Im Juni hat der Bundesrat das neue Vertragspaket mit der EU in die Vernehmlassung geschickt. Die Klärung der bilateralen Beziehungen mit der EU ist für die Schweizer herrschende Klasse die wichtigste aussenpolitische Frage. Und just in dieser Frage ist sie tiefer gespalten als in jeder anderen.

Unsere Aufgabe als Marxisten und Revolutionäre ist es nicht, in den Details dieser Verträge zu versinken. Wir müssen das grundlegende, objektive Dilemma des Schweizer Kapitalismus verstehen. Dieses reicht Jahrzehnte zurück und verschärft sich durch die neue Weltsituation der Trump-Ära zusätzlich. Die Schweizer Kapitalisten haben keinen Ausweg.

Integration oder «Alleingang»?

Der heute um sich greifende ökonomische Nationalismus («Protektionismus») hatte historisch kaum Rückhalt in der Schweizer Bourgeoisie. Der stark exportabhängige Schweizer Kapitalismus braucht Freihandel. Dagegen war der aussenpolitische Nationalismus («Isolationismus») im 20. Jahrhundert die traditionelle Position der herrschenden Klasse. So war die Schweiz auch bis 2002 nicht UNO-Mitglied.

Was auf den ersten Blick unlogisch erscheint, ergab durchaus Sinn: Der Schweizer Imperialismus war immer zu klein, um seine Interessen in der Welt militärisch oder politisch durchzusetzen. Gerade indem sie sich möglichst aus der Weltpolitik raushielten, entwickelten die Schweizer Kapitalisten im Hintergrund vorteilhafte wirtschaftliche Beziehungen mit allen Räubern dieser Welt. Das ist auch die wahre Bedeutung der Neutralitätspolitik hinter ihrer humanitären Fassade.

Ende der 1980er kam diese Position des Sichraushaltens unter Druck. Die Rückkehr der organischen Krise des Kapitalismus drückte auf die Profite. Die europäischen Bourgeoisien – mit Deutschland und Frankreich an der Spitze – drängten auf die Schaffung der EU. Diese EU war niemals ein «Friedensprojekt». Sie war ein imperialistisches Freihandelsprojekt: Der Versuch der Bourgeoisien, die zu engen Grenzen des Nationalstaates mit seinen beschränkten Märkten zu überwinden.

Das stellte die Schweizer Bourgeoisie vor das Dilemma: Um in der verschärften internationalen Konkurrenz nicht in Rückstand zu geraten, brauchte sie Zugang zu diesem neuen grossen europäischen Binnenmarkt. Doch dafür musste sie sich politisch-rechtlich unterordnen und ihre «Souveränität» teilweise abtreten.

Der Nationalstaat ist das Werkzeug der jeweiligen nationalen herrschenden Klasse. Wenn die bürgerlichen Ideologen von «Souveränität» oder «Unabhängigkeit» sprechen, meinen sie die volle Kontrolle der nationalen Kapitalisten über die «Regeln» und Bedingungen ihrer eigenen Profitmaximierung und ihrer bestmöglichen Ausbeutung der Arbeiterklasse.

Für die Schweizer Bourgeoise schien es in dieser Phase, als führe in diesem Zielkonflikt kein Weg daran vorbei, bei der «Souveränität» Abstriche zu machen. Mit der FDP als der traditionellen Partei der Bourgeoisie an der Spitze schwang sie um und bewegte sich auf die Integration in die EU zu. 1992 kam es zur Volksabstimmung über den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR). Dieser galt als Vorstufe zu einem EU-Beitritt.

EWR-Nein und Bilaterale

Als einzige der vier Regierungsparteien stellte sich die bis dahin noch zweitrangige, bäuerlich geprägte SVP gegen den Beitritt. In einem Kontext der Unsicherheit (anfang 1990er stürzte die Schweiz in eine tiefe Wirtschaftskrise; die Arbeitslosigkeit stieg rasant an) machte Christoph Blocher Kampagne für den «Alleingang» der Schweiz, also für die Weiterführung des isolationistischen Kurses. Damit öffnete sich ein Spalt im bürgerlichen Lager. Als Aussenseiter gegen das «Establishment» angetreten, war es der Startschuss für den Aufstieg der SVP zur stärksten Partei.

Mit der bis heute höchsten Stimmbeteiligung der Geschichte (78,7 %) wurde der EWR-Beitritt knapp (50,3 %) abgelehnt. Es war eine bittere Niederlage für das «Establishment» – die sich jedoch unverhofft in einen Sieg verwandelte.

