Am 21. Januar 2024 jährt sich zum hundertsten Mal der Todestag von Wladimir Iljitsch Uljanow, der Welt besser bekannt als Lenin. Er war zweifellos einer der grössten Revolutionäre, die je gelebt haben. Durch seine Rolle in der Führung der bolschewistischen Partei veränderte dieser herausragende Mann buchstäblich den Lauf der Geschichte.
Lenins ganzes Leben war der Befreiung der Arbeiterklasse gewidmet, was mit dem Sieg der Oktoberrevolution 1917 seinen Höhepunkt fand. Die Bedeutung dieses Ereignisses wurde von Rosa Luxemburg treffend beschrieben:
„Was eine Partei in geschichtlicher Stunde an Mut, Tatkraft, revolutionären Weitblick und Konsequenz aufzubringen vermag, das haben Lenin, Trotzki und Genossen vollauf geleistet. Die ganze revolutionäre Ehre und Aktionsfähigkeit, die der Sozialdemokratie im Westen gebrach, war in den Bolschewiki vertreten. Ihr Oktoberaufstand war nicht nur eine tatsächliche Rettung für die russische Revolution, sondern auch eine Ehrenrettung des internationalen Sozialismus.“
Rosa Luxemburg (1922): Die Russische Revolution. Verlag Gesellschaft und Erziehung, S. 81.
Zum ersten Mal, abgesehen von der heroischen, aber kurzen Episode der Pariser Kommune, eroberte die Arbeiterklasse die Macht und konnte sie auch halten. Aus diesem Grund kann die Oktoberrevolution als das grösste Ereignis der Geschichte angesehen werden. Unabhängig von den nachfolgenden Entwicklungen stellt sie ein unvergänglicher Sieg dar, der niemals zunichte gemacht werden kann.
Genau aus diesem Grund ist Lenin für die herrschende Klasse und ihre Apologeten zur meistgehassten und verleumdeten Persönlichkeit der Geschichte geworden.
Während bürgerliche Kommentatoren Marx für seine Analyse des Kapitalismus gelegentlich ein zweideutiges Kompliment machen, obwohl sie seine revolutionären Schlussfolgerungen natürlich ablehnen, ist Lenin ohne Wenn und Aber zum Feindbild erklärt worden. Das sollte uns allerdings nicht überraschen.
Genau wie seinerzeit die niederträchtigen Angriffe der englischen Presse auf die Französische Revolution, so denunzieren die Schreiberlinge des Kapitalismus Lenin und die Russische Revolution. Ihr Ziel ist es, sie zu diskreditieren und ihre wahre Bedeutung aus der Geschichte zu tilgen. Seit über einem Jahrhundert ist dies ihre Aufgabe.
So wird Lenin als „Diktator“, als deutscher Agent, als zaristischer Agent, als neuer Zar und schliesslich als Vorläufer von Stalin und dem Stalinismus dargestellt. Das Getöse hat sich zu einem Crescendo entwickelt.
Die Geschichten, mit denen sie hausieren gehen, sind so lächerlich, dass man sich schon beim Lesen fremdschämen muss. Es gibt buchstäblich Hunderte dieser ignoranten „Historiker“, die alle das gleiche Lied singen und alle die gleichen absurden, schauerlichen Behauptungen über Lenin aufstellen. Nur wenige, wenn es überhaupt welche gibt, sind es wert, gelesen zu werden. Selbst die „ausgefeilteren“ Werke über Lenin sind mit Gift durchsetzt.
Dieses Beispiel stammt aus der giftigen Feder von Anthony Read:
„Der Bolschewismus wurde auf einer Lüge gegründet und schuf ein Exempel, dem die nächsten 90 Jahre lang gefolgt werden sollte. Lenin hatte keine Zeit für Demokratie, kein Vertrauen in die Massen und keine Skrupel vor Gewaltanwendung. Er wollte eine kleine, straff organisierte und streng disziplinierte Partei von hartgesottenen Berufsrevolutionären, die genau das tun würden, was man ihnen sagte.“
Antohny Read (2008): The World on Fire. W. W. Norton & Co, S. 5f – eigene Übersetzung.
„Hier lagen die Keime der Terrorherrschaft, des totalitären Strebens nach vollständiger Kontrolle des öffentlichen Lebens und der öffentlichen Meinung,“ schreibt Richard Pipes in einer Horrorstory, die Menschen mit nervöser Veranlagung erschrecken soll.1
„Lenin war der erste moderne Parteiführer, der zum Status eines Gottes aufstieg: Stalin, Mussolini, Hitler und Mao Tse-tung waren alle in dieser Hinsicht seine Nachfolger,“ schreibt Orlando Figes, der sich von den anderen „Historikern“ nicht übertreffen lassen will.2
Diese gut betuchten und gut bezahlten Scharlatane werden niemals aufgeben. Ihre Lügenkampagne wird weitergehen, bis der Kapitalismus selbst gestürzt ist. Wir sollten sie wie die Hexen in Macbeth mit ihrer schmutzigen Arbeit allein lassen.
Trotz all ihrer Bemühungen, die Jugend gegen Lenin und den Bolschewismus aufzubringen, verläuft dieses Vorhaben nicht nach Plan. Wie so oft beginnen die Menschen, die offizielle „Erzählung“ zu hinterfragen. Zum Unglück der literarischen Lakaien der Bourgeoisie funktioniert ihr antikommunistisches Gefasel nicht so, wie es sollte!
Wie Professor Figes selbst zugeben muss, sind „die Geister von 1917 noch nicht zur Ruhe gekommen.“3 Und angesichts der Zeit, in die wir eingetreten sind, werden sie es auch nicht.
Wir befinden uns in einer Zeit beispielloser Verwerfungen. Der Kapitalismus als sozioökonomisches System hat sich selbst erschöpft, und Dutzende von Millionen Menschen weltweit stellen seine Legitimität in Frage. Sie suchen aktiv nach einem Ausweg aus dieser Sackgasse. Die alten Parteien sind jedoch zunehmend diskreditiert, und Millionen Menschen haben die Nase voll von den weichgespülten Reformisten jeglicher Schattierung, die das System immer nur bis zu einem gewissen Grad „reformieren“ wollen. Doch dieser Versuch ist ein so hoffnungsloses Unterfangen, wie von einem Leoparden zu verlangen, seine Flecken zu wechseln, oder den Ozean zu versuchen, mit einem Löffel auszuschöpfen.
