwischen dem Marxismus und dem Nationalismus, Feminismus sowie weiteren Erscheinungsformen des Kampfes gegen die Unterdrückung.
Die Bewegung vom 8. März unterstreicht diese Punkte. Die Massenbewegung gegen die Unterdrückung der Frau hat ein gigantisches revolutionäres Potential. Doch dieses Potential kann nur zur Gänze realisiert werden, wenn die Bewegung die engen Grenzen des bürgerlichen und kleinbürgerlichen Feminismus überschreitet und sich mit der allgemeinen Bewegung der Arbeiterklasse zur Veränderung der Gesellschaft verbindet. Unsere Aufgabe ist es, ihr bei diesem Übergang zu helfen.
Bei unserer aktiven Teilnahme an solchen Bewegungen und beim Versuch, die besten Elemente zu gewinnen, müssen wir stets scharf die Klassengegensätze hervorheben, die in all diesen Bewegungen existieren. Wir müssen uns auf das stützen, was darin fortschrittlich ist, und die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Elemente in der Führung entlarven und kritisieren.
Die Bedeutung der Theorie
Engels betonte die Bedeutung der Theorie für die revolutionäre Bewegung. Er zeigte auf, dass es nicht nur zwei Kampfformen (politisch und ökonomisch) gibt, sondern drei, wobei er dem theoretischen Kampf dieselbe Bedeutung beimass wie den zwei anderen Formen. In Was Tun stimmt Lenin ihm darin überschwänglich zu:
„Ohne revolutionäre Theorie kann es auch keine revolutionäre Bewegung geben. Dieser Gedanke kann nicht genügend betont werden in einer Zeit, in der die zur Mode gewordene Predigt des Opportunismus sich mit der Begeisterung für die engsten Formen der praktischen Tätigkeit paart.“
Lenin: Was tun?, S. 379.
Die Vorbedingung für den Aufbau einer wirklich marxistischen Internationalen ist die Verteidigung der Grundsätze des Marxismus. Unversöhnlicher Kampf gegen revisionistische Ideen aller Art gehört dazu. Solche Ideen sind im Wesentlichen Widerspiegelungen des Drucks fremder Klassen auf die Arbeiterbewegung.
Marx und Engels führten einen unermüdlichen Kampf gegen jeden Versuch, die Ideen der Bewegung zu verwässern, wobei sie die falschen Theorien unerbittlich entlarvten, die erst von den utopischen Sozialisten, dann von den Anhängern Proudhons und Bakunins und schließlich von opportunistischen Kathedersozialisten wie Dühring vertreten wurden – „kluge“ UniversitätsprofessorInnen, die unter dem Vorwand, den Marxismus „auf die Höhe der Zeit zu bringen“ versuchten, den Marxismus von seinem revolutionären Wesen zu trennen.
Von Beginn seiner revolutionären Tätigkeit an hatte Lenin solchen „jungen“ Leuten, die wie Dühring behaupteten, Marxens Ideen seien veraltet und müssten aufgefrischt werden und dabei die „Freiheit der Kritik“ einforderten, den Krieg erklärt. Er zeigte auf, dass diese sogenannte „undogmatische Haltung“ lediglich ein Vorwand war, um den revolutionären Inhalt des Marxismus durch eine opportunistische Politik der „kleinen Schritte“ zu ersetzen. Diese Strömung kristallisierte sich später als Menschewismus heraus.
Später, in den Jahren der Reaktion, die auf die Niederlage der 1905er Revolution folgten, erklang innerhalb des Bolschewismus das Echo der verzweifelten Stimmung, die Teile der Mittelschichtsintelligenz ergriffen hatte. Ein Teil der Führung (Bogdanow und Lunatscharski) begann die Modephilosophie des subjektiven Idealismus (Neokantianismus) und Mystizismus zu vertreten.
Nicht zufällig schrieb Lenin eines seiner wichtigsten philosophischen Werke, Materialismus und Empiriokritizismus, um diese Ideen zu bekämpfen. Wir weisen auch darauf hin, dass er bereit war, wegen dieser philosophischen Fragen, die mit einer ultralinken Politik zusammenhingen, mit der Mehrheit der bolschewistischen Führung zu brechen.
Vor seinem Tode führte Trotzki einen heftigen Kampf gegen eine kleinbürgerliche Strömung in der amerikanischen SWP (Burnham und Shachtman) über die Frage des Klassencharakters der Sowjetunion. Trotzki erklärte, dass ihre falsche Position, die die Verteidigung der UdSSR zurückwies, einerseits den Druck fremder Klassen (der kleinbürgerlichen Intellektuellen) und andererseits eine Ablehnung der marxistischen Philosophie (Dialektik) ausdrücken würde.
Aus diesen wenigen Beispielen geht hervor, welch wichtige Rolle der Kampf um die Theorie in unserer Bewegung immer gespielt hat. Was die IMT von all den anderen Strömungen unterscheidet, ist vor allem unsere penible Haltung zur Theorie. Im Verlauf von anderthalb Jahrhunderten hat der Marxismus ein wissenschaftliches Programm auf Grundlage der Bewegungsgesetze der kapitalistischen Wirtschaft errichtet. Das ist eine gewaltige Errungenschaft, die wir gegen jeden Angriff verteidigen müssen, ob er von rechts oder von „links“ kommen möge.
Die IMT hat in dieser Hinsicht eine stolze Tradition. Zu einer Zeit, in der viele, auch viele „KommunistInnen“, den Ideen des Marxismus den Rücken zuwandten, verteidigten wir unablässig die grundsätzlichen Ideen von Marx, Engels, Lenin und Trotzki. marxist.com geniesst für seine theoretische Klarheit einen glänzenden Ruf. Das unterscheidet uns deutlich von anderen Strömungen in der Arbeiterbewegung.
Wir haben es immer verweigert, den RevisionistInnen, die den Druck der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Ideologie widerspiegeln, Zugeständnisse zu machen. Wir bleiben immun gegen den ohrenbetäubenden Refrain, der „neue Ideen“ anstelle von Marxens „veralteten“ Ideen verlangt, die in Wirklichkeit die modernsten, die einzigen Ideen sind, die die derzeitige Krise erklären und einen Ausweg aufzeigen können.
Der Verfall der Kultur
Es gibt in der Geschichte Perioden, die von Pessimismus, Zweifeln und Hoffnungslosigkeit geprägt sind. Dann suchen die Menschen, die den Glauben an die bestehende Gesellschaft und ihre Ideologie verloren haben, nach einer möglichen Alternative, die notwendig revolutionär sein muss. Doch die zerfallende, alte Gesellschaft übt weiterhin einen immensen Einfluss aus. Sie findet keinen Halt mehr und strahlt deshalb negative Stimmungen aus, so wie eine Leiche ihren Gestank.
In ihren Jugendtagen glaubte die Bourgeoisie an den Fortschritt, weil der Kapitalismus trotz aller seiner brutalen und ausbeuterischen Eigenschaften eine sehr fortschrittliche Rolle in der Entwicklung der Produktivkräfte spielte und so die materielle Basis für eine höhere Entwicklungsstufe der menschlichen Gesellschaft, den Sozialismus, schuf.
Als die Bourgeoisie noch fähig war, eine fortschrittliche Rolle zu spielen, hatte sie eine revolutionäre Ideologie. Sie brachte grosse, originelle Denker hervor: Locke und Hobbes, Rousseau und Diderot, Kant und Hegel, Adam Smith und David Ricardo, Newton und Darwin. Doch die geistige Produktion der Bourgeoisie in der Periode ihres Niedergangs weist alle Merkmale fortgeschrittener Altersschwäche auf.
Die postmoderne Verwirrung, die heutzutage als Philosophie durchgeht, ist ein Eingeständnis des allererbärmlichsten geistigen Bankrotts. Die hochnäsigen Intellektuellen, die über die Uni-Campusse stolzieren und ihre vermeintliche Überlegenheit zur Schau stellen, behandeln die früheren Philosophen mit Verachtung. Doch die Inhaltsleere dieser sogenannten Philosophie ist derart grell, dass die postmodernen Erbsenzähler sofort auf die Grösse unbedeutender Zwerge zusammenschrumpfen, wenn man sie mit einem dieser grossen Denker vergleicht.
Der Postmodernismus lehnt die Möglichkeit geschichtlichen Fortschritts generell ab, aus dem einfachen Grund, dass die Gesellschaft, die ihn hervorgebracht hat, keines Fortschritts mehr fähig ist. Dass dieses postmoderne „Narrativ“ als neue Philosophie ernst genommen werden konnte, ist für sich genommen schon ein vernichtendes Urteil über den theoretischen Bankrott des Kapitalismus und der bürgerlichen Intelligenz in der Epoche des imperialistischen Niedergangs. Hegel drückte das so aus:
„An diesem [wenigen], woran dem Geiste genügt, ist die Grösse seines Verlustes zu ermessen.“
G. W. F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 17.
Das ist kein Zufall. Die derzeitige Epoche ist von ideologischer Verwirrung, Verrat, Zerfall und Zerstreutheit gekennzeichnet. Unter diesen Bedingungen wird die Intelligenz von einer pessimistischen Stimmung ergriffen. Für sie war der Kapitalismus gestern noch eine niemals versiegende Quelle von Karrieremöglichkeiten und garantierte einen komfortablen Lebensstandard.
Um die Banker zu retten, bereitet sich der Kapitalismus darauf vor, die restliche Gesellschaft zu opfern. Millionen sehen einer ungewissen Zukunft entgegen. Der allgemeine Ruin betrifft nicht nur die Arbeiterklasse, sondern auch die Mittelschicht, StudentInnen und ProfessorInnen, ForscherInnen und TechnikerInnen, MusikerInnen und KünstlerInnen, DozentInnen, Ärzte und Ärztinnen.
In der Mittelschicht findet eine allgemeine Gärung statt, die ihren deutlichsten Ausdruck in der Intelligenz findet. Dieser Klasse ist ihre prekäre Lage deutlich bewusst, in der sie zwischen den GrosskapitalistInnen und der Arbeiterklasse aufgerieben wird. Während sich einige Elemente darin nach links radikalisieren, wird die Mehrheit, speziell die AkademikerInnen, von Pessimismus und Unsicherheit beherrscht.
Wenn sie sagen: „Es gibt keinen Fortschritt“, dann meinen sie: „Die derzeitige Gesellschaft kann überhaupt nicht dafür garantieren, dass morgen nicht schlimmer sein wird als heute.“ Damit haben sie ganz Recht. Anstatt aber den Schluss zu ziehen, dass es nötig ist, für den Sturz dieses Systems zu kämpfen, das die Menschheit in eine ideologische Sackgasse geführt hat und die Fortexistenz von Zivilisation und Kultur massiv bedroht, kauern sie sich in einer Ecke zusammen, ziehen sich in ihr Inneres zurück und beruhigen ihr schlechtes Gewissen mit dem Gedanken: „Es gibt ja sowieso keinen Fortschritt!“
Aus diesem engstirnigen Vorurteil, dieser fehlenden Weitsicht und intellektuellen Feigheit ergeben sich zwangsläufig weitere praktische Schlussfolgerungen: Die Revolution wird zugunsten „kleiner Schritte“ (dazu zählen dann stumpfsinnige Streitereien über Wörter und „Narrative“) aufgegeben, man zieht sich in die Subjektivität zurück, man verneint den Klassenkampf, erhebt „meine“ besondere Unterdrückung über „deine“ und gelangt so schliesslich zu einer fortschreitenden Zerteilung der Bewegung bis hin zu ihrer Atomisierung.
Natürlich gibt es gewisse Unterschiede zwischen der jetzigen Situation und den Ideen, die Lenin 1908 so leidenschaftlich bekämpfte. Doch die Unterschiede beschränken sich auf die Form. Der Inhalt ist ähnlich bis identisch und die praktischen Konsequenzen sind restlos reaktionär.
Ein Zeitalter des Abfalls
Lenin war immer ehrlich, wenn es um Probleme und Schwierigkeiten ging. Seine Losung war: Sagen, was ist. Manchmal schmeckt die Wahrheit nicht sehr gut, aber wir müssen sie trotzdem immer sagen. Die Wirklichkeit sieht so aus, dass die revolutionäre Bewegung durch eine Kombination objektiver und subjektiver Umstände weit zurückgeworfen worden ist und die Kräfte des unverfälschten Marxismus zu einer kleinen Minderheit zusammengeschrumpft sind. Das ist die Wahrheit. Wer sie leugnet, betrügt nur sich und andere.
Das laute Geschrei nach einer Revision der Grundsätze des Marxismus ist in den letzten Jahrzehnten ohrenbetäubend geworden. Man sagt uns, der Marxismus sei gleichbedeutend mit „Dogmatismus“ und Stalinismus. Diese verzweifelte Suche nach „modernen Ideen“, die angeblich die „diskreditierten, alten Ideen“ des Marxismus ablösen könnten, ist alles andere als zufällig.
Die Arbeiterklasse lebt nicht abgetrennt von anderen Klassen und gerät unweigerlich unter den Einfluss fremder Klassen und ihrer Ideologien. Auch wir leben und arbeiten in der Gesellschaft und erleben ständig diese Stimmungen und diesen Druck. Die allgemeinen Stimmungen der Gesellschaft können auch in die Arbeiterklasse und ihre Organisationen eindringen. Wenn es keine allgemeine Bewegung der Klasse gibt, intensiviert sich der Druck der Bourgeoisie und insbesondere des Kleinbürgertums.
Nach der langen Periode, in der die ArbeiterInnen vorübergehend inaktiv geworden waren, drängten sich die kleinbürgerlichen Elemente in den Vordergrund und stiessen die ArbeiterInnen beiseite. Der Refrain der „Klugen“, die selbst jeden Kampfeswillen verloren haben und den ArbeiterInnen mit drängender Sorge erklären, dass die Revolution nur Tränen und Enttäuschungen bringt, übertönte die Stimmen der ArbeiterInnen.
Nach dem Untergang des Stalinismus kam es zu einer allgemeinen Stimmung der Verwirrung und der ideologischen Kapitulationen. Viele Menschen verliessen die kommunistische Bewegung. Zynismus und Skeptizismus kamen in Mode. Die linken Intellektuellen reagierten auf den Verrat der sozialistischen und kommunistischen Parteien nicht, indem sie mit dem Stalinismus und Reformismus brachen, sondern indem sie sich völlig von den Ideen des Marxismus und des revolutionären Sozialismus abwandten.
Viele, besonders die ehemaligen StalinistInnen, verliessen den Marxismus und den Kampf für den Sozialismus und zogen aus, gegen Windmühlen und für „neue Methoden“ zu kämpfen, die bislang ebenso unauffindbar sind wie der Topf voll Gold am Ende des Regenbogens. Diese alternden Zyniker halten all ihre Jugendträume von der Revolution für Dummheiten („Jugendsünden“ nennt sie der Erzrevisionist Heinz Dieterich). Man will mit der eigenen Vergangenheit abschliessen, wieder gutmachen, was man angerichtet hat und der jungen Generation davon abraten, dem Weg der Sünde zu folgen.
