Ohne internationale Perspektive, Programm und Politik ist es unmöglich, eine Bewegung aufzubauen, die der Aufgabe gerecht werden kann, die Gesellschaft umzuwälzen. Eine Internationale besteht aus einem Programm, politischen Grundsätzen, Strategie und Methode – und ihre Organisation ist das Instrument, mit dem diese Ideen in der Praxis umgesetzt werden können. Die Notwendigkeit einer Internationale ergibt sich aus der internationalen Lage der Arbeiterklasse. Diese wiederum ist dadurch bestimmt, dass der Kapitalismus einen unteilbaren Weltmarkt hervorgebracht hat. Die Interessen der Arbeiterklasse eines Landes unterscheiden sich nicht von jenen der Arbeiter in den anderen Ländern. Die vom Kapitalismus hervorgebrachte weltweite Arbeitsteilung hat die Grundlage für eine neue, internationale Organisation der Arbeit und für die Planung der Produktion im Weltmassstab gelegt. Der Kampf der Arbeiterklasse in allen Ländern bildet daher die Grundlage für den Weg zum Sozialismus.
Der Kapitalismus entwickelte durch das Privateigentum an den Produktionsmitteln die Industrie und machte Schluss mit der Kleinstaaterei des Feudalismus. Er beseitigte das überkommene feudalistische Zoll- und Abgabesystem. Die Schaffung des Nationalstaates und des Weltmarktes sind die grossen Errungenschaften des Kapitalismus. Aber hatte das neue System einmal diese historischen Aufgaben erfüllt, wurde es selbst zu einer Fessel für die weitere Entwicklung der Produktion. Der Nationalstaat und das Privateigentum an den Produktionsmitteln hemmen nunmehr die Entwicklung der ganzen Gesellschaft. Die Produktionskapazitäten können nur durch die Abschaffung nationalstaatlicher Barrieren und die Schaffung einer europa- und weltweiten Föderation von Arbeiterstaaten voll ausgeschöpft werden. Diese bilden – zusammen mit dem Staatseigentum an den Produktionsmitteln und einer Arbeiterverwaltung – eine notwendige Übergangsetappe auf dem Weg zum Sozialismus. Diese Faktoren bestimmen die Strategie und Taktik des Proletariats, die sich in der Politik seiner bewussten Führung widerspiegeln. In den Worten von Marx: „Die Arbeiter haben kein Vaterland“ – und deshalb „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!“
Ausgehend von diesen Überlegungen organisierte Marx 1864 die Erste Internationale als Mittel zur Vereinigung der fortgeschrittenen Schichten der internationalen Arbeiterklasse. In der Internationale sammelten sich britische Gewerkschafter, französische Radikale und russische Anarchisten. Unter der Führung von Marx schuf diese Organisation den Rahmen für die Entwicklung der Arbeiterbewegung in Europa und Amerika. Die Bourgeoisie erzitterte vor der kommunistischen Bedrohung, die in der Internationale verkörpert war. Tatsächlich schlug die Erste Internationale in den wichtigsten europäischen Ländern tiefe Wurzeln. Auf den Zusammenbruch der Pariser Kommune 1871 folgte ein weltweiter Aufschwung des Kapitalismus. Diese Tatsachen verstärkten den Druck auf die Arbeiterbewegung, was zu Zwistigkeiten und Fraktionsbildungen in der Internationale führte. Die Intrigen der Anarchisten nahmen schärfere Formen an. Das Wachstum des Kapitalismus in einem organischen Wirtschaftsaufschwung zog die Organisation international in Mitleidenschaft. Unter diesen Umständen kamen Marx und Engels schliesslich 1876 zu der Auffassung, dass es vorläufig das Beste wäre, die Internationale aufzulösen (zuvor hatten sie noch vorgeschlagen, die Zentrale der Organisation nach New York zu verlegen).