Lenin ist ein Riese im Vergleich zu all den linken und rechten Arbeiterführer, die in der Praxis das kapitalistische System akzeptiert haben. Auch sie und die Bourgeoisie betrachten Lenin entweder mit Schrecken oder bestenfalls als „veraltet“, da seine Ideen keinen Wert oder keine Bedeutung mehr hätten.
Aber Lenin und seine Ideen lassen sich nicht so einfach beseitigen.
„Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist. Sie ist in sich geschlossen und harmonisch, sie gibt den Menschen eine einheitliche Weltanschauung, die sich mit keinerlei Aberglauben, keinerlei Reaktion, keinerlei Verteidigung bürgerlicher Knechtung vereinbaren lässt.“
W. I. Lenin (1913): Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus, in LW Bd. 19. Dietz Verlag, Berlin, S. 3f.
Es ist eine Theorie um die Welt zu verändern, in ihr sind Theorie und Praxis nicht getrennt, sondern bilden ein einheitliches Ganzes. Deshalb hat Lenin, ein überzeugter Marxist, sein Leben dem Sieg der sozialistischen Weltrevolution gewidmet. In dieser Hinsicht ist er ein Vorbild für klassenbewusste Arbeiter überall.
Heute gibt es ein wachsendes Interesse an Lenin und seinen Ideen, und den Versuch, vor allem von vielen jungen Menschen, das wahre Programm des Leninismus und Bolschewismus wiederzuentdecken. Dieses Interesse und die tiefe Krise des kapitalistischen Systems zeigen die Bedeutung Lenins für das Hier und Jetzt.
Lenin stand auf den Schultern von Marx und Engels und setzte deren Ideen in die Praxis um. Der Leninismus ist schlicht und einfach der Marxismus in der imperialistischen Epoche von Revolution und Konterrevolution.
Angesichts des unerbittlichen Kampfes gegen die alte kapitalistische Ordnung betonte Lenin die entscheidende Notwendigkeit, eine disziplinierte und theoretisch geschulte Partei aufzubauen. Er war ein Revolutionär mit einem solchen Weitblick, dass ihm nur die Rolle des Führers der furchtlosesten Partei gerecht werden konnte. Jener Partei, die in der Lage war, seine Gedanken und Handlungen zu ihrem logischen Abschluss zu bringen. Er verband sein Schicksal mit dem Schicksal der proletarischen Partei und ihrer Ziele.
Angesichts des Verrats der alten sozialdemokratischen Führer war es unerlässlich, dass eine neue revolutionäre Führung geschaffen wurde. Dies bedeutete, dass neue kommunistische Parteien gegründet werden mussten, um die Arbeiterklasse zu organisieren und die Macht zu übernehmen. Im Gegensatz zu den alten reformistischen Parteien, die grösstenteils zu Wahlkampfmaschinen geworden waren, sollten diese neuen Parteien nach dem Vorbild der bolschewistischen Partei gegründet werden, sowohl was die Organisation als auch was die revolutionäre Ausrichtung betrifft.
„Aber im gegebenen historischen Zeitpunkt liegen die Dinge nun einmal so, dass das russische Vorbild allen Ländern etwas, und zwar etwas überaus Wesentliches aus ihrer unausweichlichen und nicht fernen Zukunft zeigt“, erklärte Lenin in Der „Linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus.
W. I. Lenin (1920): Der „Linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus, in LW Bd. 31. Dietz Verlag, Berlin, S. 6.
„Nur die Geschichte des Bolschewismus in der ganzen Zeit seines Bestehens vermag befriedigend zu erklären, warum er imstande war, die für den Sieg des Proletariats notwendige eiserne Disziplin zu schaffen und sie unter den schwierigsten Verhältnissen aufrechtzuerhalten.“
Ebd., S. 9.
Die bolschewistische Partei war aufgrund ihrer einzigartigen Geschichte und der Rolle von Lenin in der Lage, eine solche Rolle zu spielen. Wie er erklärte:
„Den Marxismus als die einzig richtige revolutionäre Theorie hat sich Russland wahrhaft in Leiden errungen, durch ein halbes Jahrhundert unerhörter Qualen und Opfer, beispiellosen revolutionären Heldentums, unglaublicher Energie und hingebungsvollen Suchens, Lernens, praktischen Erprobens, der Enttäuschungen, des Überprüfens, des Vergleichens mit den Erfahrungen Europas. Dank dem vom Zarismus aufgezwungenen Emigrantenleben verfügte das revolutionäre Russland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts über eine solche Fülle von internationalen Verbindungen, aber eine so vortreffliche Kenntnis aller Formen und Theorien der revolutionären Bewegung der Welt wie kein anderes Land auf dem Erdball.“
Ebd., S. 10.
Die bolschewistische Partei unter Lenin war die revolutionärste Partei der Geschichte. Lenin verstand, dass eine solche Partei aufgebaut werden musste, bevor die revolutionären Ereignisse ausbrachen. Sie konnte keinesfalls improvisiert oder spontan während einer Revolution gegründet werden, da dies viel zu spät sein würde. Die gesamte Erfahrung der Vergangenheit bestätigte diese Analyse.
Zunächst war es wichtig, ein Netzwerk marxistischer Kader zu schaffen, das als Rahmen dienen sollte, um den herum schliesslich eine Massenpartei aufgebaut werden konnte. Da die Revolution eine ernste Angelegenheit war, setzte sich Lenin für die Schaffung einer Partei von „Berufsrevolutionären“ ein, die sich ganz der Revolution widmen würden.