Die Organisationen der Arbeiterbewegung bewegten sich schrittweise nach rechts. Die MittelschichtskarrieristInnen ergriffen die Führung und stiessen die ArbeiterInnen beiseite. Das trieb viele ArbeiterInnen in die Inaktivität, wodurch sich das kleinbürgerliche Element noch weiter vergrösserte.
In solchen Perioden wird die Stimme des Arbeiters und der Arbeiterin vom reformistischen Refrain übertönt: „Erneuerung!“, „Neuer Realismus!“ und so fort. Die Ideen des Kleinbürgertums wurden vorherrschend. Klassenpolitik und revolutionärer Sozialismus galten als „altmodisch“. Anstelle des „dogmatischen“ Marxismus haben wir mannigfaltige Ideen: Pazifismus, Feminismus, Umweltschutz – jede beliebige Ideologie ausser dem Sozialismus und Marxismus.
Im Übergangsprogramm beschäftigte sich Trotzki 1938 mit einem ähnlichen Phänomen:
„Die tragischen Niederlagen des Weltproletariats während einer langen Reihe von Jahren drängten die offiziellen Organisationen in einen noch grösseren Konservatismus und trieben gleichzeitig die enttäuschten kleinbürgerlichen ‚Revolutionäre‘ auf die Suche nach ‚neuen Wegen‘. Wie immer in Zeiten des Niedergangs und der Reaktion tauchen überall Quacksalber und Scharlatane auf. Sie wollen den gesamten Gang des revolutionären Denkens revidieren. Statt aus der Vergangenheit zu lernen, ‚verwerfen‘ sie sie. Die einen entdecken die Unhaltbarkeit des Marxismus, die anderen verkünden den Zusammenbruch des Bolschewismus. Die einen machen die revolutionäre Lehre verantwortlich für die Fehler und Verbrechen derer, von denen sie verraten wurde; die anderen verdammen die Arznei, weil sie keine blitzartige und wundersame Heilung garantiert. Die Kühnsten versprechen, ein Allheilmittel zu finden und empfehlen, unterdessen den Klassenkampf einzustellen. Zahlreiche Propheten einer neuen Moral erklären sich bereit, die Arbeiterbewegung mit Hilfe einer ethischen Homöopathie zu erneuern. Die meisten dieser Apostel wurden selbst zu moralischen Invaliden, bevor sie je das Schlachtfeld betraten. So bietet man dem Proletariat als ‚neue Wege‘ nur alte Rezepte an, die schon längst in den Archiven des Sozialismus aus der Zeit vor Marx begraben liegen.“
Leo Trotzki: Das Übergangsprogramm, S. 126-127.
Mit den ultralinken Sekten, die elend am Rande der Arbeiterbewegung dahinvegetieren, steht es nicht viel besser. Sie beschwören in jedem zweiten Satz Marx, Engels und Trotzki, scheren sich aber nicht einmal darum, deren Werke herauszugeben! „Moderne“ (gar „postmoderne“) Ideen, die sie unkritisch von der Bourgeoisie und dem Kleinbürgertum übernehmen, sind ihnen lieber. Die Sekte der Mandelisten (das sogenannte Vereinigte Sekretariat der Vierten Internationale) ist das deutlichste Beispiel dafür.
Auf der anderen Seite fallen Sekten wie die TaaffistInnen (CWI) und die SWP in Grossbritannien und die Lutte Ouvrière in Frankreich zurück in den Sumpf des „Ökonomismus“, den Lenin scharf angriff. Die demagogische Marke des Workerismus, die grundsätzliche Ablehnung von StudentInnen und Intellektuellen ist bloss eine Fassade, hinter der sie ihre Verachtung für die Theorie verstecken, sowie die Ersetzung der revolutionären Politik durch praktische „Politik“ und „Tageskämpfe“. Es ist schwer zu sagen, welche Abweichung schlimmer ist.
„Tausche alte Ideen gegen neue“
Im Märchen von Aladdin verkleidet sich ein böser Zauberer als Strassenhändler und bietet glänzende neue Lampen im Tausch für alte. Aladdins Prinzessin nimmt das Angebot leichtsinnigerweise an und verliert so die Macht des Flaschengeistes. Eine unterhaltsame Geschichte, die uns lehrt: Es ist dumm, Wertvolles gegen glitzernden Plunder einzutauschen.
Es ist ironisch, dass gerade jetzt, wo die Krise des Kapitalismus den Marxismus völlig bestätigt hat, die Linken ein regelrechtes Wettrennen darum veranstalten, die marxistische Theorie über Bord zu werfen, als handle es sich nur um eine Menge Ballast. Die ehemaligen „KommunistInnen“ sprechen nicht einmal mehr vom Sozialismus und haben die Schriften von Marx und Engels auf den Müll geworfen.
Die Ideen des revolutionären Marxismus werden als altmodisch und irrelevant hingestellt. Die Mittelschichtsintellektuellen und „fortschrittlich Orientierten“ stolpern beim Versuch den Marxismus zu blamieren, über ihre eigenen Füsse. Die allgemeine Stimmung der ideologischen Verwirrung, des Hinterfragens marxistischer „Orthodoxie“ und der Ablehnung von Theorie können sich auch auf uns schädlich auswirken.
Wir sehen so etwas nicht zum ersten Mal. Diese gegenrevolutionären, reformistischen Strömungen waren immer schon in der Bewegung vertreten. Wir haben gesehen, dass Marx, Engels, Lenin und Trotzki sich alle schon mit demselben Feldzug für „neue Ideen“ auseinandersetzen mussten. Das war seit jeher der Schlachtruf aller RevisionistInnen seit Dühring und Bernstein. Wir haben uns mit einigen dieser „aktuellen Alternativen“ im Buch von Alan Woods Reformism or Revolution: Socialism of the 21st Century. Reply to Heinz Dieterich beschäftigt.
Dieses unablässige Bemühen, den Marxismus zu revidieren, widerspiegelt die Verzagtheit der älteren Generationen in der Bewegung, die vor lauter Niedergeschlagenheit wegen vergangener Niederlagen und Fehlschläge ihr schlechtes Gewissen beruhigen wollen, indem sie sich als MarxistInnen geben, die „älter und klüger“ geworden seien, da sie verstanden hätten, dass die „alten“ Ideen am Ende doch nur utopische Träume waren, die mit der heutigen Welt praktisch nichts zu tun haben.
Der einzige Zweck solcher Argumente besteht darin, die Jugend abzulenken, so viel Verwirrung wie möglich zu erzeugen und so eine Barrikade zu bilden, die der neuen Generation den Zugang zum Marxismus erschweren soll. Es handelt sich nur um das Spiegelbild der Kampagne, die die Bourgeoisie gegen Kommunismus und Sozialismus führt. Sie ist allerdings weit gefährlicher und schädlicher als jene, weil sie ihren Kampf unter falscher Flagge führt.
Ihre VertreterInnen sind radikale GegnerInnen der Revolution und des Sozialismus, wagen aber nicht, das einzugestehen – möglicherweise nicht einmal sich selbst (inwiefern sie den Unsinn, den sie schreiben, selbst glauben, mögen wohl nur ExpertInnen der Psychologie beurteilen). Sie verschleiern ihre reaktionäre, gegenrevolutionäre Botschaft unter einer dicken Schicht aus „linken“ oder „radikalen“ Phrasen, die sie für die meisten Leute unkenntlich macht. Die Ideen des Sozialismus werden verwässert, revidiert oder einfach fallen gelassen.
Die marxistische Strömung ist gegenüber dem Druck des Kapitalismus nicht immun. Die verwirrt-pessimistischen Stimmungen der Mittelschichtsintellektuellen können unter Umständen ein Echo in der marxistischen Bewegung auslösen und sich dort als ständiger Angriff gegen „orthodoxe Beschränktheit“ und ständiger Ruf nach „etwas Neuem“ manifestieren, was uns stark an den Sirenengesang von Aladdins Zauberer erinnert.
Die Gefahren der Uni- und Jugendarbeit
Revolutionäre SozialistInnen sind die wütenden Angriffe gegen den Sozialismus und Kommunismus gewohnt – nicht nur von Seiten der VerteidigerInnen des Kapitalismus und Imperialismus, sondern auch der ReformistInnen (der Linken wie der Rechten) und auch von Seiten der sogenannten radikalen kleinbürgerlichen Intelligenz, von der ein Teil den Kapitalismus bekämpfen möchte, aber nicht die leiseste Ahnung hat, wie das gehen soll.
Wir haben die Wichtigkeit der Uni- und Jugendarbeit stark betont und dies liefert uns sehr bedeutende Ergebnisse- nicht nur in Grossbritannien, sondern auch in Kanada und den USA. Wir müssen diese Orientierung auf absehbare Zeit beibehalten, aber wir müssen uns die Art und Weise ihrer Umsetzung genau überlegen.
Es stimmt, dass die Uniarbeit uns enorme Möglichkeiten eröffnet. Doch sie birgt ebenso Risiken und Gefahren. Wir müssen unsere Augen vor dieser Gefahr stets offen halten, um sehr ernsthafte Konsequenzen zu vermeiden. Wir müssen im Kopf behalten, dass die Universitäten eine fremde Umgebung voller klassenfremder Menschen sind und stark von bürgerlichen und kleinbürgerlichen Ideen beeinflusst werden.
Das studentische Milieu bleibt überwiegend bürgerlich und kleinbürgerlich, was auch Studierende aus der Arbeiterklasse beeinflusst. In vielen Fällen eifern sie nur danach, auf der sozialen Leiter aufzusteigen, sie dann wegzutreten und ihre Klasse weit zurückzulassen, während sie einer Laufbahn als ÄrztInnen, AnwältInnen oder PolitikerInnen entgegenstürmen. Vielleicht ist das nicht immer der Fall, aber es kommt nur allzu oft vor.
Die Universitäten sind ein Transmissionsriemen für die Verbreitung reaktionärer, bürgerlicher Ideen in der Gesellschaft. Sie sind regelrechte Treibhäuser, in denen die Bourgeoisie alle möglichen seltsamen und wundersamen Ideen entwickelt, um die Jugend in die Irre zu führen, zu verwirren und von der Revolution wegzulenken. Die Universitäten sind nicht „Tempel des Lernens,“ sondern Fabriken für die Massenproduktion ideologischer Verfechter des Kapitalismus.
In der Periode der Altersschwäche des Kapitalismus sind die Universitäten zu einem giftigen Sumpf geworden, in denen reaktionäre Ideen erblühen und keiner den Mut hat, sie zu konfrontieren.
Oberste Pflicht studierender MarxistInnen ist die Bekämpfung dieser Ideen – nicht nur der offen bürgerlichen Ideen, sondern auch der zehntausend verwirrten Konzepte der „radikalen“ und „fortschrittlichen“ kleinbürgerlichen Elemente, die vorgeben, gegen das System zu sein, sich aber in der Praxis auf ohnmächtige Wutausbrüche gegen dieses oder jenes Symptom beschränken.
Eine ideologische Waffe der Reaktion
Es ist auch kein Zufall, dass die VertreterInnen dieser Ideen in den späten 1980ern und 1990ern tonangebend wurden. Mit dem Rückgang des Klassenkampfes entfaltete sich eine weitläufige antimarxistische Kampagne in den Universitäten. Personen, welche in den revolutionären Bewegungen der 1970er und 1980er Jahre aktiv gewesen waren, wurden aufgenommen und zu dem Zweck, den Marxismus anzugreifen, an bequeme Stellen gesetzt.
Teilweise waren diese Ideen von der groben, offen prokapitalistischen Sorte – andere waren versteckter und hinterlistiger. Intersektionalität und Identitätspolitik waren für die „Links“intellektuellen eine bequeme Möglichkeit zur Fahnenflucht aus dem Klassenkampf und zur Abwendung vom Sozialismus, während sie weiterhin Lippenbekenntnisse über „fortschrittliche Anliegen“ abgaben.
Nicht aus Zufall werden diese Ideen heutzutage von der herrschenden Klasse im Bildungssystem gefördert. Die Queertheorie etwa lässt sich auf die Welle idealistischer und subjektivistischer Ideen (darunter der Postmodernismus) zurückführen, die sich in den letzten Jahrzehnten als Reaktion gegen den Marxismus entwickelten. Ein kürzlich veröffentlichtes CIA-Dokument namens France: Defection of the Left Intellectuals enthüllt das Entzücken des Geheimdienstes über den Rechtsschwenk der AkademikerInnen:
„Das Scheitern von Mitterands Politik und sein kurzlebiges Bündnis mit den Kommunisten hat die Ablehnung seiner Regierung seitens der Bevölkerung vielleicht beschleunigt, aber linke Intellektuelle distanzieren sich schon mindestens seit den 1970er Jahren vom Sozialismus – sowohl der Partei als auch der Ideologie. Unter Führung einer Gruppe junger Renegaten aus den Reihen der Kommunisten, die sich Neue Philosophen nannten, haben viele Intellektuelle der Neuen Linken sich vom Marxismus losgesagt und eine tiefe Abneigung gegen die Sowjetunion entwickelt. Tatsächlich ist der Antisowjetismus zum Prüfstein der Legitimität in linken Kreisen geworden, hat dabei den traditionellen Antiamerikanismus der Linken geschwächt und der amerikanischen Kultur – sogar politischen und ökonomischen Konzepten – zu neuer Beliebtheit verholfen.“ (Hervorhebung von uns)
Der Bericht fährt fort:
„Der Bankrott der marxistischen Ideologie.
Die Enttäuschung vom Marxismus als philosophisches System – Teil eines breiteren Rückzugs der Intellektuellen aller politischen Überzeugungen von jeder Politik – wurde zum Auslöser einer besonders starken und weit verbreiteten intellektuellen Desillusionierung mit der traditionellen Linken. Raymond Aaren arbeitete lange Jahre daran, seinen alten Mitbewohner während des Studiums, Jean-Paul Sartre, und mit ihm das Gedankengebäude des französischen Marxismus, zu diskreditieren. Doch diejenigen Intellektuellen, welche als Rechtgläubige angetreten waren, die marxistische Theorie in den Sozialwissenschaften anzuwenden und damit endeten, dass sie die ganze Tradition überdachten und schliesslich ablehnten, waren noch erfolgreicher darin, den Marxismus zu unterminieren.