Die Arbeit von Marx und Engels trug jedoch – wie von Marx vorhergesehen – Früchte, als in Deutschland, Frankreich, Italien und anderswo Massenorganisationen des Proletariates entstanden. Dies wiederum eröffnete die Möglichkeit eine neue Internationale mit Massenbasis aufzubauen, diesmal jedoch basierend auf den Grundprinzipien des wissenschaftlichen Sozialismus. So wurde 1889 die Zweite Internationale aus der Taufe gehoben. Aber die Entwicklung dieser Internationale fand vor dem Hintergrund einer langanhaltenden Aufschwungphase des Kapitalismus statt, und während sie in Worten den Ideen des Marxismus huldigten, gerieten die Führungskreise der internationalen Sozialdemokratie zunehmend unter den Druck des Kapitalismus. Die Führer der sozialdemokratischen Parteien und der Gewerkschaften eigneten sich die Gewohnheiten und den Lebensstil der herrschenden Klasse an. Kompromisse und Verhandlungen mit den Vertretern der herrschenden Klasse wurden ihr zur zweiten Natur. Das Ausverhandeln von Meinungsverschiedenheiten durch Kompromisse formte ihre Denkgewohnheiten. Sie glaubten, dass der Anstieg des Lebensstandards, errungen durch den Druck der Massenorganisationen, für immer anhalten würde.. Die Lebensbedingungen der sozialdemokratischen Führer im Parlament und Gewerkschaft selbst hoben sie von den Massen ab. „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“, und die Jahrzehnte friedlicher Aufschwungsentwicklung, die der Niederlage der Kommune von 1871 folgten, hatten schliesslich den Charakter der Führung der proletarischen Massenorganisationen verändert. Noch immer unterstützten diese Führer in Worten die Ziele des Sozialismus und der Diktatur des Proletariats, noch immer verkündeten sie in wohlklingenden Phrasen das Ideal des Internationalismus, aber in der Praxis hatten sie sich längst auf den Standpunkt der Unterstützung ihrer jeweiligen Nationalstaaten gestellt. Die Baseler Konferenz der Zweiten Internationale von 1912 fand vor dem Hintergrund wachsender Widersprüche des Weltimperialismus und der Unvermeidlichkeit eines Weltkrieges statt. Hier wurde der Beschluss gefasst, mit allen Mitteln (einschliesslich des Generalsstreiks und des Bürgerkriegs) dem Versuch entgegenzutreten die Völker in das sinnlose Gemetzel eines Krieges zu treiben. Lenin und die Bolschewiki bauten zusammen mit Luxemburg, Trotzki und anderen Führern der Bewegung die Internationale als Instrument auf, mit dem die Menschheit für alle Zeiten von den Ketten des Kapitalismus befreit werden sollte. Aber 1914, bei Ausbruch des Weltkrieges, liefen die Führer der Sozialdemokratie in fast allen Ländern zu ihrer jeweiligen nationalen herrschenden Klasse über, um sie im Krieg zu unterstützen.
Dieser Verrat an den Grundsätzen des Sozialismus kam so unerwartet, dass selbst Lenin die Ausgabe des „Vorwärts“ (Zentralorgan der deutschen Sozialdemokratie), die sich für die Zustimmung zu den Kriegskrediten aussprach, für eine Fälschung des deutschen Generalstabs hielt. Bei ihrer ersten ernsthaften Bewährungsprobe war die Zweite Internationale unrühmlich zusammengebrochen.
Durch das Scheitern der Zweiten Internationale waren Lenin, Trotzki, Liebknecht, Luxemburg, MacLean, Connolly und andere führende Marxistinnen und Marxisten plötzlich nicht viel mehr, als die Führer kleiner politischer Sekten. Die Teilnehmer an der Zimmerwalder Konferenz von 1916 machten Witze darüber, dass die damaligen Internationalisten der Welt jetzt in ein paar Postkutschen hineinpassen würden. Der plötzliche, unerwartete Verrat der Zweiten Internationale führte dazu, dass die isolierten Vertreter des Internationalismus zu einer ultralinken Haltung neigten. Um sich aber von den „Sozialpatrioten“, den „Verrätern an der Sache des Sozialismus“ abzugrenzen, waren sie gezwungen, die grundlegenden Prinzipien des Marxismus in aller Klarheit darzulegen: der imperialistische Charakter des Krieges, das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, die Notwendigkeit der Machteroberung durch das Proletariat, der vollständige Bruch mit der Politik des Reformismus.
Lenin hatte die Vorstellung, der Erste Weltkrieg sei der „Krieg, der alle weiteren Kriege erübrigen würde“, als ein Märchen der Arbeiterführer bezeichnet. Wenn dem Weltkrieg nicht eine Serie erfolgreicher sozialistischer Revolutionen folge, so erklärte Lenin, dann würde es auch unvermeidlich irgendwann einen zweiten, einen dritten und sogar einen zehnten Weltkrieg geben – möglicherweise bis zur völligen Auslöschung der Menschheit. Das Blut und die unsagbaren Leiden in den Schützengräben zum Nutzen und Profit der millionenschweren Monopolisten, würden eine Revolte der Völker gegen diese gigantische Schlächterei provozieren müssen.