Ausserdem müsse die revolutionäre Partei auf dem Fundament der marxistischen Theorie gegründet werden. „Ohne revolutionäre Theorie kann es auch keine revolutionäre Bewegung geben“, erklärte Lenin in seinem Werk Was tun?, das dem Aufbau einer solchen Partei gewidmet ist.4 Er war der theoretische Torwächter der Partei, die unter seiner Führung ihre eigene proletarische Moral entwickelte, die ganz auf den Interessen der sozialistischen Revolution beruhte.
Für Lenin war dieser Kampf um die marxistische Theorie eine zentrale Aufgabe. Daher bestand die Rolle von Lenins Iskra darin, den „entschlossene[n] und hartnäckige[n] Kampf für die Grundlagen des Marxismus“ zu führen.5
Lenin schrieb Was tun? in einer Zeit des theoretischen Rückschritts und des Revisionismus innerhalb der russischen Sozialdemokratie. Ein grosser Teil von Lenins Pamphlet ist der Widerlegung der Argumente der Strömung der Ökonomisten gewidmet, die im Namen der „Spontanität“ und als Vorläufer des „Workerismus“ auf den politischen Kampf verzichtet. Aber auch der Einfluss des sogenannten „Legalen Marxismus“, der den Marxismus seines revolutionären Inhalts beraubte, musste bekämpft werden.
Für Lenin erforderte die Verteidigung der marxistischen Theorie mehr als die Wiederholung alter Formeln; sie bedeutete eine Anwendung der marxistischen Methode auf die konkrete Situation. Es war wichtig, die Theorie nicht der Realität aufzuzwingen, sondern die Realität bot den Ausgangspunkt. Wie Lenin warnte, kann die Theorie, wenn sie auf ein abstraktes Dogma reduziert wird, zur Rechtfertigung des Revisionismus missbraucht werden:
„Der Marxismus ist eine ausserordentlich tiefe und vielseitige Lehre. Kein Wunder darum, dass Bruchstücke von Marx-Zitaten – besonders wenn sie an unpassender Stelle angeführt werden – stets unter den ‚Argumenten‘ derer anzutreffen sind, die mit dem Marxismus brechen.“
W. I. Lenin (1917): Brief an die Genossen, in LW Bd. 26. Dietz Verlag, Berlin, S. 200.
Er betonte, dass der Marxismus kein lebloses Dogma oder eine fertige, unveränderliche Doktrin sei, sondern eine lebendige Anleitung zum Handeln. Das bedeutet, dass es von entscheidender Bedeutung ist, die Ideen des Marxismus mit der realen Situation in Verbindung zu bringen und sich nicht in Fantastereien zu ergehen. „Die Wahrheit ist konkret“, wiederholte er oft. Die grosse Prüfung für Revolutionäre bestand darin, diese Ideen mit der realen Bewegung der Arbeiterklasse zu verbinden. Auf diese Weise könnten sie Unterstützung gewinnen und Früchte tragen.
Lenin hatte stets eine feste Position in prinzipiellen Fragen, war allerdings bei organisatorischen und taktischen Fragen sehr flexibel. Dies war eine von Lenins grossen Stärken. Er verstand, dass der Aufbau einer echten kommunistischen Partei, wie bei der bolschewistischen Partei, kein geradliniger Weg war. Um die Arbeiter zu gewinnen, vor allem diejenigen, die noch unter dem Einfluss der reformistischen Parteien standen, war eine flexible Taktik erforderlich. Dies war keine Nebensache. In seinem wunderbaren Werk Der Linke Radikalismus, die Kinderkrankheit im Kommunismus erklärt Lenin:
„Es fehlt nur eins, damit wir dem Siege sicher und fest entgegenschreiten: nämlich dass alle Kommunisten in allen Ländern durchweg und restlos die Notwendigkeit erkennen, in ihrer Taktik äusserst elastisch zu sein. Dem sich grossartig entwickelnden Kommunismus fehlt jetzt, besonders in den fortgeschrittenen Ländern, diese Erkenntnis und die Fähigkeit, diese Erkenntnis in der Praxis anzuwenden.“
Lenin: Linke Radikalismus, S. 89.
Lenin entwickelte ein ausgeprägtes Gespür für die Situation und war in der Lage, die Dinge richtig einzuschätzen, wenn sich die Ereignisse überschlugen. Er war in der Lage zu unterscheiden, was wesentlich und was zweitrangig war.
Wie Trotzki erklärte:
„Mit dem revolutionären Blick voranzudringen, das Hauptsächliche, Grundlegende, Wichtigste zu bemerken und darauf hinzuweisen, diese Begabung ist Lenin im höchsten Masse eigen. Und die, denen es, wie uns, in dieser Periode beschert war, die Arbeit Wladimir Iljitschs, die Arbeit seines Denkens, von der Nähe aus zu beobachten, die konten nicht umhin, ihm schrankenlose Bewunderung zu zollen – ich wiederhole: schrankenlose Bewunderung für jene Begabung des durchdringenden, bohrenden Gedankens, der alles Äusserliche, Zufällige, Oberflächliche fortfegt und die grundlegenden Wege und Methoden des Handelns festlegt. Die Arbeiterklasse lernt nur die Führer schätzen, die, nachdem sie den Weg der Entwicklung entdeckt haben, unerschüttert weitergehen, auch wenn die Vorurteile des Proletariats sich ihnen bisweilen als Hindernisse entgegenstellen.“
Leo Trotzki (2014): Über Lenin. Mehring Verlag, S. 161f.
Vor allem war Lenin in der Lage, sich vorausschauend an die sich vollziehenden Veränderungen anzupassen. Dies erforderte in der Regel eine Änderung der Taktik, um den neuen Erfordernissen der Situation zu entsprechen. Auch diese Änderungen waren nicht immer einfach und konnten zu scharfen Polemiken innerhalb der Partei führen. Nicht umsonst war der Bolschewismus als eine Schule der harten Schläge bekannt.
In jeder Phase der Entwicklung der Partei, von den ersten Zirkeln des Untergrunds über die Massenarbeit von 1905 bis hin zu 1917 und darüber hinaus, musste Lenin den Widerstand derjenigen überwinden, die an den Methoden der Vergangenheit festhielten. Bei jeder vorgeschlagenen Änderung der Taktik stiess er im Allgemeinen auf heftigen Widerstand. Der Grund für diesen Widerstand war, dass das Leben der Partei immer eine gewisse Routine entwickelt. Wenn sich die Situation ändert, geraten diese Routinen in Konflikt mit den neuen Anforderungen. Hierfür gibt es viele Beispiele.