Unter den französischen Historikern der Nachkriegszeit hat die einflussreiche Schule, die man mit Marc Bloch, Lucien Febvre und Fernand Braudel assoziiert, die traditionell-marxistischen Historiker überwältigt. Die Annales-Schule, die nach ihrer führenden Zeitschrift benannt ist, stellte die französische Geschichtswissenschaft in den 1950er- und 1960er-Jahren auf den Kopf, indem sie die bis dahin vorherrschenden marxistischen Theorien über den geschichtlichen Fortschritt herausforderte. Obwohl viele ihrer Vertreter weiterhin behaupten, dass sie der ‚marxistischen Tradition‘ angehören, meinen sie damit nur, dass sie den Marxismus kritisch als Ausgangspunkt nehmen, um zu versuchen, die tatsächlichen Muster in der Sozialgeschichte zu entdecken. Zum Grossteil sind sie zu dem Schluss gekommen, dass das marxistische Verständnis von der Struktur der Vergangenheit – von gesellschaftlichen Beziehungen, von Ereignismustern und deren langfristigem Einfluss – verkürzt und ungültig ist. Auf dem Gebiet der Anthropologie hat die einflussreiche strukturalistische Schule rund um Lévi-Strauss, Foucault und weitere de facto dieselbe Mission erfüllt. Obgleich die strukturalistische Methode ebenso wie die Annales-Methode zuletzt in Bedrängnis geraten ist (Kritiker werfen ihnen vor, sie seien für Laien zu schwer zu verstehen), gehen wir davon aus, dass ihre kritische Vernichtung des marxistischen Einflusses sowohl in Frankreich als auch in Deutschland als bedeutender Beitrag zur modernen Wissenschaft andauern wird.“
In ähnlicher Weise unterstützte die CIA im Geheimen eine Reihe „antitotalitärer“ Publikationen, darunter Partisan Review, den Monat (in dem unter anderem Artikel von Adorno und Arendt erschienen), Mundo Nuevo und dergleichen. Diese Zeitschriften einigte der rote Faden der Verteidigung des „Intellektuellen“ gegenüber dem Klassenkampf.
Aus den Händen eben dieser Intellektuellen erwuchsen die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Ideen, die heute auf den Universitäten vorherrschend sind. Foucault gilt als Vater der Queer Theorie. Als der Klassenkampf zum Erliegen kam, nachdem ihn die FührerInnen unzählige Male verraten hatten, schlossen diese Damen und Herren daraus, der Fehler liege im Klassenkampf und der Arbeiterklasse, nicht in deren Führung. Sie passten ihre „Philosophie“ einfach den Interessen der Bourgeoisie und der Bürokratie der Arbeiterbewegung an. In ihren Köpfen wurde der Klassenkampf in eine unendliche Menge individueller Kämpfe ohne gemeinsame Eigenschafen aufgelöst.
Wenn sie den Klassenkampf anerkannten, dann massregelten sie die Arbeiterklasse für ihre angebliche „Rückständigkeit“ und forderten eine Änderung des „Diskurses“ anstelle einer mutigen Initiative der feigen FührerInnen an der Spitze der Bewegung. Im CIA-Bericht sehen wir, dass die herrschende Klasse weit davon entfernt war, sich von irgendeiner dieser Ideen bedroht zu fühlen, sondern sie stattdessen aus ganzem Herzen begrüsste, weil sie in ihnen wertvolle Werkzeuge im ideologischen Kampf gegen den Marxismus sah.
Die „Intersektionalität“ und die „Identitätspolitik“
Zu den Spielarten der Identitätspolitik, die das radikale Kleinbürgertum in der allerletzten Zeit beschäftigt haben, gehört das Konzept der „Intersektionalität“. Das ist nicht bloss eine geringfügige Abweichung oder Verwirrung wohlmeinender Leute, sondern eine komplett rückwärtsgewandte, reaktionäre und konterrevolutionäre Ideologie, die wir mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpfen müssen.
Die herrschende Klasse hat immer versucht, in der Arbeiterklasse für Spaltungen zu sorgen. Damit folgt sie der uralten Taktik: „Teile und herrsche“. Sie nutzt jede Möglichkeit, die ArbeiterInnen gegeneinander aufzuhetzen: Rassismus, die nationale Frage, die Sprache, das Geschlecht, die Religion: Alle sind sie verwendet worden; und werden es immer noch, um die Arbeiterklasse zu spalten und sie vom Klassenkampf zwischen Arm und Reich, zwischen AusbeuterInnen und Ausgebeuteten abzulenken.
Das ist in der Linken fast jedem klar. Im Kampf gegen Rassismus, Sexismus und andere Unterdrückungsformen, die es in der Gesellschaft gibt, ist es möglich, in das entgegengesetzte Extrem zu verfallen, den Klassenstandpunkt zu verlassen und das Spiel der herrschenden Klasse mitzuspielen, indem man das, was uns unterscheidet, über alles andere stellt, die Wurzeln der Unterdrückung ignoriert und die spezifischen Interessen dieser oder jener Gruppe in einer Form verficht, die dem vereinten Klassenkampf schadet.
Die meisten Leute, die sich auf spezifische Unterdrückungsformen konzentrieren, neigen dazu, die wirkliche Grundlage der Unterdrückung zu ignorieren: Die Klassengesellschaft selbst. Sie sind gegen jeden Versuch, die Arbeiterklasse im revolutionären Kampf gegen das Kapital zu vereinen und bestehen darauf, sich auf dieses oder jenes Thema zu konzentrieren. Das führt zu extrem negativen Resultaten.
In einer steigenden Anzahl von Fällen verstecken sich Universitätsdirektionen und Studentenorganisationen hinter der „politischen Korrektheit“ und dem vorgeblichen Wunsch, auf die Befindlichkeiten gewisser Menschen einzugehen und niemanden zu verletzen, um in Wirklichkeit eine frappierende Diskriminierung und Zensur zu betreiben und gewissen Menschen das Wort zu verbieten – nicht nur RassistInnen und FaschistInnen, sondern auch immer öfter Linken.
Folgendes Beispiel aus Kanada reicht aus, um die konterrevolutionäre Aktivität dieser Gruppen offenzulegen. Nach den Wahlen in den USA versuchten einige Jugendliche in Toronto spontan über Facebook eine Anti-Trump-Demo zu organisieren. Diese jungen Leute wurden daraufhin sofort einem Sturm von Beleidigungen von Seiten der Identitätspolitik-AnhängerInnen ausgesetzt, die sie in den übelsten Begriffen anklagten, weil auf ihrer Bühne keine schwarze Person sprach usw. usf. Im Ergebnis dessen fühlten sich die jungen Leute eingeschüchtert, wurden demoralisiert und aus der Bewegung vertrieben. Das ist kein Einzelfall, sondern vollkommen typisch für die reaktionäre Taktik dieser Strömung.
Es ist an der Zeit, die Dinge beim Namen zu nennen und klar zu sagen, dass die Identitätspolitik und aller damit verwandter Unsinn, der in den letzten Jahren den Kopf erhoben hat, eine offensichtlich reaktionäre Strömung repräsentiert, die mit äusserstem Elan bekämpft werden muss.
Die nationale Frage
In gewisser Hinsicht lässt sich die sogenannte Identitätspolitik mit der nationalen Frage vergleichen. Natürlich hat jeder Vergleich seine Grenzen. Hier aber drängt er sich auf und lässt sich einfach formulieren. MarxistInnen sind gegen und bekämpfen jede Form der Unterdrückung und Diskriminierung, ob auf Basis der Nationalität, des Geschlechts, der Volkszugehörigkeit, Sprache, Religion oder sonst irgendetwas. Und das reicht völlig aus.
MarxistInnen verteidigen unterdrückte Nationen gegen mächtige und räuberische imperialistische Staaten. Wir sind gegen jede Form der Unterdrückung. Das ist unser Ausgangspunkt. Doch mit diesen Elementarsätzen ist man der nationalen Frage noch keineswegs auf den Grund gegangen. Nach A, B und C folgen weitere Buchstaben im Alphabet.
Marx erklärte, dass die Frage der Arbeit immer die wichtigste Frage ist und dass die nationale Frage ihr immer untergeordnet ist. Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen ist kein absolutes Recht, das ausserhalb von Raum und Zeit bestünde. Es ist dem allgemeinen Interesse der internationalen proletarischen Revolution immer untergeordnet. Lenin betonte diesen Gedanken oftmals. Der Kampf der Arbeiterklasse gegen den Kapitalismus verlangt die völlige Solidarität und die grösstmögliche Einheit der ArbeiterInnen aller Nationen.
Im Kampf gegen jede Ausdrucksform der nationalen Unterdrückung oder Diskriminierung ist es notwendig, den Versuchen der bürgerlichen und kleinbürgerlichen NationalistInnen entgegenzutreten, die ArbeiterInnen ihren spezifischen Interessen und ihrer spezifischen Politik unterzuordnen.
In Über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen schrieb Lenin 1914:
„Dem Lohnarbeiter, der sich seiner Klasseninteressen bewusst geworden ist, sind die staatlichen Privilegien der grossrussischen Kapitalisten ebenso gleichgültig wie die Versprechungen der polnischen oder ukrainischen Kapitalisten, die das Paradies auf Erden verheissen, wenn sie selbst staatliche Privilegien erlangen. Die Entwicklung des Kapitalismus schreitet fort und wird fortschreiten, so oder anders, in einem bunten Einheitsstaat wie in gesonderten Nationalstaaten.“
Lenin: Über das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, S. 428.
Es ist allgemein bekannt, dass Lenin konsequent für das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung bis hin zur Lostrennung eintrat. Das ist aber nur eine Seite der Gleichung. Lenin verteidigte auch die Einheit der Arbeiterklasse und ihrer Organisationen und stellte sich jedem Vorschlag, Arbeiterorganisationen für bestimmte Nationen (oder sollten wir sagen nach den Vorstellungen der Identitätspolitik) entgegen.
In seinen Schriften zur nationalen Frage bestand Lenin nicht nur auf das Recht der Nationen auf Selbstbestimmung bis hin zur Lostrennung. Er betonte auch, dass die MarxistInnen zwischen sich selbst und den kleinbürgerlichen NationalistInnen und DemokratInnen einen klaren Trennungsstrich ziehen müssen:
„Zweitens vollzieht sich bei uns der unvermeidliche Kampf für die Loslösung der proletarischen Demokratie von der allgemein-bürgerlichen und der kleinbürgerlichen – im Grunde der gleiche Kampf, wie ihn alle Länder durchgemacht haben unter den Bedingungen des vollen theoretischen Sieges des Marxismus im Westen und bei uns. Deshalb ist dieser Kampf seiner Form nach weniger ein Kampf für den Marxismus als vielmehr ein Kampf für oder gegen die kleinbürgerlichen Theorien, die sich mit ‚beinahe marxistischen‘ Phrasen tarnen.“
Lenin: Das nationale Programm der SDAPR, S. 535f.
Wir werden immer die Rechte der unterdrückten Nationen gegen ihre Unterdrücker verteidigen. Das heisst aber nicht, dass wir die Zumutungen der Bourgeoisie unterdrückter Nationen akzeptieren, oder die Interessen der Arbeiterklasse ihren Forderungen unterordnen müssen – im Gegenteil. Die Arbeiterklasse in einer unterdrückten Nation hat vor allem die Pflicht, unversöhnlich gegen ihre eigene Bourgeoisie zu kämpfen, ihre Demagogie zu entlarven und sich allen Versuchen zu widersetzen, die ArbeiterInnen der unterdrückten Nationen „ihrer“ Bourgeoisie unterzuordnen.
Im Selbstbestimmungsrecht der Nationen (geschrieben Februar-Mai 1914) schrieb Lenin
„Die Bourgeoisie stellt stets ihre eigenen nationalen Forderungen in den Vordergrund. Sie stellt sie bedingungslos. Für das Proletariat sind sie den Interessen des Klassenkampfes untergeordnet.“ (S. 413.)
Im zaristischen Russland litten jüdische Menschen unter der allerempörendsten Unterdrückung. Die jüdischen ArbeiterInnen waren doppelt unterdrückt – als ArbeiterInnen und als JüdInnen. Die Bolschewiki forderten volle Rechte für die JüdInnen und kämpften mit der Waffe in der Hand gegen antisemitische Pogromstifter. Doch mit aller Deutlichkeit bekämpfte Lenin die Versuche des jüdischen Bundes, in der SDAPR einen Sonderstatus zu erlangen. Er bestritt ihr Recht, allein für die jüdischen ArbeiterInnen zu sprechen. Er sagte, solche Behauptungen zu akzeptieren, komme einer Abweichung von der proletarischen Politik und einer Unterordnung der ArbeiterInnen unter die Politik der Bourgeoisie gleich. Die BundistInnen waren empört und griffen Lenin für seine angebliche Rücksichtslosigkeit gegenüber den Problemen des jüdischen Volkes an, doch Lenin zuckte nur mit den Schultern. Die Prinzipien der proletarischen Klasseneinheit und des Internationalismus waren wichtiger als die nationale Frage.
Ziehen wir einen Vergleich zwischen Lenins Haltung zur nationalen Unterdrückung und der Frage der Identitätspolitik im Allgemeinen und dem Feminismus im Besonderen. Wie die bürgerlichen NationalistInnen verlangen die bürgerlichen und kleinbürgerlichen FeministInnen kategorisch, die Geschlechterfrage müsse allem anderen gegenüber überwiegen und Frauen der Arbeiterklasse müssten sich vor allen Dingen mit allen anderen Frauen identifizieren – vor allem mit den „klugen“ bürgerlichen und kleinbürgerlichen, intellektuellen Frauen, die die feministische Bewegung unter Kontrolle haben.
Wir beantworten diese unablässige Forderung folgendermassen: Wir werden kämpfen, um die Frauenrechte zu verteidigen. Doch wir sind nicht bereit, uns der Führung bürgerlicher und kleinbürgerlicher Frauen zu unterwerfen, die unter dem Vorwand, für die Rechte „aller Frauen“ zu kämpfen, lediglich ihr eigenes Interesse verfolgen. Die Interessen der Frauen der Arbeiterklasse sind grundsätzlich dieselben wie jene der Männer der Arbeiterklasse. Alle werden sie von den BankerInnen und KapitalistInnen unterdrückt, und es macht für sie keinen Unterschied, ob diese Banker und Kapitalisten Männer oder Frauen sind.
Frauen der Arbeiterklasse sind nicht nur als ArbeiterInnen, sondern auch als Frauen unterdrückt und sind mit besonderen Fragen konfrontiert, die in unseren programmatischen Forderungen zur Sprache kommen müssen. Doch wir können es bürgerlichen und kleinbürgerlichen Elementen nicht zutrauen, für die Forderungen von Frauen der Arbeiterklasse zu kämpfen, weil ihre Interessen letzten Endes nicht zusammenfallen und sich gegenseitig ausschliessen.
Im Fall der nationalen Frage drückte sich der Gegensatz zwischen Arbeitern und Bauern und der nationalen Bourgeoisie oft als Bürgerkrieg aus. Wie verhielten sich die Bolschewiki zu solchen Fällen? Nehmen wir ein spezifisches Beispiel aus der russischen Revolution. War die nationale Bewegung in Finnland fortschrittlich oder reaktionär? Die Bolschewiki gaben den unterdrückten Nationalitäten, die FinnInnen und PolInnen mit eingeschlossen, das Recht auf Selbstbestimmung. Das ist aber nur die halbe Geschichte. In Finnland gab es einen Bürgerkrieg zwischen Bolschewiki und Weissen, deren letztere unter dem Banner der finnischen Unabhängigkeit kämpften.
Es unterliegt überhaupt keinem Zweifel, dass die Bolschewiki – hätten sie über ausreichende militärische Kräfte verfügt – in Finnland interveniert hätten, um die bürgerlichen NationalistInnen niederzuschlagen und die ArbeiterInnen zu unterstützen. Der Sieg der finnischen ArbeiterInnen hätte nicht zur Unabhängigkeit, sondern zum Beitritt Finnlands zur Republik der Sowjets geführt.