Diese Überlegungen wurden durch die Russische Revolution von 1917 unter der Führung der Bolschewiki bestätigt. Diesem historischen Ereignis folgten zwischen 1917 und 1921 eine ganze Serie von Revolutionen und revolutionären Entwicklungen. Aber unglücklicherweise waren die jungen Kräfte der neuen Internationale, die 1919 offiziell gegründet worden war, noch schwach und unreif. Infolgedessen waren sie nicht in der Lage, die objektive Situation zu ihrem Vorteil auszunutzen – obwohl die Russische Revolution eine Welle der Radikalisierung in den meisten Ländern Westeuropas auslöste und die Entstehung kommunistischer Massenparteien nach sich zog. In den ersten Phasen der Radikalisierung wandten sich die Massen in erster Linie ihren traditionellen Organisationen zu. Die jungen Kommunistischen Parteien zeigten sich den an sie gestellten Anforderungen nicht gewachsen; sie waren unerfahren und unreif; es mangelte ihnen an einem tiefgehenden Verständnis marxistischer Theorie, Methode und Organisation. So konnte sich der Kapitalismus vorläufig noch einmal stabilisieren.
Doch schon 1923 entwickelte sich in Deutschland erneut eine revolutionäre Situation. Aber die Führung der KPD wurde von einer ähnlichen Krise geschüttelt, wie sie die bolschewistische Partei 1917 durchgemacht hatte. Wegen ihrer schwankenden Politik wurde die Gelegenheit, die Staatsmacht zu erobern, versäumt. Der amerikanische Imperialismus kam aus Furcht vor der „bolschewistischen Bedrohung des Westens“ schleunigst dem deutschen Kapitalismus zu Hilfe.
Das erneute Scheitern der deutschen Revolution verstärkte den Entartungsprozess der Sowjetunion, die in Isolation, Rückständigkeit und Korruption gefangen war. Damit war nun auch die Dritte Internationale zum Scheitern verdammt.
1924 begann sich die stalinistische Bürokratie in der Sowjetunion immer mehr zu festigen und die Macht an sich zu reissen. Ein ähnlicher Prozess, wie er sich in der Zweiten Internationale über Jahrzehnte entwickelt hatte, erfasste die Sowjetunion und die von ihr massgeblich bestimmte Dritte Internationale nun in sehr viel kürzerer Zeit. Nach der Machtergreifung in einem rückständigen Land hatten sich die Bolschewiki tatkräftig an die Vorbereitung der internationalen Revolution gemacht. Sie wussten, dass die Weltrevolution die einzige Lösung für die Probleme der Arbeiter Russlands und der Welt darstellte. 1924 trat Stalin als Repräsentant der russischen Bürokratie, die sich über die Arbeiter- und Bauernmassen erhoben hatte, in den Vordergrund und ging in die Offensive.
In einer Situation, in der aufgrund der allgemeinen Rückständigkeit und des Bürgerkrieges Kunst, Wissenschaft, Staat und Verwaltung fest in den Händen einer kleinen herrschenden Schicht – der Bürokratie – verblieben waren, setzten sich die eigennützigen Interessen dieser privilegierten Kaste immer mehr durch. Dies stand im Gegensatz zu den Ideen von Marx und Lenin, die darauf abzielten, die Masse der Bevölkerung in die Führung der Staatsgeschäfte und die Verwaltung der Industrie mit einzubeziehen. Im Herbst 1924 brachte Stalin erstmals in der Geschichte – und in vollständiger Missachtung der Traditionen des Marxismus und des Bolschewismus – die utopische „Theorie“ vom „Sozialismus in einem Land“ vor. Von Beginn an kämpften die Internationalisten unter Führung Trotzkis gegen diese Theorie an und sagten voraus, dass sie zum Zusammenbruch der Kommunistischen Internationale und zur nationalistischen Entartung ihrer Sektionen führen würde.
Theorien sind nicht bloß eine Abstraktion, sondern eine Anleitung für den politischen Kampf. Theorien, die eine Massenunterstützung hinter sich vereinigen, repräsentieren immer die Interessen und den Druck bestimmter Gruppierungen, Schichten oder Klassen in der Gesellschaft. Die Theorie vom „Sozialismus in einem Land“ repräsentierte die Ideologie der herrschenden Bürokratenkaste der Sowjetunion. Diese war mit den bisherigen Ergebnissen der Revolution vollauf zufrieden und wollte nicht zulassen, dass irgendwelche Kräfte ihre privilegierte Stellung in Frage stellen würden. Diese Interessenslage der Bürokratie war massgeblich verantwortlich für die Verwandlung der Kommunistischen Internationale (Komintern) von einem Instrument der Weltrevolution zu einem reinen Grenzposten zur Verteidigung der Sowjetunion, in der angeblich eifrig daran gearbeitet wurde den Sozialismus auf sich allein gestellt aufzubauen.