Der Versuch Lenins, die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) auf dem Zweiten Parteitag 1903 zu professionalisieren und von der informellen Zirkelmentalität der Anfangszeit wegzubringen, führte schliesslich zur Spaltung zwischen Bolschewiki und Menschewiki.
Die Revolution von 1905 eröffnete neue Herausforderungen. Um das Potenzial der neuen Situation zu nutzen, versuchte Lenin, mit den Methoden der Untergrundarbeit zu brechen. Dies brachte ihn in Konflikt mit den sogenannten Komiteeleuten. Diese waren engagierte Revolutionäre, die unter den Bedingungen der Untergrundarbeit aufgewachsen und davon geprägt waren. Als sich die Möglichkeit eröffnete, legal zu arbeiten, fiel es ihnen schwer, sich anzupassen, und sie wurden zu einem Hindernis. Dies führte zu einem gewaltigen Zerwürfnis.
Doch Lenin war nicht bereit, aufzugeben. Die neuen Möglichkeiten verlangten ein Umdenken. Dabei musste er sich mit den Komiteeleuten und ihren Methoden auseinandersetzen. Es war an der Zeit, die Partei zu öffnen! Lenin nahm dabei kein Blatt vor den Mund:
„Wir brauchen junge Kräfte. Ich würde empfehlen, jeden einfach an die Wand zu stellen, der zu behaupten wagt, es gäbe keine Menschen. In Russland gibt es unzählig viele Menschen, man muss nur werben, breiter und kühner, kühner und breiter, noch breiter und noch kühner unter der Jugend werben, ohne sie zu fürchten. Jetzt ist Krieg. Die Jugend wird den Ausgang des ganzen Kampfes entscheiden, sowohl die Studentenjugend als auch – noch viel mehr – die Arbeiterjugend. Macht Schluss mit all den alten Gewohnheiten der Schwerfälligkeit, der Titelanbetung usw. Gründet Hunderte Zirkel aus jugendlichen ‚Wperjod‘-Anhängern und spornt sie an, mit aller Kraft zu arbeiten.“
W. I. Lenin (1905): Brief an A. A. Bogdanow und S. J. Gussew, in LW Bd. 8. Dietz Verlag, Berlin, S. 134.
Lenin forderte die bolschewistische Führung auf, mit dem alten Routinismus zu brechen und die Organisation auf den bevorstehenden Kampf einzustellen. Andernfalls bestand die reale Gefahr, dass die neuen Chancen, die sich der Partei boten, vertan würden. Erneut fordert Lenin zum Handeln auf:
„Aber unbedingt organisieren, organisieren und noch einmal organisieren, Hunderte von Zirkeln, und dabei mit den üblichen (hierarchischen) Torheiten der Komitees radikal Schluss machen. Es ist Krieg. Entweder überall neue, junge frische, energische Kampforganisationen für die revolutionäre sozialdemokratische Arbeit aller Arten, aller Formen und unter allen Schichten – oder ihr werdet untergehen mit dem Ruhm, ‚Komitee‘leute in Amt und Würden gewesen zu sein.“
Ebd., S. 134f.
Der routinistische Ansatz einiger bolschewistischer Führer erstreckte sich auch auf ihre Position gegenüber den neu gebildeten Sowjets. Die Sowjets wurden spontan von den kämpfenden Arbeitern gegründet und waren erweiterte Streikkomitees. Sie wurden schon bald zu einer Gegenmacht zum alten zaristischen Regime.
Anstatt diese neuen Formationen der Arbeiterklasse zu begrüssen, betrachteten einige der alten bolschewistischen Führer sie als Konkurrenz zur Partei. Sie verfolgten einen völlig sektiererischen Ansatz. Es bedurfte des persönlichen Eingreifens von Lenin, um diesen Fehler zu korrigieren. Tatsächlich betrachtete Lenin die Sowjets als „die Keimzelle der Arbeiterregierung“,6 was seine Weitsicht bewies und sich in den Ereignissen von 1917 bestätigte.
1905 wurde die SDAPR, die sich sowohl aus einer menschewistischen als auch einer bolschewistischen Fraktion zusammensetzte, in eine Massenpartei umgewandelt. Dies zeigte das enorme Potenzial, das in dieser Situation steckte, aber es war nicht von Dauer.
Die Niederlage der Revolution von 1905 läutete in Russland eine Periode blutiger Reaktion ein. Die Bewegung erlitt einen schweren Rückschlag. Dies wiederum führte zu vielen Austritten aus der Partei, vor allem von den eher kleinbürgerlichen Elementen, die dem Druck nicht standhielten. Die Stimmung in der Partei war sehr schlecht und die Bolschewiki waren auf einen kleinen Kern reduziert.
In diesen Jahren der Reaktion gab es viele Probleme. Lenin war gezwungen, mit denjenigen zu brechen, die der Verzweiflung erlegen waren und zum Ultralinksradikalismus übergingen, wie z.B. jene Bolschewiki, die darauf bestanden, die Wahlen zur Staatsduma noch lange nach der Niederlage der Revolution zu boykottieren, oder jene, die die Partei ganz auflösen wollten (die „Liquidatoren“).
Erneut musste Lenin einen Kampf auf theoretischer Ebene führen, diesmal gegen jene, die versuchten, die grundlegendsten philosophischen Prinzipien der marxistischen Bewegung, einschliesslich des Materialismus selbst, zu revidieren. In dieser Zeit schrieb Lenin Materialismus und Empiriokritizismus als Polemik gegen einen Trend in der russischen marxistischen Bewegung, der sich vom dialektischen Materialismus abwandte und sich der philosophischen Sackgasse des subjektiven Idealismus zuwandte.