Denn in den Folgejahren konnte die Schweizer Bourgeoisie die «bilateralen Verträge» aushandeln, für die sie später den Begriff «Königsweg» prägte. Sie bekam den Fünfer und das Weggli: vollen Zugang zum europäischen Binnenmarkt – ohne aber der EU beitreten zu müssen. Das bot einen temporären Ausweg aus dem Dilemma. Das Schweizer Kapital profitierte. Der Freihandel mit der EU und die Personenfreizügigkeit trugen massgebend zum Boom der frühen 2000er-Jahre bei.

Wieso war die EU damals zu einem so aussergewöhnlichen Zugeständnis an die Schweiz bereit gewesen? Es ist Ausdruck ihres damaligen Optimismus: Mit dem Fall der Sowjetunion und der Hyper-Globalisierung der 1990er glaubten sich die EU-Bourgeoisien im unaufhaltsamen Aufstieg. So waren sie auch überzeugt, die Schweiz würde nach dieser temporären Lösung ohnehin der EU beitreten wollen.

Rückkehr des alten Dilemmas

Dieser Optimismus ist lange verflogen. Seit der Weltwirtschaftskrise 2008 versinkt die EU in der tiefen Krise. Die EU funktionierte über die kurze Zeit des ökonomischen Aufschwungs. Die Konkurrenz zwischen den Nationalstaaten wurde durch die Schaffung der EU nicht überwunden, aber sie rückte zeitweilig in den Hintergrund. In der Krise muss jede nationale Bourgeoisie zuerst wieder auf sich selbst schauen.

Seit 2008 ist die EU nicht mehr bereit, ihr früheres Zugeständnis weiterzuziehen. Die EU stellt die Schweiz seither vor die Wahl: Entweder auch das EU-Recht für die relevanten Bereiche der bilateralen Verträge verbindlich übernehmen oder die Bilateralen laufen aus. Damit fiele der Zugang zum europäischen Binnenmarkt weg. 

Das alte Dilemma war zurück: auf höherer Stufe im neuen Krisenkontext. Seit über 15 Jahren steckt die Schweiz nun in fast permanenten Verhandlungen zur Erneuerung der bilateralen Verträge. Die aktuellen «Bilateralen III» sind nur der neuste Versuch.

Wieso sind sie bisher immer gescheitert? Weil es für die Schweizer Bourgeoisie schlicht keine gute Lösung gibt, nur verschiedene schlechte. Entsprechend ist sie gespalten, was einen Deal blockiert. Ausser der SVP sind alle grösseren Parteien auch intern uneins.

Spaltung der Bourgeoisie

Auf der einen Seite stehen der Bundesrat (der jedoch selbst intern gespalten ist), die grossen Unternehmerverbände wie Economiesuisse und Swissmem, sowie das Sprachrohr der liberalen Bourgeoisie, die NZZ. Sie alle werben für die neuen Verträge.

Die EU ist der mit Abstand wichtigste Handelspartner für die Schweizer Kapitalisten. Die Exportindustrie kann nicht riskieren, sich den Zugang zum europäischen Absatzmarkt zu erschweren. Die grossen Konzerne, insbesondere die Pharma, sind auch angewiesen auf die Personenfreizügigkeit. Der Schweizer Arbeitsmarkt ist zu klein für die grossen Monopole. Sie brauchen den Zugang zum europäischen Reservoir an qualifizierten Arbeitskräften.

Mit Trumps Zollkrieg und der generellen Unsicherheit pochen diese Kräfte umso mehr darauf, wenigstens die guten Beziehungen zur EU zu retten. Stellvertretend steht der Swissmem-Chef: «Der schlimmste Fall wäre, wenn wir auch noch von Gegenmassnahmen der EU betroffen wären. Das wäre für den Werkplatz Schweiz existenziell gefährlich.»

Auf der anderen Seite kämpft die SVP seit Jahren gegen jede Annäherung an die EU. Die SVP ist eine Partei der Banken und Konzerne. Wenn sich diese Bonzen-Partei gegen die «Unterwerfung» unter die EU stellt, dann nicht, weil sie gegen den Zugang zum Binnenmarkt wäre. Vielmehr ist sie nicht bereit, Zugeständnisse an konkurrierende Bourgeoisien zu machen, was die Kontrolle über die eigenen Regeln der Profitmaximierung angeht. Mit ihrer Offensive gegen die Personenfreizügigkeit will sie auch den Lohnschutz angreifen, die Gewerkschaften zurückdrängen und ausländische Arbeiter entrechten, um sie besser ausbeuten zu können. 