In der Folgezeit wurde der Ausschluss der Linken Opposition (LO), die auf den Grundsätzen des Internationalismus und des Marxismus beharrte, aus den Kommunistischen Parteien vorangetrieben. Die Niederlage des britischen Generalstreiks und der chinesischen Revolution 1925-27 waren Auslöser dieser Entwicklung. Zu dieser Zeit konnte man noch von „Fehlern“ in der Politik Stalins, Bucharins und ihrer Gefolgsleute sprechen. Diese Fehler waren auf ihre Stellung als Ideologen der privilegierten Schicht sowie auf den enormen Druck des Kapitalismus und Reformismus zurückzuführen. Diese Fehler der russischen Führung hatten nun aber auch die Bewegung des Proletariats in anderen Ländern zu Niederlagen und Katastrophen verdammt.
Nachdem sie sich mit dem Versuch der Besänftigung der Reformisten im Westen und der Kolonialbourgeoisie im Osten die Finger verbrannt hatten, gingen Stalin und seine Clique unvermittelt zu einer linksradikalen Position über. Dabei zogen sie die Führung der Kommunistischen Internationale mit sich. So spaltete die KPD in Deutschland die Arbeiterbewegung anstatt eine Politik der Einheitsfront gegen die faschistische Bedrohung zu betreiben. Durch die damit verbundene Lähmung des deutschen Proletariats wurde auch die Machtergreifung Hitlers ermöglicht. Die Degeneration der Sowjetunion und der Verrat der Dritten Internationale schufen wiederum die Bedingungen für die Verbrechen der stalinistischen Konterrevolution in der Sowjetunion selbst.
Abgesehen von der Verstaatlichung der Produktionsmittel, dem Aussenhandelsmonopol des Staates sowie der Planung der Produktion war vom Erbe der Oktoberrevolution nichts übriggeblieben. Die Säuberungen in der Sowjetunion der 1930er Jahre waren ein einseitiger Bürgerkrieg und fanden ihre Entsprechung auch in den anderen Parteien der Komintern. Der Sieg Hitlers und die Niederlage des Proletariats in Spanien und Frankreich waren die Folgen dieser Entwicklung. Von 1924 bis 1927 setzte Stalin auf eine Allianz mit den Grossbauern und den Neureichen der NEP, und einer Politik des „Aufbaus des Sozialismus im Schneckentempo“. Die sowjetische Aussenpolitik zielte gleichzeitig auf die „Neutralisierung“ der Kapitalisten und einen Ausgleich mit der Sozialdemokratie ab, mit dem Ziel, die Kriegsgefahr im Keim zu ersticken. Die internationalen Niederlagen der Arbeiterklasse wiederum waren der Hintergrund für die Niederlage der Linken Opposition in der Sowjetunion, die für die Wiedereinführung der Arbeiterdemokratie und der Einführung von 5-Jahres-Plänen für die Wirtschaft eintrat.
Von der kriecherischen Politik vor der Sozialdemokratie und anderen “Freunden der Sowjetunion“ ging die Kommunistische Internationale nahtlos in die Politik der „dritten Periode“ über. Die Krise 1929-33 wurde als „letzte Krise des Kapitalismus“ analysiert. Faschismus und Sozialdemokratie wurden als Zwillinge gesehen. Diese „Theorien“ haben den Weg in schreckliche Niederlagen der internationalen Arbeiterklasse geebnet.
Der Linken Opposition in Russland gelang es die am meisten fortgeschrittenen Elemente der kommunistischen Weltbewegung von ihrer Politik zu überzeugen. In Die Lehren des Oktobers erörterte Trotzki die Lehren der gescheiterten 1923er Revolution in Deutschland. Das Programm und die Ideen der Opposition zur Entwicklung Russlands und der Internationale wurden durch Ausschlüsse nicht nur in Russland, sondern in allen wichtigen der Sektionen der Internationale beantwortet. In Deutschland, Frankreich, Grossbritannien, Spanien, den USA, Südafrika und anderen Ländern formierten sich oppositionelle Strömungen. Das damalige Programm der Opposition bestand in Reformvorschlägen für die Sowjetunion und die Internationale, sowie einer Korrektur der opportunistischen Fehler der Periode von 1923-1927, und des linksradikalen Abenteurertums der Periode von 1927-1933.
In einem anderen Zusammenhang hat Friedrich Engels einmal gemeint, dass Spaltungen manchmal Voraussetzung für eine gesunde Entwicklung einer Organisation sind. Das war in gewissem Sinn auch hier der Fall, weil nur so die besten Traditionen des Bolschewismus und das Ideal einer Kommunistischen Internationale bewahrt werden konnten. Die Krise der Führung führte zu einer Krise der gesamten Internationale und in weiterer Folge ließ sich die Krise der Menschheit letztlich darauf zurückführen. Mit anderen Worten, waren diese Spaltungen ein Mittel zur Bewahrung der Ideen und Methoden des Marxismus. In ihren Anfängen verstand sich die Linke Opposition selbst als Teil der Kommunistischen Internationale und setzte sich für eine Reform der Internationale ein.