Auf organisatorischer Ebene hatte es nach der Revolution von 1905 Versuche gegeben, die menschewistische und die bolschewistische Fraktion zu fusionieren. Wachsende politische Differenzen hatten dies jedoch verhindert. Die Menschewiki sahen in den Liberalen die Kraft, die die Revolution anführen sollte, während sich die Bolschewiki auf die Arbeiter und armen Bauern stützten. Schliesslich gingen sie getrennte Wege, und die bolschewistische Partei wurde im April 1912 formell gegründet.
Es wurde der Mythos geschaffen, dass Lenin die bolschewistische Partei mit eiserner Hand regierte, was eindeutig nicht der Fall war. Es gab viele Ereignisse, in denen Lenin in der Minderheit war, sogar innerhalb der Führung. Lenins Autorität beruhte nicht darauf, mit dem Knüppel zu schwingen. Die einzige Autorität die er hatte, war seine politische Autorität, die auf einer geduldigen Herangehensweise fusste.
Als Lenin 1917 mit der Februarrevolution konfrontiert wurde, fand die von ihm vertretene neue Taktik wenig Unterstützung.
Die Revolution hatte zum Sturz des Zarismus geführt und eine Provisorische Regierung aus Vertretern der Bourgeoisie hervorgebracht. Gleichzeitig hatten die russischen Arbeiter in noch grösserem Umfang als 1905 Sowjets gebildet. Die bolschewistischen Führer in Russland – insbesondere Kamenjew und Stalin – waren von der Revolution und dem Gefühl der „Einheit“, das in den ersten Tagen herrschte, berauscht. Infolgedessen nahmen sie eine völlig falsche Haltung gegenüber der Provisorischen Regierung ein. Anstatt die Regierung zu bekämpfen, unterstützten sie sie „kritisch“, einschliesslich ihrer Unterstützung für den imperialistischen Krieg.
Lenin war darüber sehr aufgebracht. Noch während er versuchte, von der Schweiz nach Russland zu gelangen, schrieb er eine Reihe von Artikeln – seine Briefe aus der Ferne, die die Grundlage für seine berühmten Aprilthesen bildeten -, in denen er sich gegen die kapitalistische Provisorische Regierung wandte und eine neue Revolution forderte.
Die Bolschewiki waren lange Zeit mit der Perspektive einer „demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ aufgewachsen, verbunden mit der Idee, eine sozialistische Revolution im Westen auszulösen. Während diese Formulierung die kommende Revolution als eine bürgerliche Revolution betrachtete, die die Überreste des Feudalismus hinwegfegen und den Boden für die kapitalistische Entwicklung bereiten sollte, würde die Führung dieser Revolution nicht der Bourgeoisie zufallen, da diese eine konterrevolutionäre Rolle spielte, sondern den Arbeitern und Bauern. Diese Formel hatte jedoch insofern einen algebraischen Charakter, als die Frage, welche Klasse in diesem Bündnis die führende Rolle spielen würde, als eine „unbekannte Grösse“ offen gelassen wurde.
Die bolschewistische Position stand in deutlichem Gegensatz zu den Menschewiki, die sagten, die Revolution sei bürgerlich und müsse daher von der Bourgeoisie angeführt werden. Die Arbeiter sollten in ihren Augen nur eine unterstützende Rolle spielen.
Trotzki hingegen hatte seine eigene Theorie der „permanenten Revolution“ als Perspektive für Russland aufgestellt. Er stimmte zwar mit den Bolschewiki darin überein, dass die Bourgeoisie konterrevolutionär sei, glaubte aber, dass die einzige Klasse, die in der Lage sei, die Revolution anzuführen, die Arbeiterklasse sei, unterstützt von den armen Bauern. Anstatt jedoch eine „demokratische Diktatur“ zu errichten, plädierte Trotzki für eine Arbeiterregierung, die zunächst den Feudalismus beseitigen (die „demokratischen“ Aufgaben löst), dann aber zu den sozialistischen Aufgaben übergehen sollte. Diese sozialistische Revolution würde ihrerseits die Revolution im Westen anstossen, die der russischen Arbeiterklasse zu Hilfe käme. Dadurch erhält sie ihren „permanenten“ Charakter.
Die von Lenin im April 1917 vertretene Position ist im Wesentlichen identisch mit jener von Trotzki. Dagegen wehrten sich jedoch die „alten, bolschewistischen“ Führer, die an der ursprünglichen Formel der „demokratischen Diktatur“ festhielten.
Lenin war gezwungen, seine gesamte politische Autorität einzusetzen, um die Richtung der Partei zu ändern. Auf diese Weise musste er sich mit den selbsternannten „Altbolschewiken“ auseinandersetzen, die ihn des „Trotzkismus“ beschuldigten!
Angesichts des Rückfalls der bolschewistischen Führer und in Anbetracht dessen, was auf dem Spiel stand, nahm Lenin den Kampf auf:
„Ich persönlich zögere keinen Augenblick zu erklären, und zwar in der Presse zu erklären, dass ich sogar den sofortigen Bruch mit beliebigen Leuten unserer Partei irgendwelchen Zugeständnissen an den Sozialpatriotismus der Kerenski und Co. oder an den Sozialpazifismus und das Kautskyanertum der Tscheidse und Co. vorziehe.“
W. I. Lenin (1917): Brief an J.S. Hanecki, in LW Bd. 35. Dietz Verlag, Berlin, S. 287.
„Den Arbeitern muss man die Wahrheit sagen. Man muss ihnen sagen, dass die Regierung Gutschkow-Miljukow und Co. eine imperialistische Regierung ist, dass die Arbeiter und Bauern zuerst (…) die ganze Staatsmacht der Arbeiterklasse übergeben müssen, die ein Gegner des Kapitals und ein Gegner des imperialistischen Krieges ist, und dass sie erst dann das Recht haben, zum Sturz aller Könige und aller bürgerlichen Regierungen aufzurufen.“
Ebd., S. 289.
Dann wandte er sich an die „alten Bolschewiki“:
„Hier erhebt sich lärmender Widerspruch, und zwar von Leuten, die sich gern ‚alte Bolschewiki‘ nennen: Haben wir denn nicht stets gesagt, dass die bürgerlich-demokratische Revolution erst durch die ‚revolutionär-demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft‘ abgeschlossen wird? Ist denn etwa die Agrarrevolution, die ja auch eine bürgerlich-demokratische Revolution ist, abgeschlossen? Ist es nicht, im Gegenteil, Tatsache, dass sie noch nicht begonnen hat?