Trotzki schrieb einmal, der Nationalismus der Unterdrückten könne „die äussere Hülle eines unreifen Bolschewismus“ sein. Das ist völlig zutreffend – unter gewissen Umständen! Doch es trifft nicht immer zu. Der Nationalismus der unterdrückten Nationalitäten kann die äussere Hülle eines unreifen Bolschewismus sein – doch ebenso gut auch die äussere Hülle eines beginnenden Faschismus. Es hängt von den konkreten Bedingungen ab.
Die Politik der Spaltung
Es besteht überhaupt kein Zweifel daran, dass Rassismus in der kapitalistischen Gesellschaft ein wichtiges Thema ist. Die herrschende Klasse hat ihn immer genutzt, um die Arbeiterklasse zu spalten und zu schwächen und eine gesellschaftliche Gruppe auf Grundlage von Abstammung, Hautfarbe, Sprache und so weiter gegen die andere aufzuhetzen. Der Kampf gegen alle Spielarten des Rassismus ist für MarxistInnen, die immer nach der grösstmöglichen Einheit der Arbeiterklasse in ihrem Kampf gegen das Kapital streben, deshalb eine Priorität.
In keinem fortgeschrittenen kapitalistischen Land ist der Kampf gegen den Rassismus so wichtig wie in den USA. Die Black-Lives-Matter-Bewegung drückt den Wunsch von Millionen schwarzer Menschen aus, sich gegen Polizeigewalt, Diskriminierung und Rassismus zu wehren. Das ist absolut fortschrittlich und muss unterstützt werden.
Die Tendenz aber, dieses Phänomen zu „theoretisieren“, hat zu Übertreibungen geführt, die negative Konsequenzen haben können, insbesondere für den Kampf schwarzer AmerikanerInnen für deren Rechte. MarxistInnen kämpfen gegen Rassismus und Polizeigewalt, doch wir sind keinesfalls verpflichtet, eine einseitige und falsche Ideologie zu akzeptieren, die diesen Kampf nicht nur in keiner Weise voranbringt, sondern alles tut, um ihn zu behindern und zu schwächen.
Zweifellos gibt es zahlreiche Arten der Unterdrückung neben der Klassenausbeutung, darunter Rassismus, Sexismus, Homophobie und dergleichen. Als MarxistInnen nehmen wir jede Form von Unterdrückung zur Kenntnis und kämpfen dagegen. Das Problem an der Intersektionalität ist, dass sie betont, was uns trennt und nicht, was uns verbindet. Sie konzentriert sich auf die unendlichen Kombinationen verschiedener Formen der Unterdrückung und sogenannter „Privilegien“, die jede einzelne Person erleben mag, und argumentiert deshalb, wir hätten alle verschiedene Interessen. Das hetzt verschiedene unterdrückte Gruppen und Schichten der Arbeiterklasse gegeneinander auf, anstatt den kollektiven, radikalen Klassenkampf voranzubringen, der notwendig ist, um Unterdrückung zu bekämpfen und Klassenausbeutung zu beenden.
Laut der prominenten intersektionalen Feministin Patricia Hill Collins, besitzen
„alle Gruppen unterschiedliche Abstufungen von Bestrafung und Privileg“ und „abhängig vom Kontext kann ein Individuum UnterdrückerIn, ein Mitglied einer unterdrückten Gruppe oder gleichzeitig UnterdrückerIn und UnterdrückteR sein“
Patricia Hill Collins: Black Feminist Thought, S. 225, eigene Übersetzung.
Sie bedient sich des Beispiels von weissen Frauen, die aufgrund ihres Geschlechts bestraft werden, aber durch ihre Ethnie bevorzugt sind. Das Problem dieser Ansicht liegt darin, dass sie suggeriert, dass wenn eine Person keine Form von Unterdrückung erfährt, sie stattdessen Unterdrücker ist und Interesse an der Beibehaltung der Unterdrückung von anderen hat. Dieser Fokus auf das Individuum als hauptsächlicher Verursacher von Unterdrückung hilft lediglich, die Kämpfe der Unterdrückten weiter zu zersplittern. Zudem hat keine Schicht der Arbeiterklasse ein Interesse daran, die Unterdrückung eines anderen beizubehalten – Ganz im Gegenteil.
Anstatt alle Unterdrückten im gemeinsamen Kampf gegen den Kapitalismus und den bürgerlichen Staat zu vereinen, wollen die „IntersektionalistInnen“ den Kampf in seine kleinsten Einzelteile aufspalten: schwarze Frauen gegen schwarze Männer, schwarze behinderte Frauen gegen schwarze nichtbehinderte Frauen usw. Indem sie auf diese Weise alles auflösen und abspalten, spalten sie die Bewegung, lenken von den hauptsächlichen Fragen ab und hetzen verschiedene unterdrückte Gruppen gegeneinander auf.
So wird jeder abgetrennte Teil aufgefordert, unsere Rechte gegen eure durchzusetzen. Die Bewegung zerfällt so in immer kleinere Teile. Währenddessen reiben sich die wahren UnterdrückerInnen, die BankerInnen und KapitalistInnen, die Medienmogule und PolizeichefInnen, die Reaktionäre und RassistInnen die Hände und sehen mit Entzücken zu, wie die Bewegung ihre Energie auf zehntausende sinnlose Streitereien und Konflikte verschwendet.
So attackieren einige AktivistInnen andere AktivistInnen wegen deren angeblicher Stellung in der „Privilegienhierarchie“. Schwarze Männer sind also schwarzen Frauen gegenüber „privilegiert“ usw. Die Liste ist endlos und das zwangsläufige Ergebnis ist die Atomisierung der Bewegung in tausend Teile. Anstatt den gemeinsamen Feind zu bekämpfen, soll jeder Teil der Unterdrückten sich auf die eigene Unterdrückung konzentrieren und gegen jeden anderen Teil der Unterdrückten argumentieren.
Wäre das Kräfteverhältnis anders gewesen, wäre das Recht der FinnInnen auf Selbstbestimmung völlig den Interessen der proletarischen Weltrevolution untergeordnet gewesen. Leider verfügte die Sowjetrepublik noch nicht über die Rote Armee und so wurde die finnische Revolution von den Weissen besiegt. In diesem Fall wäre es äusserst reaktionär zu behaupten, der finnische Nationalismus sei die äussere Hülle eines unreifen Bolschewismus gewesen. Man könnte viele ähnliche Beispiele anführen.
Rassismus und Identitätspolitik
Die USA sind ein unglaublich vielfältiges Land, was sie teilweise ihrer langen und brutalen Geschichte von Kriegen, Eroberungen und Sklaverei verdanken. Als der junge amerikanische Kapitalismus noch an sich und seine Zukunft glaubte, liess er auf die Freiheitsstatue gravieren: „Gebt mir eure Müden, eure Armen, eure bedrängten Massen, die sich danach sehnen, frei zu atmen.“ Das hat sich in sein Gegenteil verwandelt. Die Altersschwäche des amerikanischen Kapitalismus findet in der reaktionären, engstirnigen und fremdenfeindlichen Politik Donald Trumps ihren deutlichen Ausdruck. Die America First-Politik bedeutet einen Versuch, zu einer Zeit, in der es den USA unmöglich ist, sich von der übrigen Welt und damit von der weltweiten Krise des Kapitalismus zu lösen, zur alten Politik des Isolationismus zurückzukehren.
Trumps reaktionäre Demagogie soll die ArbeiterInnen verwirren, indem sie Arbeitslosigkeit und Armut MigrantInnen und AusländerInnen anlastet. Der Rassismus verstärkt sich ebenso wie die Angst der MigrantInnen und Nichtweissen. In diesen Schichten kann die Identitätspolitik auf Sympathie stossen. Das ist ganz verständlich. Doch wie immer wird auch hier eine richtige Idee in ihr Gegenteil verwandelt, wenn man sie zu weit treibt.
In den USA hat die „Identität“ eine lange Geschichte – länger als die Identitätspolitik. Der Begriff der Identität in dem Sinne, dass man sich als irisch-amerikanisch, italienisch-amerikanisch, jüdisch-amerikanisch und dergleichen versteht, wurde verwendet, um die irisch-amerikanischen ArbeiterInnen dazu zu bringen, sich mit den irisch-amerikanischen Bossen zu solidarisieren, die italienisch-amerikanischen ArbeiterInnen mit den italienisch-amerikanischen Bossen, die jüdisch-amerikanischen ArbeiterInnen mit den jüdisch-amerikanischen Bossen und neuerdings auch schwarze und Latino-AmerikanerInnen mit schwarzen und Latino-Bossen. So wurden ArbeiterInnen auf reaktionäre Weise nach ihrer ethnischen Herkunft gespalten und die Arbeiterklasse als Ganze geschwächt.
Dennoch ist es verständlich und gerechtfertigt, wenn eine junge schwarze Person – angesichts des institutionellen Rassismus, der schwarze Menschen über Generationen verachtet und ihnen im Land ihrer Geburt jegliche Teilhabe an Geschichte und Kultur verwehrt hat – ihre Identität verteidigen und stolz darauf sein möchte. Ebenso sind einige indigene Gruppen in Lateinamerika stolz darauf, indigen zu sein und wollen ihre Sprache und Kultur verteidigen, weil sie die Ausbeutung und Unterdrückung leid sind.
Selbstverständlich müssen MarxistInnen jeder Diskriminierung und Unterdrückung von Menschen wegen ihrer sexuellen Orientierung, Abstammung oder Geschlechtsidentität aktiv entgegentreten und für die Abschaffung aller reaktionären Ehegesetze und dergleichen kämpfen. Das ist untrennbar mit dem allgemeinen Kampf gegen die Rechten und die Kapitalistenklasse verbunden. Die MarxistInnen entlarven jede Unterdrückung und Ungerechtigkeit, die der Kapitalismus hervorbringt, egal wer darunter leidet. Alle Übel des Kapitalismus, von der Frauenunterdrückung über Umweltkatastrophen bis hin zur Unterdrückung kleiner Nationalitäten erfüllen uns mit Zorn auf dieses System. Ein Angriff auf einen ist ein Angriff auf alle. Der Marxismus ist eine allumfassende Theorie zur Befreiung der Menschheit. Er stellt die Arbeiterklasse an die Spitze dieses Kampfes, weil sie die revolutionärste unterdrückte Klasse der Gesellschaft ist, eine besondere Rolle in Produktion und Gesellschaft hat und weil sie ein direktes Produkt des kapitalistischen Systems ist. Die führende Rolle der Arbeiterklasse im Kampf gegen alle Arten der Unterdrückung ergibt sich auch aus ihren eigenen Lebensbedingungen, die in embryonaler Form die zukünftigen Elemente einer sozialistischen Gesellschaft enthalten, die die Spaltung der Gesellschaft in Klassen, die Unterdrückung eines Volks durch ein anderes und natürlich die Unterdrückung der Frauen durch Männer beseitigt.
Diese aktive Solidarität ist völlig unvereinbar mit der Vorstellung von „Bündnisarbeit“ (allyship), welche der Beharrung der Identitätspolitik auf das Primat der subjektiven Erfahrung entspringt. Weil argumentiert wird, dass nur jene, die eine Form der Unterdrückung erlebt haben, diese verstehen und bekämpfen können, werden diejenigen, die für die Lage der Unterdrückten und marginalisierten Gruppen Mitgefühl empfinden, in eine zweitrangige Position als passive UnterstützerInnen verbannt.
Doch die sogenannte Identitätspolitik schadet der Sache der Frauen, Schwarzen, MigrantInnen, Indigenen und LGBT-Personen. Sie vertieft die rassistischen Spaltungen, die sie zu überbrücken vorgibt, sabotiert die Redefreiheit und macht eine vernünftige Debatte unmöglich. Politische DemagogInnen und kleinbürgerliche FanatikerInnen, die Argumente durch schrille Anklagen ersetzen, schreien jeden nieder, der ihre „politische Korrektheit“ in Frage zu stellen wagt. Eine hysterische Atmosphäre entsteht.
Diese Leute unterstellen, dass politische und gesellschaftliche Probleme sich auf die Probleme unterdrückter Gruppen herunterbrechen lassen. Sie scheinen zu glauben, dass Forderungen nach ethnischer und Geschlechtergerechtigkeit alle Probleme lösen werden. In Wirklichkeit sind die Probleme unterdrückter Minderheiten ein Ausdruck der tiefen Widersprüche des Kapitalismus und nicht deren Ursache. So lenken diese Forderungen die Aufmerksamkeit von den realen Problemen ab und endlose Verwirrungen und Spaltungen werden hervorgerufen. Diese Leute beschuldigen die MarxistInnen, den Kampf der Unterdrückten zu ignorieren. Sie sagen, wir warten auf eine Revolution, die alle Probleme lösen wird, und haben für hier und jetzt keine Antworten. Nichts könnte falscher sein. Wir schlagen zur Bekämpfung der Unterdrückung Klassenkampfmethoden vor. Wir sind für eine Taktik der Massenaktion gegen jede Ungerechtigkeit. Es sind die VertreterInnen der reformistischen Identitätspolitik, die mit Quoten und Gesetzesfragen herumalbern, ohne die Struktur des Kapitalismus anzugreifen. Sie stiften Verwirrung und zerteilen die Menschen in immer kleinere Gruppen, die machtlos sind, sich gegen die wirkliche Quelle der Ausbeutung und Unterdrückung zur Wehr zu setzen. Wir erklären einfach nur, dass die Probleme der Unterdrückten die tiefen Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft ausdrücken und, dass es absolut utopisch ist, zu glauben, man könne diese Probleme völlig lösen, während die Klassensklaverei bestehen bleibt. Nur die allumfassende Einheit der Ausgebeuteten und Unterdrückten kann gegen die Unterdrückung kämpfen und den Weg zum Sturz des kapitalistischen Systems freimachen.
Anstatt eines Massenkampfes sehen wir kleine AktivistInnengrüppchen, die ihre eigenen isolierten Kämpfe über spezifische Fragen führen – Doch damit nicht genug. Führt man den Gedanken zu seinem logischen Ende, ist jede Organisation unmöglich, weil selbstverständlich jedes Individuum einzigartig ist und den Kapitalismus auf seine eigene, einzigartige Weise erlebt. Dabei von „Allies“ [Verbündeten] und Zusammenarbeit zu reden, ist nur eine Tarnung für den spalterischen Ansatz, den sie vertreten.
Ein Beispiel für die absurden Extreme, zu denen diese Ideen führen, ist der Aufruhr, der neuerdings über die Transphobie radikaler Feministinnen wie Julie Bindel, Germaine Greer und andere veranstaltet wird. Diese Feministinnen haben eine Reihe provokanter Aussagen über Transfrauen getätigt, in denen sie ihnen im Grunde genommen vorwerfen, „keine richtigen Frauen“ zu sein. Das ist ein Ausdruck der Besessenheit der Identitätspolitik davon, unbedingt definieren zu wollen, in welche Kategorie jemand gehört. Anstatt Ideen, mit denen sie nicht übereinstimmen, politisch herauszufordern, antworten außerdem beide Seiten mit Boykott, dem Verbieten von ‚Plattformen‘ für die Ideen, Protesten und Hooligan-Methoden, die Veranstaltungen verhindern und Debatten verhindern.