Die Massen und selbst die fortgeschrittensten Schichten des Proletariats lernen nur im Zuge grosser Ereignisse. Die ganze Geschichte hat uns gezeigt, dass die Massen ihren alten Organisationen solange nicht den Rücken kehren können, bis diese in der Praxis einem Test unterzogen wurden. Bis 1933 stand der marxistische Flügel der Internationale für eine Reform der Sowjetunion und der Kommunistischen Internationale. Ob diese Organisationen brauchbar sind, würde sich erst zeigen, wenn sie dem Test der Geschichte unterzogen werden. Aus diesem Grund bewahrte sich die Opposition hartnäckig das Selbstverständnis Teil der Internationale zu sein, obwohl sie formal ausgeschlossen war.
Erst als Hitler in Deutschland an die Macht kam und die Kommunistische Internationale sich weigerte, die Lehren dieser Niederlage zu verarbeiten, war klar, dass diese Organisation kein Instrument der Arbeiterklasse im Kampf für den Sozialismus mehr war. Anstatt die Ursachen für die fatale Politik der “Sozialfaschismustheorie” zu analysieren, erklärten die Sektionen der Kommunistischen Internationale den Sieg Hitlers zu einem Sieg der Arbeiterklasse, und bis 1934 hielt man in Frankreich an dieser selbstmörderischen Politik einer Aktionseinheit mit den Faschisten gegen die “Sozialfaschisten” und den “Radikalfaschisten” Daladier fest, was im Februar 1934 einem wirklichen faschistischen Putsch in Frankreich den Weg ebnen hätte können.
Der Verrat der Komintern und die schrecklichen Auswirkungen der Niederlage in Deutschland 1933 führten die Linke Opposition zu einer neuen Einschätzung der Rolle der Dritten Internationale. Eine Internationale, die dazu imstande war, das deutsche Proletariat den Schlächtern Hitlers auszuliefern, ohne dass auch nur ein Schuss des Widerstands gefallen wäre und ohne dass sich in ihren Reihen ein Sturm des Protestes erhoben hätte, konnte unter keinen Umständen mehr den Interessen des Proletariats dienlich sein. Eine Internationale, die die Katastrophe in Deutschland als „Sieg“ ausgab, konnte unmöglich die Rolle als Führung des Proletariats erfüllen. Als Instrument der Weltrevolution war die Dritte Internationale tot; sie war entartet zu einem gefügigen Werkzeug des Kremls und der russischen Aussenpolitik. Infolgedessen war es zu einer unumgänglichen Notwendigkeit geworden, die Vorbereitungen für den Aufbau einer Vierten Internationale zu treffen – einer neuen Internationale, die unbefleckt war von den Verbrechen und dem vielfachen Verrat, die sowohl der reformistischen Zweiten als auch der stalinistischen Dritten Internationale anhingen.
Wie in den Tagen nach dem Zusammenbruch der Zweiten Internationale waren die revolutionären Internationalisten in fast allen Ländern auch diesmal zurückgeworfen auf winzige, isolierte Gruppierungen. In Belgien hatten sie eine Handvoll Parlamentarier und eine Organisation von Ein- oder Zweitausend, in Österreich und Holland sah es ähnlich aus. Die Kräfte der neuen Internationale waren schwach und unreif; auf der anderen Seite jedoch konnten sie auf die Führung und Hilfe Trotzkis bauen, sowie auf die Perspektive, dass grosse historische Ereignisse vor ihnen lagen. Die Ausbildung der Kader wurde betrieben auf der Grundlage einer Analyse der Erfahrungen mit der Zweiten und Dritten Internationale, der Russischen, Deutschen und Chinesischen Revolutionen, des britischen Generalstreiks sowie der grossen Ereignisse, die sich in Folge des Ersten Weltkrieges entwickelt hatten. Das Ziel war die Herausbildung des unverzichtbaren Skeletts von Kadern für den Körper der neuen Internationale.
In dieser Periode wurde auch die Taktik des „Entrismus“ entwickelt; sie hatte ihre Begründung in der Isolation der Marxisten und ihrer neuen Bewegung von den Massenorganisationen der Sozialdemokratie und der kommunistischen Parteien. Um die besten Arbeiter zu gewinnen, musste ein Weg gefunden werden, um sie beeinflussen zu können. Dass konnte am besten dadurch geschehen, dass man mit ihnen zusammen in den Massenorganisationen arbeitete. Auf diese Weise wurde die Idee des „Entrismus“ in den Massenorganisationen der Sozialdemokratie ausgearbeitet und erstmals im Fall der zentristischen „Independent Labour Party“ (ILP) in Grossbritannien in die Tat umgesetzt. Die Taktik wurde überall dort angewandt, wo sich diese Massenorganisationen in einem Zustand der Krise und der Radikalisierung befanden.