Ich antworte: Die bolschewistischen Losungen und Ideen sind im Allgemeinen durch die Geschichte vollauf bestätigt worden, konkret aber haben sich die Dinge anders gestaltet als ich (oder wer auch immer) es erwarten konnte – origineller, eigenartiger, bunter.
Diese Tatsache ignorieren, sie vergessen, hiesse es jenen „alten Bolschewiki“ gleichzutun, die schon mehr als einmal eine traurige Rolle in der Geschichte unserer Partei gespielt haben, indem sie sinnlos eine auswendig gelernte Formel wiederholten, anstatt die Eigenart der neuen, der lebendigen Wirklichkeit zu studieren. (…)
Wer jetzt lediglich von ‚revolutionär-demokratischer Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft‘ spricht, der ist hinter dem Leben zurückgeblieben, der ist damit faktisch zum Kleinbürgertum übergegangen, der ist gegen den proletarischen Klassenkampf, der gehört in ein Archiv für ‚bolschewistische‘ vorrevolutionäre Raritäten (Archiv ‚alter Bolschewiki‘ könnte man es nennen). (…)
Jetzt gilt es, sich die unbestreitbare Wahrheit zu eigen zu machen, dass der Marxist mit dem lebendigen Leben, mit den exakten Tatsachen der Wirklichkeit rechnen muss, statt sich an die Theorie von gestern zu klammern, die, wie jede Theorie, bestenfalls nur das Grundlegende, Allgemeine aufzeigt und die Kompliziertheit des Lebens nur annähernd erfasst.‚Grau, teurer Freund, ist alle Theorie und grün des Lebens goldner Baum.‘
W. I. Lenin (1917): Briefe über die Taktik, in LW Bd. 24. Dietz Verlag, Berlin, S. 26ff.
Wer die Frage, ob die bürgerliche Revolution ‚abgeschlossen‘ sei, in der alten Weise stellt, der opfert den lebendigen Marxismus dem toten Buchstaben.“
Anfang April 1917 war Lenin innerhalb der bolschewistischen Partei völlig isoliert, als er die neue Perspektive der sozialistischen Revolution aufstellte. Die alte Führung war zu einem Hindernis geworden, wie bei den früheren Komiteeleuten. Die einzige Führerin, die ihn unterstützte, war Kollontai. Die anderen waren dagegen.
Doch mit der Kraft von Lenins Argumenten und der Erfahrung der Bolschewiki an der Basis gelang es ihm bald, die Mehrheit der Partei für sich zu gewinnen und den Kurs auf die Oktoberrevolution zu lenken.
Selbst dann, im Oktober 1917, in den Tagen vor dem Aufstand, stiess er innerhalb der Führung auf Widerstand, vor allem bei Sinowjew und Kamenjew, die ihm seit Jahren zur Seite gestanden hatten. Wieder musste er seine gesamte politische Autorität in den Ring werfen, um den Erfolg des Aufstandes zu sichern.
Alles hatte ihn auf diesen Moment vorbereitet. „Sie wagten es!“, um Rosa Luxemburg zu zitieren. Lenin hatte die Ideen des Marxismus in die Praxis umgesetzt. Mehr konnte man von den russischen Arbeitern nicht verlangen. Sie hatten den Kapitalismus und die Herrschaft der Grossgrundbesitzer hinweggefegt und eine Sowjetrepublik der Werktätigen errichtet.
Für Lenin war die Oktoberrevolution aber kein Selbstzweck, sondern nur der Startschuss für die Eroberung der weltweiten Macht durch die Arbeiterklasse. Dieser Internationalismus entsprang keinen sentimentalen Gründen, sondern aus dem internationalen Charakter des Kapitalismus, der die materielle Grundlage für eine neue klassenlose Gesellschaft geschaffen hatte. Insbesondere schuf er eine internationale Arbeiterklasse, deren historische Aufgabe es ist, zum Totengräber des Kapitalismus zu werden.
Auf dieser soliden Grundlage formulierte Lenin bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 eine prinzipientreue, klassenbasierte Position, als die Parteien der Zweiten Internationale sich alle zur Verteidigung ihrer „eigenen“ Kapitalistenklasse aufstellten. Dieser Kampf um das Banner des proletarischen Internationalismus, in dem sich Lenin in einer winzigen Minderheit befand, sollte 1917 im revolutionären Sturz des Kapitalismus in Russland und 1919 in der Gründung der Kommunistischen Internationale als Weltpartei der sozialistischen Revolution gipfeln.
Lenin hatte sich nie mit der Idee des „Sozialismus in einem Land“ abgegeben, wie sie Jahre später von den Stalinisten vertreten wurde. Dies war das Gegenteil seiner Perspektive der Weltrevolution. Für Lenin diente die Russische Revolution nicht dazu, den „russischen Sozialismus“ aufzubauen, was unter solch rückständigen Bedingungen ein völliger Unsinn war. Der Sieg in Russland, der eine proletarische Hochburg schuf, sollte der Ausgangspunkt für die Weltrevolution sein. Es ist kein Zufall, dass er betont, dass die russische Revolution ohne die Revolution im Westen zum Scheitern verurteilt sei.