Wenn es stimmt, dass jeder Teil der Unterdrückten die Unterdrückung in unterschiedlicher Weise erlebt, dann kann man genauso gut sagen, dass jedes einzelne Individuum die Welt unterschiedlich erlebt und dass deshalb niemand sonst meine Probleme verstehen kann, die mein persönliches Eigentum sind. Und so führt uns dieses Argument gleich wieder zurück in den philosophischen Sumpf des subjektiven Idealismus, den Lenin in Materialismus und Empiriokritizismus so vollumfänglich zerschlagen hat. Der subjektive Idealismus, der der Intersektionalität innewohnt, zeigt sich in seiner stumpfesten Form in folgender Aussage von Patricia Hill Collins:
„Die übergreifende Herrschaftsmatrix umfasst mehrere Gruppen mit unterschiedlichen Erfahrungen von Bestrafungen und Privilegien, die entsprechende Teilperspektiven hervorbringen … Keine Gruppe hat dabei, auf sich gestellt, klare Sicht. Keine Gruppe besitzt an sich die Theorie oder Methode, die ihr gestatten würde, die absolute ‚Wahrheit‘ zu entdecken.“
Die Trennung vom Klassenstandpunkt
In den Artikeln und Reden der AnhängerInnen der „Intersektionalität“ werden die Klassen nur selten erwähnt (von der Arbeiterklasse ganz zu schweigen).
Wenn die Klasse dann doch einmal erwähnt wird, spricht man darüber nicht auf marxistische Weise, sondern erwähnt sie als Diskriminierungsform („Klassismus“) – eine von vielen und dabei keineswegs die wichtigste. Die Arbeiterklasse ist nicht länger die Produzentin allen Reichtums, die im Produktionsprozess ausgebeutet wird, sondern nur eine weitere Kategorie von Menschen, die „diskriminiert“ werden: Ein weiterer trauriger Fall von Ex-Linken, die sich vom Standpunkt des Kommunismus und der sozialistischen Revolution völlig getrennt haben.
Anstatt die Wurzel der Unterdrückung in der Klassengesellschaft, im Kapitalismus und der ökonomischen Herrschaft der BankerInnen und KapitalistInnen ausfindig zu machen, versuchen die „IntersektionalistInnen“ sie im Sozialverhalten der Menschen und in ihrem Sprachgebrauch zu entdecken. Ihrer Ansicht nach ist die Frauenunterdrückung heute nicht das Ergebnis der kapitalistischen Lohnsklaverei, sondern das Ergebnis einer diskriminierenden Sprache oder diskriminierender Strukturen in Organisationen.
Nach dem Sieg der chinesischen und kubanischen Revolution suchten in den ehemaligen Kolonien, als Folge des ideologischen Bankrotts des Stalinismus, verschiedene Gruppen oder Strömungen nach einer neuen, originellen Form, einer neuen Philosophie der Befreiung, die sich ausserhalb der „marxistischen Orthodoxie“ bewegen sollte. Diese angebliche Philosophie behauptet, der Schlüssel zur Befreiung der exkolonialen Länder sei die Abschaffung eurozentrischen Denkens und Sprechens. Das werde zu einer erkenntnistheoretischen und gedanklichen Dekolonialisierung führen. Auf dieser Grundlage könne man die Geschichte dieser Länder dann in einer „originelleren“ Weise verstehen und damit wird ihre Befreiung beginnen. Dieses reformistisch-reaktionäre Denken fordert uns auf, nicht gegen die Bourgeoisie und ihre brutalen Ausbeutungsformen zu kämpfen, sondern, um es erkenntnistheoretisch auszudrücken, nach neuen Horizonten zu suchen.
Aus dieser Sicht brauchen wir keine Revolution, die darauf abzielt, die Gesellschaft von Grund auf neu aufzubauen, sondern Reformen und eine Veränderung in der Mentalität und dem Verhalten der Menschen. Das Ziel ist nicht, die Gesellschaft zu verändern, sondern nach einer abstrakten, individuellen Erfüllung zu streben – ohne zu berücksichtigen, dass Ausbeutung und Unterdrückung weitergehen werden, solange der Kapitalismus existiert.
Die revolutionäre Partei ist ein Werkzeug für die Arbeiterklasse, mit dem sie die Macht ergreifen und die Gesellschaft verändern kann. Sie ist keine Miniaturkopie der neuen Gesellschaft, sondern der Katalysator zu ihrer Erschaffung. Selbstverständlich bekämpfen wir jeden Ausdruck von Unterdrückung in unseren Reihen und in unserer politischen Aktivität. Doch die IntersektionalistInnen bilden sich ein, sie könnten eine reine Organisation aufbauen, die von diskriminierendem Verhalten gesäubert und fähig ist, eine Gesellschaft ohne Diskriminierung zu schaffen. Sie verstehen nicht, dass jede Organisation unter dem Druck der Gesellschaft stehen wird, in der sie aufgebaut wird. Die Unterdrückung der Frau im Kapitalismus macht es zum Beispiel wahrscheinlich, dass Männer und Frauen in den meisten Organisationen nicht gleichmässig vertreten sein werden solange der Kapitalismus existiert. Wir müssen alles beseitigen, was Frauen und andere unterdrückte Gruppen daran hindert, bei uns mitzumachen, aber wir können den Druck der Klassengesellschaft nicht beseitigen, solange die Klassengesellschaft selbst existiert. Die IntersektionalistInnen konzentrieren letztendlich all ihre Energie darauf, dieses utopische Modell der zukünftigen Gesellschaft innerhalb der Grenzen der Alten aufzubauen, anstatt die Organisation aufzubauen, die diese Gesellschaft und ihr diskriminierendes Verhalten tatsächlich beenden kann. Diese idealistische Konzeption ist eine völlige Negation der materialistischen und dialektischen Geschichtsauffassung. Die idealistische Konzeption findet auch ihren Weg in die verschiedenen „Reformen“, die Teile dieser Bewegung vorbringen: „Geschlechterneutrale Sprache“, „geschlechterneutrale Erziehung“ usw. So glauben die IntersektionalistInnen, die Wurzel der Unterdrückung bestünde in falschen Ideen, die man einfach „wegerziehen“ kann. Das ist eine vollkommen reformistische und utopische Vorstellung.
„Verschiedene Schulen des Feminismus“?
In den vergangenen Jahren haben wir in einigen Ländern Massenbewegungen gegen Unterdrückung und Diskriminierung erlebt – von der ursprünglichen Black Lives Matter-Bewegung gegen die Morde der Polizei an jungen Schwarzen, über das Referendum zur gleichgeschlechtlichen Ehe in Irland bis hin zur Bewegung zur Verteidigung des Rechts auf Abtreibung in Polen und zur Bewegung gegen Gewalt an Frauen in Argentinien, Mexiko und weiteren Ländern. Diese Bewegungen sind Ausdruck einer fortschrittlichen Stimmung, an die wir anknüpfen müssen. Sie enthalten ein Element des Hinterfragens des Systems als Ganzes.
Der Streik vom 8. März 2018 in Spanien und die Bewegung gegen die Vergewaltigerbande, die sich „La Manada“ („Wolfsrudel“) nennt, fanden im Namen des Feminismus statt und brachten Hunderttausende, ja Millionen, auf die Strasse. In den Augen der Massen hat das Wort die Bedeutung „Kampf um Gleichheit der Frau“. Doch die FührerInnen der Organisationen, die zum „feministischen Streik“ am 8. März aufriefen, sind FeministInnen in dem Sinne, dass sie sich an feministischen Theorien orientieren. Sie argumentieren, der Kampf um die Befreiung der Frau müsse „transversal“ (also über klassen- und politische Grenzen hinweg) stattfinden, dass Männer bestenfalls „Verbündete“ in diesem Kampf sein könnten und, dass sie sich am Streik nicht hätten beteiligen sollen – vielmehr hätten sie die streikenden Frauen am Arbeitsplatz vertreten müssen. Zudem behaupten sie, die Ausbeutung der Frau finde im Kapitalismus in der Reproduktion der Arbeit statt, weswegen man für „bezahlte Hausarbeit“ kämpfen müsse. Diese Ideen waren vielen der TeilnehmerInnen unbekannt, als die Bewegung die Massen ergriff.
In diesem Kontext haben einige GenossInnen gefordert, man solle den Begriff „Feminismus“ aufgreifen und als Eigenbezeichnung nutzen. Wir halten das nicht für korrekt oder notwendig. Es wäre natürlich ein ernsthafter politischer Fehler, wenn wir unsere Texte und Interventionen damit begönnen, dass wir über die Bedeutung des Wortes „Feminismus“ polemisieren. Wie bei jeder Intervention in einer Massenbewegung müssen wir uns eben auf deren fortschrittlichste und revolutionärste Aspekte stützen und in positiver Weise unser eigenes Programm, unsere eigene Strategie vorbringen. Wir müssen in genossenschaftlicher Weise gegen die falschen und kontraproduktiven Ideen argumentieren, die die FührerInnen der Bewegung vertreten, während wir an den revolutionären Geist anknüpfen, der ihre AnhängerInnen antreibt. An Orten wie Mexiko, Italien (wo es eine Massenbewegung um den 8. März 2017 gegeben hat) und Spanien haben wir das bereits getan. Dass wir uns nicht als „FeministInnen“ bezeichnen, hat unserer Intervention nicht geschadet.
Viele junge Männer und Frauen nennen sich FeministInnen, ohne aus marxistischer Sicht wirklich welche zu sein. Sie entwickeln ein Bewusstsein von der Ungleichheit in der Gesellschaft. Damit, dass sie sich FeministInnen nennen, meinen sie, dass sie gegen die Unterdrückung der Frau sind und eine Gesellschaft mit Gleichheit haben wollen. Von diesem Ausgangspunkt können sie für revolutionär-marxistische Ideen gewonnen werden.
Oft legen FeministInnen die meisten Probleme in der Gesellschaft dem „Patriarchat“ zur Last. Es ist richtig, dass die Versklavung von Frauen die älteste Form der Sklaverei ist, die neben der Klassenunterdrückung entstand und seit tausenden Jahren existiert. Nur ein grundlegender Umbau der Gesellschaft kann diese abscheuliche Sklaverei ein für alle Mal beenden. Aber eine solch grundlegende Veränderung kann nur durch die vereinte revolutionäre Aktion der Arbeiterklasse herbeigeführt werden. Das setzt die Aktionseinheit der Männer und Frauen der Arbeiterklasse voraus, die für ihre Befreiung als Klasse kämpfen. FeministInnen tendieren dazu, das Patriarchat als Struktur getrennt von der Klassengesellschaft zu betrachten, was zur unausweichlichen Schlussfolgerung führt, dass der Kampf um die Befreiung der Frau von dem Kampf der Befreiung der Arbeiterklasse getrennt ist. Das ist eine reaktionäre und spalterische Idee, die, wenn auch in abgeschwächter Form, auch bei vielen präsent ist, die sich marxistische FeministInnen oder sozialistische FeministInnen nennen.
Die volle Befreiung der Frau kann nur durch eine soziale Revolution erreicht werden, die die Ausbeutung abschafft, auf der die Unterdrückung der Frau basiert. Bedeutet das, dass wir den Kampf für das Vorankommen von Frauen im Kapitalismus ignorieren? Natürlich nicht! Wir werden auch die allergeringste Diskriminierung und Unterdrückung der Frau bekämpfen. Das ist die Vorbedingung, um die kämpfende Einheit aller ArbeiterInnen zu erreichen.
Manchmal sagt man, es gebe verschiedene Schulen des Feminismus, was auch zweifellos richtig ist. Es gibt auch viele verschiedene Arten des Anarchismus, und manche stehen dem Marxismus näher als andere. Das ändert aber nichts daran, dass es zwischen dem unverfälschten Marxismus und dem Anarchismus eine klare Trennungslinie gibt.
Obwohl es verschiedene Anarchismen gibt, haben sie alle mehr oder weniger gleichartige Vorurteile. Man gewinnt diejenigen AnarchistInnen, die dem Kommunismus näher stehen nicht, indem man so tut, als gebe es diese Differenzen nicht, oder indem man ihnen sagt: „Seht ihr! In Wirklichkeit kämpfen wir ja alle für dasselbe!“ Ganz im Gegenteil; man beendet die Verwirrungen ehrlicher AnarchistInnen, indem man den Unterschied zwischen den verwirrten und unwissenschaftlichen Ideen des Anarchismus und den klaren, wissenschaftlichen Ideen des revolutionären Marxismus erklärt.
Während der russischen Revolution beschrieben sich manche Leute als „kommunistische AnarchistInnen“. Durch die Erfahrungen der Revolution bewegten sich die besten proletarischen Elemente der AnarchistInnen näher zum Bolschewismus und kämpften in Revolution und Bürgerkrieg Seite an Seite mit den Bolschewiki. Viele traten der kommunistischen Partei bei. Die „anarcho-kommunistische“ Strömung stellte ein unfertiges Gebilde, oder eine Übergangsphase in der Bewegung hin zu Kommunismus dar.
Ebenso ist es gut möglich, dass einige Spielarten des Feminismus fortschrittlicher sind als andere. Die MarxistInnen müssen mit jedem zur Verfügung stehenden Mittel für die völlige Emanzipation der Frau kämpfen. Man könnte fragen: Was ist der Feminismus? Diese Frage ist schwierig genau zu beantworten. Sowohl Konservative als auch Liberale und Linke verwenden den Begriff. Man rechtfertigt mit ihm den Einmarsch in Afghanistan auf Basis der Verteidigung der Frauenrechte, aber gleichzeitig verwenden ihn auch Leute, die für Gleichheit und die Befreiung der Menschheit kämpfen. Es ist tatsächlich so, dass in Spanien selbst die rechte Regierungspartei lila feministische Bänder am 8. März verwendete, um zu zeigen, dass sie „auch Feministen“ sind! Das Oxford-Wörterbuch definiert ihn so: „Eintreten für Frauenrechte auf Basis der Geschlechtergleichheit.“ Diese Definition zeigt das Hauptproblem des Begriffs: Von einem Klassenstandpunkt aus betrachtet, sagt er überhaupt nichts aus.
Vielleicht kann man den Feminismus am besten negativ definieren: Er gibt keine Antwort auf die Frage der Entstehung der Unterdrückung und folglich ihrer Bekämpfung und Überwindung. All die verschiedenen Strömungen des Feminismus geben ihre eigenen Antworten, wenn überhaupt. Der Feminismus impliziert, man könnte die Frauenunterdrückung irgendwie beseitigen, bevor man die Hauptursache der Unterdrückung beseitigt hat: Den Kapitalismus und die Klassengesellschaft. Anstatt etwas zu erklären, verwischt er die Klassenlinien. All die verschiedenen Strömungen des Feminismus betrachten nur die Symptome und nicht die zugrundeliegenden Ursachen. Als MarxistInnen müssen wir sagen, was ist. Wir müssen uns vom Feminismus deutlich abgrenzen. Nicht, weil wir nicht für „Frauenrechte auf Basis der Geschlechtergleichheit“ kämpfen würden, sondern weil selbst der „beste“ Feminismus nur Verwirrung und ein falsches Gefühl der Einheit über Klassengrenzen hinweg stiftet.