So traten die Trotzkisten vor dem Hintergrund der sich entwickelnden Krise in Frankreich in die Sozialistische Partei (SFIO) ein. In Grossbritannien hatte zunächst ein Eintritt in die ILP stattgefunden, die sich nach ihrer Abspaltung von der Labour Party in einem Gärungsprozess befand; später schlossen sich viele britische Trotzkisten auf Trotzkis Rat hin der Labour Party selbst an. Auch in den USA praktizierte man die Taktik des Entrismus in der Sozialistischen Partei. Die gesamte Vorkriegsperiode wurde von den Trotzkisten hauptsächlich als eine Zeit der Vorbereitung und Orientierung genutzt; sie diente der Auswahl und Herausbildung von Kadern und einer politischen Führung, die ihre theoretische und praktische Ausbildung und Festigung nur innerhalb der Massenbewegung erhalten konnte.
Der Entrismus wurde darüber hinaus lediglich als kurzfristige Taktik angesehen; eine Taktik, die den Revolutionären auf Grund ihrer isolierten Stellung gegenüber den Massen aufgezwungen wurde. Es war für eine winzige, unabhängig auftretende Organisation unmöglich, das Ohr und die Unterstützung der breiten Masse der Arbeiterklasse zu finden. Die entristische Taktik diente einzig und allein dem Zweck unter den radikalen Elementen der Klasse arbeiten zu können. Diese Kämpfer begannen zwar nach revolutionären Lösungen zu suchen, wandten sich aber zunächst an die Massenorganisationen. Bei der Anwendung des Entrismus war jedoch ein Grundsatz von zentraler Bedeutung: unter allen Umständen mussten die Grundsätze des Marxismus, das revolutionäre Banner, aufrechterhalten, verteidigt und offen vorgetragen werden. Es ging darum, Erfahrung in und Verständnis für die Massenbewegung zu gewinnen, sowie den Gefahren des Sektierertums einerseits und des Opportunismus andererseits entgegenzutreten. Während die Grundsätze des Marxismus als unumstösslich verteidigt wurden, setzte man mit dem Entrismus in der Frage der Taktik auf grosse Flexibilität; diese taktische Flexibilität diente der bestmöglichen Vorbereitung der Kader auf die bevorstehenden grossen Ereignisse.
Die Niederlagen der Arbeiterklasse in Deutschland, Frankreich und im spanischen Bürgerkrieg, die – genau wie die Niederlagen der unmittelbaren Nachkriegsperiode – eindeutig der Politik der Zweiten oder der Dritten Internationale (oder beiden) zugeschrieben werden können, führten in den Zweiten Weltkrieg. Dieser war unvermeidlich geworden und zwar wegen der Lähmung des europäischen Proletariats angesichts der neuen, extrem zugespitzten Krise des Weltkapitalismus. Vor diesem Hintergrund eines drohenden Krieges fand 1938 die Gründungskonferenz der Vierten Internationale (V.I.) statt. Damit ging die mehrjährige Vorbereitungsphase für die neue Internationale zu Ende.
Das Dokument, das auf der Gründungskonferenz verabschiedet wurde, gibt in sich selbst Aufschluss über die Ursachen für die Gründung der neuen Internationale. Das „Übergangsprogramm“ der V.I. ist ausgerichtet auf das Konzept der Massenarbeit, das wiederum durch Übergangsforderungen mit der Idee der sozialistischen Revolution verbunden ist. Die Übergangsforderungen werden aus der widersprüchlichen Wirklichkeit des Alltags heraus entwickelt. Das Übergangsprogramm unterscheidet sich klar vom Programm der Sozialdemokratie, das in ein Minimal- und ein Maximalprogramm zerfällt. Es ist ein Programm des Übergangs vom Kapitalismus zur sozialistischen Revolution. Dieser Ansatz spiegelt die Einschätzung der ganzen Epoche als einer Epoche der Kriege und Revolutionen wider. In diesem Sinne muss die gesamte Arbeit auf die Idee der sozialistischen Revolution ausgerichtet sein.
Trotzkis Perspektive war die eines bevorstehenden Weltkrieges, der wiederum Revolutionen auslösen würde. Seiner Meinung nach würde das Problem des Stalinismus dabei auf die eine oder andere Art gelöst werden. Entweder würde die Sowjetunion durch eine politische Revolution gegen das stalinistische Regime zu ihren revolutionären Ursprüngen zurückkehren, oder aber eine erfolgreiche Revolution in einem der hochentwickelten westlichen Länder würde die Situation im Weltmassstab verändern. Durch eine siegreiche proletarische Revolution würden die Haupthindernisse in Form des Stalinismus und des Reformismus im Laufe der Ereignisse aus dem Weg geräumt werden.