Dabei stützt sie sich auf einen realen Unmut der Arbeiterklasse über das Leben in der kapitalistischen Krise. Die EU ist heute völlig zurecht bei breiten Teilen der Arbeiterklasse unpopulär. Sie wird nicht als Werkzeug für die eigenen Interessen verstanden, sondern als Monster einer technokratischen liberalen Elite. Die SVP schiesst demagogisch gegen die «Bürokraten in Brüssel» und die Immigration durch die Personenfreizügigkeit, um sich als Anti-Establishment-Partei zu positionieren und sich eine Basis zu verschaffen.

Sackgasse des Schweizer Kapitalismus

Bis vor ein paar Jahren war die SVP mit ihrer Anti-EU-Haltung innerhalb der Bourgeoisie noch isoliert – zu wichtig waren die Wirtschaftsbeziehungen zur EU. Doch mittlerweile verläuft die Spaltung mitten durch die herrschende Klasse. Auch die FDP ist nun intern gespalten. Sinnbildlich: Die FDP-Bundesräte Cassis (Chef der Bilateralen III) und Keller-Suter (EU-skeptisch) ziehen in entgegengesetzte Richtungen.

Mit «Kompass» und «Autonomiesuisse» haben sich milliardenschwere Unternehmerkreise aus Finanz und Industrie organisiert, um gegen die Bilateralen zu lobbyieren. Der Grosskapitalist Zehnder von der Autonomiesuisse erklärt: «Der Preis der bilateralen Verträge ist zu hoch», die Schweiz müsse sich «regulatorisch von Europa unterscheiden», um sich von der Konkurrenz abzuheben – etwa durch das unternehmerfreundliche Steuergesetz und das arbeiterfeindliche Arbeitsgesetz.

Der «Königsweg» ist tot. Eine gute Lösung für die Schweizer Kapitalisten gibt es heute nicht mehr. Sie brauchen geregelte und vorteilhafte Beziehungen zu ihrem wichtigsten Handelspartner. Andererseits – wer will sich schon fester an ein offensichtlich sinkendes Schiff ketten? Die Schweiz ist mitten in Europa und kann nicht fliehen – doch die EU ist der schwächste Block im imperialistischen Kräftemessen. Und doch – was bleibt schon anderes übrig, zumal die Beziehungen zu den USA und China noch unsicherer sind?

Als wäre das für die Bourgeoisie nicht aussichtslos genug, werden die Befürworter der Bilateralen noch von links durch die Gewerkschaften in die Zange genommen. Diese pochen darauf, den Lohnschutz zu erhalten. Und am Ende, wohl erst 2027 oder 2028, müssen sie das Vertragspaket auch noch beim Stimmvolk durchbringen.

Es ist Ausdruck der Sackgasse des Schweizer Kapitalismus, dass die herrschende Klasse in einer so wichtigen Frage ohne Einheit und ohne Überzeugungskraft auftreten kann. Es stehen turbulente Zeiten bevor, in denen sich solche Widersprüche zur Krise der gesamten bürgerlichen Institutionen zuspitzen werden.

Für eine sozialistische Föderation Europas

Welche Position vertreten die Revolutionären Kommunisten zur Frage Schweiz – EU? Wir gehen immer vom Standpunkt der Arbeiterklasse aus, unabhängig von den Interessen der Schweizer Kapitalisten. 

Wir unterstützen die Gewerkschaften, insofern sie sich konsequent gegen die Angriffe auf den Lohnschutz stellen. Wir kritisieren sie, wenn sie dabei beginnen, für die Bilateralen zu werben. Bilaterale ja oder nein – das ist das Dilemma und die Sackgasse der Bourgeoisie, nicht der Arbeiterklasse. Sowohl der SVP-Isolationismus als auch die Annäherung an die EU sind verzweifelte Versuche der Kapitalisten, ihre Profite zu retten.

Auf der Grundlage des Kapitalismus gibt es keine progressive Lösung. Ob mit oder ohne Verträge, der Schweizer Kapitalismus bleibt voll integriert in ein kapitalistisches Europa im endgültigen Niedergang. Für ihre Krise lassen sie in jedem Fall die Arbeiterklasse zahlen. 

Der einzige Weg vorwärts liegt im revolutionären Klassenkampf gegen die Bourgeoisie in der Schweiz und in ganz Europa. Die einzige Lösung im Interesse der Arbeiterklasse liegt in der Verstaatlichung der Unternehmen und der Überwindung der Nationalstaaten. Wir kämpfen für eine sozialistische Schweiz als Teil einer sozialistischen Föderation Europas.