Deshalb macht es keinen Sinn, sich als marxistische FeministInnen zu bezeichnen. Tatsächlich ist es direkt kontraproduktiv und hilft ehrlichen jungen KlassenkämpferInnen nicht, die Frage zu klären. Wir müssen im Gegenteil offen erklären, warum wir keine FeministInnen sind, um diesen Leuten auf dem Weg zum Marxismus weiterzuhelfen, anstatt kleinbürgerlichen, klassenfremden Ideen und dem philosophischen Idealismus eine Brücke in die Reihen der MarxistInnen zu bauen.
Obwohl wir uns nicht als FeministInnen bezeichnen können, dürfen wir nicht den Eindruck erwecken, uns wäre die tiefe Empörung gleichgültig, die die Masse der Frauen der Arbeiterklasse empfindet, die sowohl als Arbeiterinnen als auch als Frauen im Kapitalismus leiden. Genauso wenig sollten wir der falschen Idee, dass die MarxistInnen den Kampf um die Befreiung der Frau auf eine ferne, sozialistische Zukunft verschieben wollen, irgendwie Vorschub leisten. Trotz all seiner Widersprüchlichkeiten und Beschränkungen setzt sich unter dem Banner des Feminismus eine neue Frauengeneration in Bewegung, um gegen die herrschenden Verhältnisse zu kämpfen. Von dieser konkreten Situation müssen wir ausgehen, ihr revolutionäres Potential erkennen und einen Weg finden, die uralte Frauenunterdrückung mit den konkreten Verhältnissen der Epoche des kapitalistischen Verfalls in Verbindung zu bringen.
Genau, wie wenn wir als RevolutionärInnen in den Gewerkschaften arbeiten, beteiligen wir uns am tagtäglichen Kampf der KollegInnen, während wir gleichzeitig kämpferische Gewerkschaften und sozialistische Politik fordern. Genauso müssen wir auch an jeder Frauen-Massenbewegung teilnehmen und danach streben, sie so kämpferisch wie möglich werden zu lassen und die unmittelbaren Forderungen mit der Notwendigkeit einer grundsätzlichen Veränderung der Gesellschaft zu verbinden. Es ist unsere Pflicht, eine Brücke zwischen den demokratischen Bestrebungen der Frauen und ihrem Kampf um Gleichheit auf der einen Seite und der Idee eines gemeinsamen Kampfes aller ArbeiterInnen gegen ein unterdrückerisches System auf der anderen zu errichten und dabei die Notwendigkeit zu betonen, dem Kapitalismus, der stets danach strebt, die unterdrückte Klasse zu spalten, um seine Herrschaft zu verewigen, den Gnadenstoss zu geben.
Wer sich als „marxistischeR FeministIn“ bezeichnet, impliziert, der Marxismus beinhalte den Kampf um Gleichheit nicht von sich aus. Das stimmt für den Stalinismus. Doch ebenso, wie wir gegen den Stalinismus kämpfen, um das marxistische Erbe zurückzuerobern, müssen wir das auch auf diesem Gebiet tun. Wir argumentieren, dass der Stalinismus kein Marxismus ist, dass das stalinistisch-bürokratische Regime kein Sozialismus war und ebenso müssen wir argumentieren, dass die stalinistische Sicht auf Frauen, Homosexuelle usw. mit dem Marxismus nichts gemein hat.
Definitionsgemäss gehören zur Kategorie „Frau“ Frauen aller Klassen – Klassen mit unversöhnlichen Interessensgegensätzen. Insofern der Feminismus diese entscheidenden Klassenunterschiede und –widersprüche verwischt, kann er nicht mit dem Marxismus vereint werden, der von einer Klassenanalyse ausgeht. Wenn wir die FeministInnen für den Marxismus gewinnen wollen, können wir das nur erreichen, indem wir in unseren Prinzipien absolut unerschütterlich sind. Wir müssen immer wieder betonen, dass die völlige Befreiung der Frau nur durch die Einheit der Klasse und die sozialistische Revolution erreicht werden kann. Es gibt Leute, die sich FeministInnen nennen, weil sie Frauenrechte verteidigen. Auch MarxistInnen verteidigen Frauenrechte, obwohl sie keine FeministInnen sind. Jedenfalls müssen wir auf genossenschaftliche Weise erklären, dass wir nicht gegen ihren Kampf sind – ganz im Gegenteil. Wir sind für Frauenrechte, aber wir denken, dass sie durch den Kampf gegen den Kapitalismus am besten erreicht werden können und nicht durch Spaltungen. Gleichzeitig müssen wir in jedem Kampf gegen Diskriminierung und Ungleichheit an vorderster Front stehen und noch für die allergeringste Forderung kämpfen, die die Sache der Gleichheit voranbringt und der Unterdrückung und Diskriminierung entgegensteht, darunter:
Doch die Vorbedingung für einen erfolgreichen Kampf am Arbeitsplatz ist die Einheit der Arbeiter und Arbeiterinnen als ArbeiterInnen. Die grundsätzliche Abgrenzung besteht darin, dass der Marxismus die Gesellschaft in Klassenbegriffen erklärt und nicht in Geschlechterbegriffen. Ganz grundsätzlich teilt sich die Gesellschaft in ArbeiterInnen und KapitalistInnen, Unterdrückte und Unterdrückende. Es stimmt, dass es auch andere Unterdrückungsformen gibt. Doch auf dem Boden des Kapitalismus kann keine davon gelöst werden.
Wie in jeder anderen Frage (Löhne, Pensionen, Wohnen, Gesundheit, Arbeitsbedingungen) ist der tagtägliche Kampf um Fortschritte im Kapitalismus die einzige Möglichkeit, die Arbeiterklasse zu mobilisieren, zu organisieren und auf den Sturz des Kapitalismus vorzubereiten, bei dem die Arbeiterinnen eine überlebenswichtige Rolle spielen werden.
Wir begrüssen es natürlich, dass es FeministInnen gibt, die begonnen haben die Begrenzungen des Feminismus zu erkennen. Doch dieser positive Trend ist nur insofern bedeutsam, als er eine Übergangsperiode darstellt, die schliesslich zur Annahme eines konsequent revolutionären Klassenstandpunktes führt. Die völlige Befreiung der Frau wird durch den Sieg der sozialistischen Revolution oder gar nicht erreicht.
Der „terminologische“ Radikalismus
Anstelle eines wirklichen Kampfes um die Gleichheit bietet man uns künstliche Quoten an. Anstelle des Kampfes um Befreiung durch den revolutionären Umbau der Gesellschaft bietet man uns die „politische Korrektheit“. Das läuft auf ein endloses, kleinliches Gequängel über Wörter und Semantik hinaus: Unbedingt muss dieses oder jenes Wort, oder „nicht geschlechtergerechte Sprache“, oder sonst etwas vermieden werden.
Getreu dem wahren Geiste des Postmodernen „Narrativs“, das die Tat durch das Wort ersetzt, ist in gewissen Ländern endlos Zeit verschwendet worden, indem Leute, die sich „Linke“, gar „MarxistInnen“ nennen, Verbalakrobatiken vollführen, um die Sprache zu verdrehen sowie maskuline und feminine Formen zu neutralisieren und mit Mutationen wie „compañer@s“ auf Spanisch, „compagn*“ auf Italienisch und so weiter enden. Derlei Wortspiele bringen den Kampf um die Befreiung von Frauen, schwarzen Menschen, oder sonst irgendwem in keiner Weise voran. Das ist Symbolpolitik der stumpfesten und lächerlichsten Art.
In der Deutschen Ideologie haben sich Marx und Engels schon mit der Idee befasst, dass man durch eine Bewusstseinsänderung der Individuen die materiellen Bedingungen ändern könnte, oder dass man die Menschen erst „bilden“ müsste, um für eine Revolution bereit zu sein:
„Schliesslich erhielten wir noch folgende Resultate aus der entwickelten Geschichtsauffassung: […] 4. dass sowohl zur massenhaften Erzeugung dieses kommunistischen Bewusstseins wie zur Durchsetzung der Sache selbst eine massenhafte Veränderung der Menschen nötig ist, die nur in einer praktischen Bewegung, in einer Revolution vor sich gehen kann; dass also die Revolution nicht nur nötig ist, weil die herrschende Klasse auf keine andre Weise gestürzt werden kann, sondern auch, weil die stürzende Klasse nur in einer Revolution dahin kommen kann, sich den ganzen alten Dreck vom Halse zu schaffen und zu einer neuen Begründung der Gesellschaft befähigt zu werden.“ (Karl Marx: Die deutsche Ideologie, S. 70.)
Die postmodernistische Besessenheit von der Sprache stellt die Frage vollständig auf den Kopf. Die Sprache zu verändern, wird kein Jota an der realen Tatsache der Unterdrückung ändern. So zu denken, verrät eine vollständig idealistische Herangehensweise. Die Sprache verändert und entwickelt sich und reflektiert dabei Veränderungen in der wirklichen Welt, aber offensichtlich verhält es sich nicht umgekehrt.
Das Gequängel über Wörter ist als Strömung typisch für Uniseminare mit Menschen, die alle Zeit der Welt haben, die sie endlosen Streitereien über nichts Bestimmtes widmen können wie Hunde, die nach ihrem eigenen Schwanz jagen. Goethe schrieb: „Im Anfang war die Tat.“ Zur Befreiung der Frau ist es notwendig, Unterdrückung und Diskriminierung mit Taten zu bekämpfen. Doch die notwendige Bedingung für erfolgreiche Massenaktionen ist eben die Einheit von Männern und Frauen der Arbeiterklasse im Kampf gegen die Chefs, deren Herrschaft sich auf die gemeinsame Versklavung aller ArbeiterInnen stützt.
Es scheint, dass die „radikalen“ KleinbürgerInnen immer das eine oder andere brauchen, um das sie Wirbel machen können, so wie die sogenannte Queer Theory. Dies ist nicht der Ort, um diese Theorie im Detail zu analysieren. Das kann in anderen Dokumenten und Artikeln getan werden. Es genügt zu sagen, dass dies ein durchwegs reaktionäres Konzept ist, das im philosophischen Idealismus seiner krudesten Form verwurzelt ist. Sie sät Spaltungen, die den Kampf gegen Unterdrückung unterlaufen und spielt damit unausweichlich in die Hände der Reaktion, unabhängig von den Intentionen der VerfechterInnen dieser Vorstellungen.
Der Marxismus basiert auf dem philosophischen Materialismus – der einzig wissenschaftlichen Methode zur Analyse der Natur, Gesellschaft und des menschlichen Verhaltens. Ob man will oder nicht, Sex ist in der Tierwelt (einschliesslich der menschlichen Tiere) eine normale Methode der Reproduktion. Asexuelle Reproduktion existiert in der Tierwelt, beispielsweise bei Erdwürmern und bestimmten Fischen. Jedoch verschwindet sie mit der Entwicklung der Evolution und fehlt bei Säugetieren vollständig.
Das Geschlecht ist nicht etwas, das Menschen bewusst bestimmt oder erfunden haben. Es ist ein Produkt der Evolution. Die Idee, dass das Geschlecht künstlich vom menschlichen Willen bestimmt werden kann, ist willkürlich und philosophisch wie wissenschaftlich falsch.
Die grundlegende geschlechtliche Teilung besteht zwischen männlich und weiblich. Das ergibt sich auf natürliche Weise aus dem Prozess der Fortpflanzung. Daraus ergibt sich in weiterer Folge die Teilung der Arbeit, die in einem bestimmten Stadium die Grundlage für die Teilung der Gesellschaft in Klassen war. Die Unterordnung der Frauen unter die Männer, die sich in patriarchalen Familienbeziehungen ausdrückt, fällt mit den Anfängen der Klassengesellschaft zusammen und wird erst durch die Abschaffung der Klassengesellschaft selbst überwunden werden.
MarxistInnen kämpfen für die wirkliche Befreiung von Frauen und allen anderen unterdrückten Gesellschaftsschichten. Aber die Befreiung kann nicht dadurch erreicht werden, dass man sich einfach vorstellt, dass es so etwas wie Geschlechter nicht gibt. Man kann sich vorstellen zu sein, was immer man will. Letztendlich aber ist man gezwungen, die materielle Realität gegenüber den gedanklichen Streifzügen des philosophischen Idealismus zu akzeptieren.
Unter den unzähligen seltsamen und wundersamen Varianten der Queer Theory (wir sollten sie wirklich nicht als Theorie qualifizieren) scheint es einen gemeinsamen Nenner zu geben: Erstens präsentiert sie Gender (und sogar das biologische Geschlecht) als ein rein soziales Konstrukt, wobei alle biologischen und materiellen Aspekte geleugnet werden. Der nächste Schritt besteht darin, in der Einbildung beinahe unendliche Variationen von Geschlechtern zu kreieren, aus denen man sich dann eines frei auswählen kann.
Wir leugnen nicht die Tatsache, dass zusätzlich zu männlich und weiblich weitere Zwischenformen existieren, die seit langer Zeit bekannt sind. Im vor-kolumbianischen Amerika wurden solche Menschen als spezielle soziale Gruppe betrachtet und respektvoll behandelt.
Die moderne Wissenschaft ermöglicht es Menschen, ihr Geschlecht zu verändern und das sollte allen Menschen, die es benötigen, möglich sein. Es ist selbstverständlich, dass wir vollkommen gegen jede Form von Diskriminierung und Intoleranz gegenüber transgender Personen sind. Wir haben auch keinerlei Einwände dagegen, dass jeder Mensch sich so identifizieren soll, wie er möchte. Wenn wir das allerdings als Methode zur Veränderung der Gesellschaft betrachten, gelangen wir zu einem Gedanken, der sehr praktisch für die herrschende Klasse ist: Dass Befreiung eine reine Frage des persönlichen Lifestyles sei.
Wir sehen die negativen Auswirkungen von Dingen dieser Art in den unschönen Spaltungen und bitteren Fehden zwischen einigen RadikalfeministInnen und einigen Aktivisten für Transrechte. Von solchen Entwicklungen kann man nicht sagen, dass sie auf irgendeine Weise und in irgendeiner Form dem Kampf gegen Unterdrückung helfen. Sie sind durchwegs reaktionär und müssen bekämpft werden.
Die „Identität“ in der ArbeiterInnenbewegung
MarxistInnen kämpfen für die Befreiung der Frau und werden jede noch so unzureichende fortschrittliche Massnahme verteidigen, die selbst innerhalb der Grenzen des derzeit herrschenden kapitalistischen Systems dazu tendiert, die Stellung der Frauen zu verbessern. Doch wir werden diesen Kampf mit unseren eigenen Methoden führen – den Methoden des proletarischen Klassenkampfs.