Diese von bestimmten Bedingungen abhängige Prognose Trotzkis zeichnete sich zwar durch ein tiefgehendes Verständnis für die geschichtlichen Prozesse aus, der tatsächliche Verlauf der weiteren Ereignisse sollte jedoch zu einem anderen Ausgang führen. Aufgrund der besonderen militärischen und politischen Entwicklungen und Ergebnisse des Weltkrieges wurde die Position des Stalinismus nämlich vorläufig sogar gestärkt. Diesmal waren es die Stalinisten, die die revolutionäre Welle, die sich während und in Folge des Krieges ausbreitete, verrieten; und zwar in üblerer Form, als die Führer der Zweiten Internationale die revolutionäre Welle nach dem Ersten Weltkrieg verraten hatten.
Die V.I. bezog sich weiterhin auf die Grundlagen, die in den ersten vier Kongressen der Kommunistischen Internationale und durch die Erfahrung des Stalinismus, Faschismus und der grossen Ereignisse, die zum Zweiten Weltkrieg geführt hatten, ausgearbeitet und entwickelt worden waren. Diese Grundlagen haben auch heute noch Gültigkeit. Als Trotzki 1938 die Gründung der V.I. vorantrieb, tat er dies aufgrund der Rolle des Stalinismus und des Reformismus, die keine revolutionären Strömungen in der Arbeiterbewegung mehr darstellten. Beide waren zu ungeheueren Hindernissen auf dem Weg zur Befreiung der Arbeiterklasse geworden; einstmals Instrumente zum Sturz des Kapitalismus, waren sie nun unfähig geworden, das Proletariat zur sozialistischen Revolution zu führen.
Die Frage nach neuen Parteien und einer neuen Internationale stellte sich zur Zeit ihrer Gründung aufgrund der unmittelbar bevorstehenden Perspektiven. Ein Weltkrieg würde eine erneute revolutionäre Welle in den kapitalistischen Metropolen und unter den kolonialen Völkern auslösen. Diese revolutionären Ereignisse wiederum würden den Stalinismus in der UdSSR sowie international hinwegfegen. Unter solchen Bedingungen musste mit absoluter Dringlichkeit darangegangen werden, die organisatorischen und politischen Vorbereitungen für die vorausgesehenen grossen Ereignisse zu treffen. Auf der Grundlage dieser Perspektiven sagte Trotzki 1938 voraus, dass innerhalb von 10 Jahren von den sozialdemokratischen und stalinistischen Organisationen nichts mehr übrig bleiben und die V.I. zur entscheidenden revolutionären Kraft auf dem Planeten werden würde. Zwar war an der Analyse, die dieser Prognose zugrunde lag, nichts Entscheidendes auszusetzen, aber jede Prognose ist an bestimmte Bedingungen geknüpft. Die vielfachen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Faktoren können immer zu einer anderen als der vorhergesehenen Entwicklung führen. Einer dieser Faktoren – ein entscheidender Faktor für die internationale politische Entwicklung in den vier Jahrzehnten, seit Trotzki seine Perspektive aufstellte – war die Schwäche der revolutionären Kräfte. Diese fand bereits darin ihren Ausdruck, dass die Mandarine im Führungsgremium der V.I. – ohne Trotzkis Führung, ohne Trotzkis Präsenz – nicht in der Lage waren, seine 1938 aufgestellten Perspektiven als (immer neu zu prüfende) These zu begreifen, sondern sie im wörtlichen Sinn als korrekt und unumstösslich hinnahmen.
Der Krieg nahm einen anderen Verlauf, als es die grössten theoretischen Genies hätten voraussagen können. Die genaue Entwicklung ist bereits in mehreren Dokumenten unserer Strömung dargelegt worden. Die anfänglichen Siege Hitlers zu Beginn des Krieges waren unter anderem auf die Politik der stalinistischen Führung in der Periode davor (z.B. der Hitler-Stalin-Pakt oder die Volksfrontpolitik in Spanien und Frankreich) zurückzuführen. Eine entscheidende Wende brachte dann jedoch der Angriff Hitler-Deutschlands auf die Sowjetunion selbst sowie die Verbrechen und die Bestialität der Nazis[1] ein, die aufgrund der Demütigung und Entrechtung der deutschen Arbeiterklasse ungebremst über sie herfielen. Die Arbeiter und Bauern in der Sowjetunion sahen es nun nicht als ihre vordringlichste Aufgabe an, die Arbeiterdemokratie in ihrem Lande durch eine politische Revolution wiederherzustellen; es ging für sie jetzt darum, die Nazis zu besiegen und aus dem Land zu vertreiben. Das Ergebnis war letztendlich, dass der Stalinismus für eine ganze geschichtliche Epoche gestärkt aus dem Weltkrieg hervorging.