Wie Lenin selbst am 29. Juli 1918 erklärte:
„Wir haben uns aber niemals Illusionen gemacht, dass man mit den Kräften des Proletariats und der revolutionären Massen irgendeines einzelnen Landes, wie heroisch sie auch gesinnt, wie vorzüglich sie auch organisiert und diszipliniert sein mögen, dass man mit den Kräften des Proletariats eines Landes den Weltimperialismus stürzen könnten – das kann nur durch die gemeinsamen Anstrengungen des Proletariats aller Länder geschehen. (…)
[W]ir machten uns aber keine Illusionen, dass unser Ziel mit den Kräften eines Landes erreicht werden könne. Wir wussten, dass unsere Anstrengungen unausbleiblich zur Weltrevolution führen werden und dass der Krieg, den die imperialistischen Regierungen begonnen haben, unmöglich von diesen Regierungen beendet werden kann. Beendet werden kann er nur durch die Anstrengungen des gesamten Proletariats, und es war unsere Aufgabe, als wir, eine proletarische, kommunistische Partei, an die Macht gelangten (…) diese Macht zu behaupten, damit von dieser Fackel des Sozialismus weiterhin möglichst viele Funken auf den sich verstärkenden Brand der sozialistischen Revolution fallen.“ W. I. Lenin (1918): Rede in der gemeinsamen Sitzung des gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees, des Moskauer Sowjets, der Betriebskomitees und der Gewerkschaften Moskaus, in LW Bd. 28. Dietz Verlag, Berlin, S. 9f.
Diese Idee wurde von Lenin immer wieder ausgesprochen. Lenin verliess sich voll und ganz auf den Erfolg der Weltrevolution und arbeitete daran, diesen herbeizuführen. Ohne einen solchen Erfolg waren sie dem Untergang geweiht.
Die antimarxistische Theorie des „Sozialismus in einem Land“ wurde jedoch zum Eckpfeiler des Stalinismus. Das Akzeptieren dieses Punktes wurde sogar zu einer Bedingung für die Mitgliedschaft in den stalinistischen kommunistischen Parteien.
Nach den Enthüllungen Chruschtschows über Stalin auf dem 20. Parteitag 1956 kam es zu einer tiefen Krise in den Reihen der kommunistischen Parteien. Diese wurde durch die Niederschlagung der ungarischen Revolution durch russische Truppen später im selben Jahr noch verschärft. Alles, was den KP-Mitgliedern beigebracht worden war, wurde in Frage gestellt, und es gab viele Diskussionen über die Vergangenheit der Partei und die Bedeutung der Russischen Revolution.
Während der Diskussionen, als Lenin-Zitate gegen die Theorie des Sozialismus in einem Land vorgebracht wurden, waren einige führende KP-Mitglieder so verwirrt, dass sie sogar die Bedeutung der Oktoberrevolution in Frage stellten.
„Es ist mir nie gelungen (obwohl ich es immer wieder versuchte), einen Trotzkisten davon zu überzeugen, dass diese Zitate beweisen, dass Lenin ein verrückter Spieler war“, schrieb Alison Macleod, die für den Daily Worker (Zeitung der Kommunistischen Partei Grossbritanniens) arbeitete. „Welches Recht hatte er [Lenin], Kerenski zu stürzen, wenn die Machtergreifung in Russland nicht ausreichen würde? Welches Recht hatte er, Millionen von Menschenleben für eine Revolution in Deutschland aufs Spiel zu setzen, die er nicht zustande bringen konnte?“
Alison Macleod (1997): The Death of Uncle Joe. Merlin Press, S. 212 – eigene Übersetzung.
Völlig erschüttert und desillusioniert verliess Macleod im April 1957 die KP, nachdem sie ein Dutzend Jahre lang für den Daily Worker gearbeitet hatte, wie Tausende andere auch. Sie und viele andere waren von Moskau in krimineller Weise falsch erzogen und belogen worden. Infolgedessen kehrten viele der revolutionären Bewegung den Rücken.
Lenins Glaube an eine erfolgreiche Revolution in Deutschland war kein hoffnungsloses Glücksspiel, wie Macleod behauptet. Tatsächlich waren die Chancen auf einen Sieg im Jahr 1923 extrem hoch. Schliesslich war die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) die stärkste kommunistische Partei ausserhalb der Sowjetunion, und die Krise im Sommer 1923 (siehe letzte Ausgabe unseres Theoriemagazins) hatte eine revolutionäre Situation hervorgebracht. Die Massen suchten nach einem Ausweg und wandten sich an die KPD.
Leider war die Führung der KPD dieser Aufgabe nicht gewachsen. Als sie in Moskau um Rat suchte, war Lenin nach seinen Schlaganfällen ausser Gefecht gesetzt und Trotzki war verreist. Diejenigen, die sie berieten, waren Stalin und Sinowjew, die zur Zurückhaltung mahnten, als die deutsche Partei sich auf die Macht vorbereiten sollte. So wurde die Gelegenheit verpasst und zwar mit schrecklichen Folgen.
Eine erfolgreiche deutsche Revolution hätte den Lauf der Weltgeschichte völlig verändert. Sie hätte die Isolation Sowjetrusslands durchbrochen und eine gewaltige revolutionäre Krise in Europa ausgelöst. Ihre Niederlage führte jedoch zu einer bitteren Desillusionierung, insbesondere in Russland, die die Hand der sowjetischen Bürokratie stärkte und damit die Grundlage für den Stalinismus legte. Der Stalinismus wurde in der Folge zu einem massiven Hindernis für die Weltrevolution und ebnete mit seiner Theorie des „Sozialfaschismus“, die die deutsche Arbeiterklasse spaltete, den Weg für den Sieg Hitlers. Dies sollte dann zu den Schrecken des Zweiten Weltkriegs führen.
Dies alles war jedoch nicht vorherbestimmt. Eine erfolgreiche Revolution in Deutschland hätte eine solche Entwicklung verhindert. Aber was in Deutschland fehlte, war nicht eine kommunistische Massenpartei – diese gab es – sondern ein Lenin und ein Trotzki, die sie angeführt hätten.
Im Gegensatz zu den stalinistischen Führern hatte Lenin ein kolossales Vertrauen in die Arbeiterklasse und ihre Fähigkeit, den Kapitalismus weltweit zu stürzen. Was jedoch gebraucht hätte, war eine echte revolutionäre Führung, die den Kampf zu seinem logischen Ende führte. Das war die ganze Lehre des Bolschewismus.
Es liegt nicht nur im Interesse der Kapitalisten, sondern auch der Stalinisten, Lenin mit dem blutigen Regime von Stalin gleichzusetzen. Eine grössere Abscheulichkeit kann es nicht geben.