Wir weisen darauf hin, dass die wirkliche und vollständige Befreiung der Frauen letztendlich nur möglich ist, wenn man die Gesellschaft von oben bis unten transformiert – durch die sozialistische Revolution. Doch die notwendige Bedingung dafür ist, dass die Arbeiterklasse vereint und sich ihrer revolutionären Aufgaben bewusst ist.
Die MarxistInnen sind gegen jede Art von Unterdrückung oder Diskriminierung und kämpfen dagegen. Doch bei der Bekämpfung der Unterdrückung und Diskriminierung dürfen wir niemals vergessen, dass unser Hauptziel der Kampf für den Sozialismus ist, und das bedeutet vor allem die Einheit der Arbeiterklasse zu verteidigen. Wir stehen für die vollständige Einheit der Arbeiterklasse, trotz aller Unterschiede im Geschlecht, der Nationalität, Sprache oder Religion. Was immer dazu dient, die Einheit der Arbeiterklasse zu erhalten und ihr Klassenbewusstsein zu heben, ist fortschrittlich. Was immer dazu tendiert, die ArbeiterInnen aus welchem Grund auch immer zu spalten, ist reaktionär und muss bekämpft werden. Die Unterdrückung der Frauen – und die spezifische Unterdrückung der Arbeiterinnen – ist ebenso ein integraler Bestandteil des Kapitalismus wie die Zerstörung der Umwelt oder die nationale Unterdrückung. Es gibt keinen Kapitalismus ohne Haussklaverei oder die „Doppelbelastung“ der Frauen der Arbeiterklasse; es gibt keinen Kapitalismus ohne die Verheerung des Planeten zur Befriedigung des Profitdürstens der multinationalen Grosskonzerne; und es gibt keinen Kapitalismus ohne die Versklavung kleiner Völker durch die imperialistischen Mächte, um deren Ressourcen auszuplündern und ihre Vorherrschaft gegenüber anderen Mächten abzusichern. Daher ist die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft unter Führung der Arbeiterklasse die einzige Möglichkeit, all diese Übel zu beseitigen.
Die Bürokratie der Arbeiterbewegung hat gelernt, verschiedene Gruppierungen von ArbeiterInnen gegeneinander auszuspielen und hat Lohndifferenzen zwischen verschiedenen Abteilungen der Arbeiterklasse zugelassen. Die GewerkschaftsführerInnen streben nach einem leichten Leben und nach Kompromissen mit den Chefs und verraten daher gewisse Gruppierungen von ArbeiterInnen, um Zugeständnisse bei anderen zu erhalten. In immer mehr Ländern verwendet die Bürokratie systematisch die „positive Diskriminierung“, um Führungspositionen in der Arbeiterbewegung mit karrieristischen Elementen zu besetzen, die ihr Geschlecht oder ihre Abstammung nutzen, um voranzukommen. Dabei hilft ihnen die rechte Bürokratie, dabei verdrängen sie linke KandidatInnen.
Die Bürokraten sind aus Eigennutz bestrebt, „Reserveplätze“ für Frauen, Schwarze und dergleichen einzurichten. Die Gewerkschaftsführung im Besonderen verwendet dieses Werkzeug, um die Zusammensetzung gewählter Organe zu verwässern. Sie stützen sich auf Gruppen karrieristischer BürokratInnen, die angeblich für diese „besonderen Gruppen“ gehören, die dann durch diese Förderung die Karriereleiter erklimmen. Mit Freuden unterstützen sie die Führung, solange sie autonom „ihr Thema“ bearbeiten dürfen. Anstelle einer Führung, die diese „besonderen Gruppen“ repräsentiert, erreicht man damit eine noch weniger repräsentative Führung, die nicht aufgrund ihrer tatsächlichen politischen Position gewählt wurde, sondern nur zur Erfüllung von Quoten und dergleichen.
Das Beharren auf Geschlecht oder Abstammung als Hauptthema tendiert dazu, die Menschen zu spalten, aber nicht entlang von klassen- sondern anderer Linien. Das hat extrem negative Konsequenzen für die Arbeiterklasse. Es ist kein Zufall, dass die rechten GewerkschaftsführerInnen und insbesondere die ReformistInnen und LinksreformistInnen überall die „politische Korrektheit“ und Identitätspolitik nutzen, um die Aufmerksamkeit vom Klassenkampf und den wirklichen Problemen, vor denen die Arbeiterklasse steht, abzulenken. Sie konzentrieren sich auf Fragen der Sprache, anstatt mit entschlossenem Klassenkampf gegen die Unterdrückung vorzugehen.
Diese niederträchtigen Ideen sind Waffen in den Händen der reaktionärsten Kreise in der Gewerkschaftsbürokratie, deren Hauptrolle darin besteht, die Polizei zur Bewachung der Arbeiterklasse zu sein, das Ausmass und den Erfolg ihres Klassenkampfs zu begrenzen. Dem traditionellen Arsenal der bürokratischen Polizeimethoden – Androhung von Disziplinarmassnahmen, Entfernung kämpferischer Betriebsräte, Ausschlüsse usw. – wird eine weitere Methode zugefügt: Einschüchterung und Hexenjagden durch die FanatikerInnen der Identitätspolitik.
Bei einem Gewerkschaftskongress in Grossbritannien stellten die AnhängerInnen der Identitätspolitik den Antrag, die Gewerkschaft müsse jeden Vorwurf einer sexuellen Belästigung für wahr halten, der von einer Frau gegen einen Mann gemacht wird, wobei über das Wort der Betreffenden hinaus keine Beweismittel nötig seien. Ein Delegierter erklärte das wie folgt: „Ich bin Betriebsrat. Stellt euch vor, ich habe eine Vorgesetzte, die mich loswerden will. Das wäre ganz leicht für sie, denn sie müsste mir nur eine Belästigung vorwerfen. Ich würde unverzüglich entlassen und die Gewerkschaft könnte mich nicht verteidigen.“ Diesmal wurde der Antrag abgelehnt. Doch die Gefahr, die von solch einer Politik ausgeht, ist offensichtlich.
Der Grund dafür, dass sie nicht ernsthaft herausgefordert werden, besteht nicht darin, dass sie etwa eine Debatte gewonnen hätten, sondern darin, dass die Leute Angst haben, von den VerfechterInnen der Identitätspolitik gemobbt zu werden. Jeder, der gegen ihre Intrigen Einspruch erhebt, wird unverzüglich als Rassist, Frauenfeind oder mit irgendeinem anderen buntscheckigen Titel, der ihnen gerade einfällt, gebrandmarkt. Das hat zu Hooliganismus und bösartigen Hetzkampagnen gegen linke GewerkschafterInnen geführt, auf die wegen ausgedachter Vergehen eine Hexenjagd betrieben wird. Beschwerden werden sofort vom Schreien und Jammern der Identitätspolitik-AnhängerInnen übertönt, die nicht zögern, ihre Gegner mit den empörendsten Beleidigungen und Beschimpfungen zu beschmeissen.
Das Quotenprinzip ist in Wirklichkeit nur eine dreiste Art der Wahlfälschung. Nicht wenige Rechte sind nur gewählt worden, weil sie diese oder jene Minderheit repräsentieren. Doch aus Angst, dafür denunziert zu werden, dass man die Diskriminierung unterstütze, schweigen alle.
Tony Blair war in Großbritannien darauf bedacht, über Frauenlisten karrieristische Abgeordnete einzusetzen und die Linke hinauszudrängen. Es waren ironischerweise die „Linken“ selbst, die diese Idee als Teil ihres Programms der positiven Diskriminierung lanciert hatten. So spielten sie dem rechten Flügel in die Hände. Der rechte Flügel der Labour Party nutzte die nationale Frage, um Jeremy Corbyn zu unterminieren, indem vorgeschlagen wurde, das NEC [Nationales Exekutivkomitee] um zwei Sitze zu erweitern: Einen aus Wales und einen aus Schottland, weil die „Nationen“ angeblich repräsentiert werden müssten. Der Zufall wollte es, dass die schottische ebenso wie die walisische Partei vom rechten Flügel kontrolliert wurden.
Die LinksreformistInnen brennen stets darauf, sich zu beweisen und sich als die Allerfeministischsten darzustellen. Sie bestehen daher umso heftiger auf Quoten und Sonderbehandlungen. Podemos, Momentum und andere gehen in diesen Fragen viel weiter als die traditionelle Arbeiterbewegung, was den kleinbürgerlichen Einfluss auf diese Organisationen verdeutlicht. Eine reaktionäre Konsequenz der Quoten ist, dass sie die Spaltung und die Konkurrenz in der Arbeiterklasse fördern. In der herrschenden Periode, in der der Kapitalismus in einer akuten Krise steckt, in der alle Regierungen Kürzungen und Sparpolitik verhängen, kann eine ganze Reihe reaktionärer Ideen an das Ohr gewisser rückständiger Schichten der Arbeiterklasse gelangen, die den reaktionären Schluss ziehen können, dass unsere Probleme nicht vom Kapitalismus an sich ausgehen, sondern von der Anwesenheit nationaler Minderheiten und MigrantInnen, von Frauen, die Rechte einfordern und dergleichen. Darauf stützt sich die Propaganda der faschistischen und reaktionärsten rechten Bewegungen: Wir haben nicht genug Arbeitsplätze oder Kinderkrippen oder wir haben nur begrenzt Zugang zur Uni oder zu Sozialleistungen, weil den nationalen Minderheiten, dem anderen Geschlecht usw. Quoten zugewiesen werden. All das trägt dazu bei, das Gift des Rassismus und der Spaltung in der Arbeiterklasse zu verbreiten. Wer wegen einer Quote gewählt wurde, wird ohnehin immer als zweitrangig empfunden werden. Was eine solche Person sagt, lässt sich leicht damit abtun, dass sie kein Mandat habe, weil sie nur gewählt wurde, weil sie eine Frau/schwarz/homosexuell ist oder durch irgendeine andere Quote gewählt wurde.
In Brasilien ist die Lage noch schlimmer. Beinah die ganze Linke hat vor dem grauenerregenden Vorschlag kapituliert, die ganze Bevölkerung entlang der „Abstammung“ zu spalten, um dann Quoten in Universitäten usw. einzuführen. Dagegen haben unsere brasilianischen GenossInnen eine unversöhnliche Haltung eingenommen. Sie argumentieren, dass man für Bildung, Gesundheit, Wohnen usw. für alle kämpfen muss – ein erreichbares Ziel, angesichts des Reichtums, den es heute in der Gesellschaft gibt – anstatt diese Ressourcen als rar zu betrachten und daraufhin für deren ‚anteilsmässige‘ Verteilung zu kämpfen.
Wir sind unversöhnliche GegnerInnen der sogenannten positiven Diskriminierung, Quoten, Repräsentation und dergleichen. Man sichert die möglichst umfassende Teilnahme von Frauen und Minderheiten in der Arbeiterbewegung, indem man in der Tat und nicht in Worten beweist, dass wir gegen jede Art der Unterdrückung und Diskriminierung kämpfen – für Vollbeschäftigung und gleichen Lohn bei gleichwertiger Arbeit usw. Nur auf Grundlage eines kämpferischen Programms wird es uns gelingen, die unterdrücktesten Schichten der Gesellschaft heranzuziehen. Das bedeutet aber, dass die Führung in den Händen der besten KämpferInnen liegen muss – seien sie Männer oder Frauen, schwarz oder weiss, homo- oder heterosexuell.
Diese leere Symbolpolitik wurde durch die Angestelltengewerkschaften in die Arbeiterbewegung getragen, die sich auf die Mittelschichtsberufe stützen. Sie standen den Mittelschichtsintellektuellen und -studentInnen am nächsten. Infolge von Deindustrialisierung und Gewerkschaftsfusionen drängten sie die ArbeiterInnen zur Seite. Die mittelständischeren unter ihnen, die sich besser ausdrücken (oder zumindest lauter schreien) konnten, schafften es, die Bewegung mit ihren „trendy“ Ideen zu infizieren und sie dort als anerkannte Norm zu etablieren.
Das hat die Gewerkschaften in vielen Ländern zu einem gewissen Grad betroffen. Deshalb gibt es jetzt Reserveplätze für Frauen, LGBT, Schwarze, Menschen mit Behinderung und zweifellos noch für viele weitere Gruppen. Sie haben ihre getrennten Konferenzen, Komitees usw., jedes mit seiner eigenen kleinen Bürokratie. Sie beharren darauf, dass sie allein in diesen Fragen das Sagen haben. Solang sie der übrigen Gewerkschaftsbürokratie nicht im Weg stehen, bleiben ihnen ihre kleinen Lehnsgüter überlassen. Die LinksreformistInnen und SektiererInnen nehmen diesen Zustand hin, weil ihre Ideen und ihre Politik selbst eine kleinbürgerliche Ausprägung haben.
Reaktionen gegen den liberalen Feminismus
Mittelschichtsfrauen jagen neuen Karriereformen nach. Sie wollen Bankerinnen, CEOs, Bischöfinnen – selbst Präsidentin der Vereinigten Staaten werden. Das ist die alte Leier der LinksreformistInnen in einer Neuauflage: „Ich bin dafür, die Bedingungen für die Arbeiterklasse zu verbessern, Schritt für Schritt, und bei mir selber fange ich an.“
Wie genau hilft es den Arbeiterinnen, wenn Frauen in die Vorstände der Banken gelangen? Das wird nicht erklärt. Sind Chefinnen irgendwie netter als Chefs zu ihren Arbeitgebern? In dieser Hinsicht gibt es keine besonders ermutigenden Erfahrungen. Wie die Erfolge einer Margaret Thatcher, Angela Merkel oder Theresa May die Sache ihrer „Schwestern“ an der Produktionsanlage vorangebracht haben, bleibt ein ungelöstes Rätsel.
Mit der Zeit hat eine wachsende Anzahl politisch bewusster Frauen begonnen, die schlechten Seiten des Feminismus zu erkennen. Sie sehen, dass der „Lean-In-Feminismus“,1 statt den Kapitalismus als ausbeuterisches und unterdrückerisches System zu bekämpfen, Frauen dazu ermutigt, an die Bewegung nur insofern zu denken, als es für eine bestimmte Schicht von Frauen möglicherweise individuelle Erfolge bringt.
In ihrem Buch Why I am not a Feminist beschreibt Jessa Crispin den Feminismus als eigennützige Marke, die von CEOs und Schönheitskonzernen populär gemacht wurde, einen „Kampf, der es Frauen möglich macht, an der Unterdrückung der Machtlosen und Armen gleichberechtigt teilzuhaben“. Das ist nicht schlecht gesagt. Trotzdem müssen wir feststellen, dass Jessa Crispin sich entgegen dem Titel ihres Buches als Feministin bezeichnet.
Der New Yorker kommentiert:
„Why I am not a Feminist erscheint zu einer Zeit, in der die liberalen Frauen in Amerika zum Teil einen grossen Wandel erwarten – plötzlich neigen sie einer Weltanschauung zu, für die ‚die Erfolgsmerkmale des patriarchalen Kapitalismus … Geld und Macht‘ nicht heilig sind. Es scheint einen wachsenden Hunger nach einem Feminismus zu geben, dem es mehr um das Leben einkommensschwächerer Frauen geht als um die Anzahl weiblicher CEOs.
Die gegenteilige Ansicht – dass der Feminismus nicht nur im Grossen und Ganzen mit dem Kapitalismus zusammengeht und diesem sogar noch nützt – hat einiges an Aufmerksamkeit bekommen. Diese Botschaft ist in den letzten zehn Jahren von der grossen Mehrheit der selbsternannten Vorbilder des Feminismus vermittelt worden: Feminismus ist, wenn eine individuelle Frau genug Geld hat, um zu machen, was sie will. Gnadenlos zerlegt Crispin dieses Feminismus-Label, das, wie sie argumentiert, darauf hinausläuft, sich von der Unterdrückung einfach freizukaufen und sie dann zu verewigen. Die patriarchale Glücksvorstellung, die davon abhängt, dass ‚sich jemand deinem Willen unterwirft‘, wird begeistert angenommen. Nach Jahrhunderten der Ausbeutung wollen Frauen jetzt selbst andere ausbeuten, glaubt Crispin. ‚Sobald wir ein Teil des Systems geworden sind und von ihm genauso profitieren wie die Männer, wird uns als Gruppe egal sein, wer danach noch zu leiden hat.‘
Jia Tolentino: The Case against Contemporary Feminism
Die Krise des Feminismus zeigt sich auch in der massiven Verschiebung der US-Politik in Richtung Sozialismus und Antikapitalismus, die insbesondere seit der Wahl Donald Trumps im Gange ist. Das reaktionäre Wesen der Identitätspolitik wurde bei den Wahlen 2016 deutlich sichtbar, als Hillary Clinton, diese mit allen Wassern gewaschene Vertreterin der Wall Street und der Milliardärsklasse, die Frauen aufrief, sie zu wählen, „weil ich eine Frau bin!“
Die frühere Aussenministerin Madeleine Albright, diese hartgesottene Reaktionärin und Kriegstreiberin, stellte bei einem Event in New Hampshire Hillary Clinton vor, indem sie der Menge und den WählerInnen überhaupt zurief: „In der Hölle gibt es Sonderplätze für Frauen, die einander nicht helfen!“ Im betreffenden Fall wiesen Millionen amerikanischer Frauen diesen „identitätspolitischen“ Aufruf zurück, wandten sich von Clinton und Albright ab und unterstützten Sanders. Für die VerfechterInnen der Identitätspolitik war das ein richtiger Schlag ins Gesicht.
So wurde deutlich, dass die Frauen in den USA, wenn sie bei Präsidentschaftswahlen abstimmen, die Politik und die Ideen einer Kandidatin für deutlich wichtiger halten als ihr Geschlecht. Damit haben sie völlig recht. Unglücklicherweise war eben der Erzreaktionär Donald Trump die einzige Alternative und dieser spielte sich demagogisch als „Anti-Establishment“-Kandidat auf. Wäre Bernie Sanders angetreten, hätte er viele Stimmen bekommen. Doch das ist ein anderes Thema.
Das Erbe, das wir verteidigen
Es mutet ganz lustig an, dass man MarxistInnen vorwirft, sie vernachlässigten oder übergingen die Probleme der Frauen. Es waren doch die MarxistInnen, die von Anfang an, weit vor den Suffragetten für das allgemeine Wahlrecht eingetreten sind. Eleanor Marx hat in der britischen Gewerkschaftsbewegung für gleichen Lohn für Frauen gekämpft. Schon 1848 stellten Marx und Engels die Forderung nach Abschaffung der Familie auf, obwohl sie erkannten, dass dies nicht über Nacht durchführbar war.
Sowie die bolschewistische Partei 1917 die Macht in Russland ergriffen hatte, führte sie das umfassendste Frauenemanzipationsprogramm der Geschichte durch, legalisierte die Homosexualität und war damit der damaligen kapitalistischen Welt weit voraus. Die Bolschewiki wiesen praktisch nach, dass der Sturz des Kapitalismus Frauen und Homosexuellen weit mehr garantieren konnte, als noch so viele abstrakte Zankereien über die Unterdrückung im Allgemeinen.
Wie Trotzki erklärte:
„Die Revolution machte einen heroischen Versuch, den sogenannten Familienherd, zu zerstören, d.h. jene archaische, muffige und starre Einrichtung, in der die Frau der werktätigen Klassen von der Kindheit bis zum Tode wahre Zwangsarbeit leisten muss. An die Stelle der Familie als geschlossenem Kleinbetrieb sollte, so war es gedacht, ein vollendetes System öffentlicher Pflege und Dienstleistungen treten: Entbindungsanstalten, Krippen, Kindergärten, Schulen, öffentliche Kantinen, öffentliche Wäschereien, Kliniken, Krankenhäuser, Sanatorien, Sportvereine, Kinos, Theater usw. Durch das vollständige Ersetzen der wirtschaftlichen Funktionen der Familie durch Einrichtungen der sozialistischen Gesellschaft, die die gesamte Generation in Solidarität und gegenseitigem Beistand eint, sollte der Frau und dadurch auch dem Ehepaar wirkliche Befreiung aus den tausendjährigen Fesseln gebracht werden. […] Es ist nicht gelungen, die alte Familie im Sturm zu nehmen. Nicht weil es an gutem Willen gefehlt hätte. Auch nicht weil die Familie so fest in den Herzen verwurzelt ist. Im Gegenteil, nach einer kurzen Periode des Misstrauens zum Staat, zu seinen Krippen, Kindergärten und ähnlichen Einrichtungen wussten die Arbeiterinnen und nach ihnen auch die fortgeschrittenen Bäuerinnen die unermesslichen Vorzüge der kollektiven Kinderpflege wie der Vergesellschaftung der gesamten Familienwirtschaft wohl zu schätzen. Leider erwies sich die Gesellschaft als zu arm und zu unkultiviert. Die realen Mittel des Staates entsprachen nicht den Plänen und Absichten der Kommunistischen Partei. Man kann die Familie nicht ‚abschaffen‘, man muss sie durch etwas ersetzen. Auf der Grundlage der ‚verallgemeinerten Not‘ ist eine wirkliche Befreiung der Frau nicht zu verwirklichen. Die Erfahrung veranschaulichte bald diese bittere Wahrheit, die Marx 80 Jahre zuvor formuliert hatte.“
Trotzki: Verratene Revolution, S. 169-179.
Noch einmal über die Bedeutung der Theorie
Welche Theorie verteidigt die IMT? Vor allen Dingen stehen wir auf dem Boden der Ideen von Marx, Engels, Lenin und Trotzki, die sich bewährt haben und in der Welt des 21. Jahrhunderts absolut relevant und gültig bleiben. Wir stehen für die Ideen der Ersten Internationale, der Dokumente der ersten vier Kongresse der Kommunistischen Internationale (bis zum Einsetzen der stalinistischen Degeneration) und Trotzkis Übergangsprogramm. In den Jahrzehnten nach dem Tode Trotzkis wurden diese Ideen in den Schriften Ted Grants entwickelt und ergänzt. Auch sie gehören zum Fundament unseres ideologischen Erbes.
Ganz bestimmt werden einige GenossInnen, die der Organisation in der letzten Periode beigetreten sind, die Ideen des Marxismus noch nicht vollständig erfasst haben. Dafür braucht man natürlich eine Weile und das stellt für sich genommen keine ernsthafte Gefahr dar. Fatal wäre es jedoch, falschen, klassenfremden, kleinbürgerlichen Abweichungen vom unverfälschten Marxismus in unseren Reihen auch nur das allergeringste Zugeständnis zu machen. Wenn einE StudentIn unserer Organisation beitreten will, werden wir sagen: Sehr gerne kannst du unserer Organisation beitreten, doch nur, wenn du willens bist, die Sichtweise und Perspektive der Arbeiterklasse anzunehmen und dich dem Studium des Marxismus zu verschreiben. Deine Vorurteile stellst du bitte bei der Tür ab.
In einem Brief an Engels (17.-18. September 1879) schrieb Marx:
„Wenn solche Leute aus andern Klassen sich der proletarischen Bewegung anschliessen, so ist die erste Forderung, dass sie keine Reste von bürgerlichen, kleinbürgerlichen etc. Vorurteilen mitbringen, sondern sich die proletarische Anschauungsweise unumwunden aneignen.“
Karl Marx: Zirkularbrief an Bebel, Liebknecht, Bracke, S. 165.
Die trotzkistische Bewegung hat diese Erfahrung oft genug gemacht. Man braucht nur auf die SWP in den USA hinzuweisen, die völlig degeneriert ist, weil sie in den 1930ern Trotzkis exzellente Ratschläge ignorierte. Sie versumpfte im Studentenmilieu, rückte vom Klassenstandpunkt ab und nahm all die trendy bürgerlichen Ideen an: Feminismus, schwarzen Nationalismus2 usw. und gerieten so in den beklagenswerten Zustand, in dem sie sich jetzt befinden.
Wir müssen die ganze Organisation in diesen Fragen ausbilden und sicherstellen, dass in der IMT keine solche Entwicklung stattfindet. Wir können nicht das geringste Zugeständnis in unseren Reihen tolerieren, nicht einmal den kleinsten Bruchteil eines Zugeständnisses. Solche kleinbürgerlichen Ideen in die Organisation zu lassen, würde am Ende zu ihrer Zerstörung als unverfälschte, revolutionär-marxistische Kraft führen, die fähig ist, die Arbeiterklasse für die Sache der sozialistischen Revolution zu gewinnen.
Wie Engels, Marx und Trotzki hielt sich auch Lenin niemals zurück, wenn er klassenfremde Ideen angriff, insbesondere die Ideen des radikalen Kleinbürgertums. Wir sollten neu herausgeben, was Lenin, Rosa Luxemburg und Clara Zetkin über den Feminismus geschrieben haben. Sie drückten sich in dieser Frage sehr deutlich aus. Wir müssen offen sagen, dass wir gegen die Intersektionalität und alle anderen Spielarten der Identitätspolitik sind, die offensichtlich eine konterrevolutionäre Strömung ist. In dieser Frage gibt es keinen Raum für Halbheiten: Wir müssen uns so deutlich und nachdrücklich wie möglich ausdrücken.
Wir wollen StudentInnen gewinnen. Es müssen aber solche StudentInnen sein, die bereit sind, mit kleinbürgerlichen Ideen radikal zu brechen und sich unverrückbar auf den Standpunkt der Arbeiterklasse zu stellen. Studierende GenossInnen müssen sich der Arbeiterklasse zuwenden, den Fabriken und den Arbeitersiedlungen, den Gewerkschaften in der Arbeiterbewegung. Alle studierenden GenossInnen sollten sich zum Ziel setzen, wenigstens einen jungen Menschen aus der Arbeiterklasse für die Organisation zu gewinnen.
Im November 1932 schrieb Trotzki:
„Der revolutionäre Student kann nur einen Beitrag leisten, wenn er zunächst einmal einen strengen und andauernden Prozess revolutionärer Selbstbildung durchläuft und ausserdem der revolutionären Arbeiterbewegung beitritt, bevor er sein Studium abschliesst. Lassen Sie mich aber klarstellen, dass ich unter theoretischer Selbstbildung das Studium des unverfälschten Marxismus verstehe.“
Trotzki: On Students and Intellectuals, November 1932, eigene Übersetzung.
Unsere studierenden GenossInnen werden wir dann proletarisieren können, wenn wir sie tief in der marxistischen Theorie verankern. Viele StudentInnen haben eine Menge verwirrter Ideen, die sie im fauligen akademischen Milieu aufgesogen haben. Es ist unsere Aufgabe, diese falschen Ideen so schnell wie möglich zu korrigieren. Das geht nicht, indem man die Leute mit Samthandschuhen anfasst. Die Erfahrung zeigt, dass ernsthafte StudentInnen auf klare Worte nicht mit Empörung, sondern mit Respekt reagieren. Wer ein deutlich ausgesprochenes Argument nicht ertragen kann, empört sich nicht über unseren „Tonfall“, sondern hält es einfach für unmöglich, seine kleinbürgerlichen Ideen und Vorurteile fallenzulassen. Offen gestanden brauchen wir solche Leute nicht.
Es ist uns gelungen, dass unsere Organisation stabil und ideologisch einheitlich geblieben ist. Das ist das Ergebnis von Jahrzehnten streng-marxistischer ideologischer Ausbildung unserer wichtigsten Kader.
Doch geringe methodische Fehler, falsche Losungen und Formulierungen können sich zu ernsthaften Problemen auswachsen. Wie Trotzki sagte, reicht ein Kratzer aus, um Wundbrand auszulösen. Wir müssen über Polemiken das politische Niveau und Verständnis heben und so die Internationale auf einer belastbaren Grundlage aufbauen.
Das jahrzehntelange Wirtschaftswachstum hat in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern zu einer beispiellosen Degeneration der Massenorganisationen der Arbeiterklasse geführt. So blieb die revolutionäre Strömung isoliert und schrumpfte überall zu einer kleinen Minderheit zusammen. Die Notwendigkeit zwang uns zu lernen, gegen den Strom zu schwimmen.
Diese Klarstellung unserer unverfälschten Ideen, Methoden und Traditionen wurde allerdings nicht ohne Schwierigkeiten und Kämpfe erreicht. Sie manifestierte sich als eine Reihe von Spaltungen. Weit entfernt davon die IMT zu schwächen, hat dieser Vorgang der Auslese uns bedeutend gestärkt. Die Vorbedingung für künftige Siege war der radikale Bruch mit opportunistischen und revisionistischen Strömungen. Wie Lenin erklärte:
„Bevor wir uns vereinigen und um uns zu vereinigen, müssen wir uns zuerst entschieden und bestimmt voneinander abgrenzen.“
Ankündigung der Redaktion der „Iskra“, S. 351f
In der Linken hat allein die IMT eine ernsthafte Haltung zur marxistischen Theorie. Die theoretische Ausbildung der Kader ist eine unserer grundlegendsten und dringendsten Aufgaben. Auf dieser Grundlage werden wir eine mächtige marxistische Strömung aufbauen, die in der Arbeiterklasse verwurzelt sein wird.
Bardonecchia, 27. Juli 2018
1. „Lean in: Women, Work and the Will to Lead“ (auf deutsch erschienen als „Lean in: Frauen und der Wille zum Erfolg“) ist ein feministisches Buch von Sheryl Sandberg, „chief operating officer“ bei Facebook und Nell Scovell, einer TV-Produzentin. (Anm. d. Ü.) ↩
2. „Black nationalism“ – geht von der Einheit eines schwarzen Volkes in Nordamerika aus, fordert dessen Selbstbestimmung und die Pflege seiner „schwarzen Identität“ in einer eigenen Nation. Wichtigster Vertreter: Malcolm X. (Anm. d. Ü.) ↩
Literatur
Nordamerika — von Alan Woods, marxist.com — 27. 11. 2024
Europa — von Emanuel Tomaselli, RKI Österreich — 16. 11. 2024
Berichte & Rezensionen — von Die Redaktion — 15. 11. 2024
Nordamerika — von der Redaktion — 13. 11. 2024