Trotz seiner Schlüsselrolle war Lenin ein sehr bescheidener Mann, ganz anders als die unfehlbare Karikatur, die die Stalinisten von ihm zeichnen. Er gab seine Fehler offen zu, um aus ihnen zu lernen. Nach der Oktoberrevolution blickte er oft zurück und lachte über die Fehler und „Dummheiten“, die sie gemacht hatten. Dennoch machte Lenin weniger Fehler als die meisten anderen und war in der Lage, sie zu korrigieren. Das stärkte seine Autorität. Seine Stärke bestand darin, dass er sich nicht vor der Wahrheit fürchtete, egal in welcher Situation.
Lenin wurde nicht als fixfertiger Kommunist geboren, wie Athene aus der Stirn des Zeus und so wie es die Stalinisten im Laufe der Jahre darstellten. In dieser falschen Darstellung gibt es keinen Raum für die Entwicklung von Ideen oder gar für Fehler. Lenin wird als eine realitätsfremde Idealisierung dargestellt. Die Stalinisten brauchten eine solche Figur als Deckmantel für ihre eigene angebliche Unfehlbarkeit. So machten sie ihn zynisch zu einer bedeutungslosen Ikone. Aber das ist ein völlig falsches Bild, er war in keiner Weise so.
In Wirklichkeit hat Lenin sich selbst geschaffen. Er hat seinen Horizont ständig erweitert, von anderen gelernt und sich selbst jeden Tag auf eine höhere Ebene gehoben. Er hat sich die Ideen des Marxismus selbst erobert und sein Verständnis bei jedem Schritt bereichert. Dadurch erhielt Lenin eine Ausbildung wie kein anderer. Das gab ihm Zuversicht und Gewissheit.
Sein ganzes Lebenswerk war dem Kampf für den Marxismus und dem Aufbau der revolutionären Partei gewidmet. Seine letzten Jahre waren ein Kampf gegen die Verengung seiner Arterien sowie gegen den Würgegriff der Sowjetbürokratie, der die Degeneration der Revolution und damit die Gefahr der kapitalistischen Restauration bedeutete.
Dieser Kampf stand in direktem Zusammenhang mit der Verteidigung der Grundfesten des Marxismus, für die Lenin sein ganzes Leben lang gekämpft hatte. Es war die verächtliche, chauvinistische Haltung der Stalin-Clique gegenüber der nationalen Frage, insbesondere in Bezug auf Georgien, die Lenin auf die grosse Gefahr einer politischen Degeneration an der Spitze der bolschewistischen Partei selbst aufmerksam machte.
Der hundertste Todestag von Lenin bietet die Gelegenheit, über sein aussergewöhnliches Leben und seinen Beitrag zu reflektieren und die Lehren daraus zu ziehen. Er sollte uns die Möglichkeit geben, den wahren Lenin und seine Ideen zu entdecken. Dies geschieht nicht aus akademischen Ambitionen, sondern um uns auf die gewaltigen Ereignisse vorzubereiten, die bevorstehen.
Heute stehen wir immer noch vor der Schicksalsfrage: Sozialismus oder Barbarei. Angesichts des Bankrotts der alten Organisationen lässt sich die Krise der Menschheit auf die Krise der internationalen revolutionären Führung reduzieren. Unsere Internationale, die sich auf die Ideen von Lenin und den anderen grossen marxistischen Lehrern stützt, sammelt international die Kräfte mit dem ausdrücklichen Ziel, diese Krise zu lösen.
Lenin heute, inmitten der Weltkrise, zu studieren, bietet die wertvollste konkrete Erfahrung für die Lösung jener Probleme, vor denen die Arbeiterklasse in der Epoche von Krieg und Revolution steht.
Für uns sind die Ideen von Lenin so nahe an einem Handbuch für die Weltrevolution, wie man es nur bekommen kann. Aber für viele, selbst in der sogenannten „Linken“, bleiben diese Ideen unverständlich. Wir müssen die Skeptiker und Zyniker, die Lenin als „veraltet“ abtun, in ihrem eigenen Saft schmoren lassen.
Der Kommunismus ist untrennbar mit dem Namen Lenins und der Russischen Revolution verbunden, aber die heutigen kommunistischen Parteien sind nur dem Namen nach „kommunistisch“. Unter dem Stalinismus haben sie eine völlige Degeneration erfahren. Sie haben sich längst von den Ideen Lenins und des Bolschewismus verabschiedet und stattdessen eine reformistische Weltanschauung angenommen.
Die ehemaligen Stalinisten schliessen sich nun der Kampagne der bürgerlichen Historiker an, den Namen des Bolschewismus anzuschwärzen. Ja, sie können Lenin denunzieren, sie können Statuen abreissen, sie können Staatsvermögen plündern, aber eines können sie nicht: Sie können niemals eine Idee töten, deren Zeit gekommen ist. Diese Tatsache ist es, die sie umtreibt und ihnen Alpträume bereitet.
Angesichts des wachsenden Interesses an Lenin und dem Kommunismus lohnt es sich, die Worte von Lenin selbst vom 6. März 1919 zu wiederholen:
„als fürchte man geradezu, zehn oder ein Dutzend Bolschewiki wären imstande, die ganze Welt zu infizieren – wir wissen indes, dass diese Furcht lächerlich ist, denn sie haben bereits die ganze Welt infiziert…“
W. I. Lenin (1919): Über die Gründung der Kommunistischen Internationale, in LW Bd. 28. Dietz Verlag, Berlin, S. 494.
Mit diesem Gedanken im Hinterkopf widmen wir uns dem Ziel, die Kommunistische Internationale auf einer noch höheren Ebene wieder zu errichten. Das bedeutet eine Verteidigung von Lenins Ideen und den Aufbau der Kräfte des genuinen Kommunismus auf der ganzen Welt. 100 Jahre nach Lenins Tod ist das unsere dringlichste Aufgabe.
Europa — von Jack Halinski-Fitzpatrick, marxist.com — 11. 11. 2024
Nah-Ost — von der Redaktion von marxist.com — 07. 11. 2024
Nordamerika — von Revolutionary Communists of America — 05. 11. 2024