Der Krieg hatte sich immer mehr zu einem Krieg zwischen der stalinistischen UdSSR auf der einen und Nazi-Deutschland auf der anderen Seite entwickelt. Der Sieg der Roten Armee entsprach dann ganz und gar nicht den Perspektiven und Spekulationen des anglo-amerikanischen Imperialismus. Dessen Vertreter hatten sich erwartet, dass die Sowjetunion entweder besiegt oder zumindest massiv geschwächt werden würde. In ersterem Fall könnte man anschliessend einem, durch den aufreibenden Kampf geschwächten, Deutschland den entscheidenden Schlag versetzen und selbst als souveräner Sieger aus dem Krieg hervorgehen. Die andere Möglichkeit hätte darin bestanden, dass die UdSSR zwar nicht niedergeworfen, aber durch das blutige Gemetzel an der Ostfront derart geschwächt worden wäre, dass der Imperialismus ebenfalls in die Lage versetzt worden wäre, fortan den Kurs der Weltpolitik und eine seinen Wünschen und Interessen entsprechenden Neuaufteilung der Welt zu diktieren. Diese Rechnung ging jedoch vollständig daneben.
Demgegenüber erwiesen sich Trotzkis Perspektiven in der Hinsicht als korrekt, dass dem Zweiten Weltkrieg eine noch heftigere revolutionäre Welle folgen sollte, als dem Ersten Weltkrieg. Aber er hatte nicht vorhersehen können, an welchen Strömungen sich die europäischen Massen orientieren würden. Nachdem Russland von Hitlers Armeen überfallen worden war, hatten die kommunistischen Parteien nämlich in den verschiedenen Ländern die zentrale Rolle im Widerstand gegen die Nazis eingenommen. Dieser Umstand war eine Ursache dafür, dass sich die Massen im Verlauf der revolutionären Auseinandersetzungen der unmittelbaren Nachkriegsperiode erneut den kommunistischen Parteien – und in vielen Ländern auch den sozialdemokratischen Parteien – zuwandten. Bereits zu diesem Zeitpunkt liessen das Verhalten und die Einschätzungen der Führer der noch jungen V.I. den zukünftigen totalen Zerfall dieser Organisation voraussehen.
Bereits 1944 wäre es notwendig gewesen, die Bewegung neu zu orientieren, sie darauf einzustellen, dass eine längere Periode bürgerlicher Demokratie im Westen und stalinistischer Herrschaft in der UdSSR bevorstand. Diese Linie wurde auch in den Dokumenten der Revolutionary Communist Party (RCP), der britischen Sektion der V.I., vertreten. In diesen Dokumenten wurde darauf hingewiesen, dass die nächste Periode gekennzeichnet sein würde durch eine „Konterrevolution in demokratischer Form“. Diese besondere Form der demokratischen Konterrevolution war auf die Tatsache zurückzuführen, dass die Bourgeoisie sich nicht länger in der Lage sah, ihre Herrschaft in Westeuropa ohne die Hilfe des Stalinismus und der Sozialdemokratie aufrechtzuerhalten.
Das Internationale Sekretariat (I.S.) der V.I. jedoch war der neuen Situation nicht gewachsen, und anstatt einer neuen Einschätzung der Situation gab es zweideutige Erklärungen von sich. Die Socialist Workers Party (SWP – amerikanische Sektion der V.I.) und andere Führer der Bewegung versuchten Zeit zu gewinnen und argumentierten schliesslich – ganz im Gegensatz zur Einschätzung der britischen RCP – dass die Bourgeoisie ihre Herrschaft in Europa einzig und allein durch Bonapartismus und Militärdiktatur aufrechterhalten könnte. Die Führer der V.I. waren unfähig den Charakter der neuen Epoche anzuerkennen; sie verstanden nicht, dass das stalinistische Russland gestärkt aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen war und dass sich der Imperialismus keineswegs in der Offensive, sondern vielmehr eindeutig in der Defensive befand.
Der ango-amerikanische Imperialismus und die Sowjetbürokratie fanden in ihrer gemeinsamen Angst vor einer sozialistischen Revolution in den fortgeschrittenen Ländern der Welt zusammen, was sogar zu einem zeitweiligen Bündnis führte. Die revolutionäre Welle, die Europa und die ganze Welt nach dem Zweiten Weltkrieg erfasste, machte es dem anglo-amerikanischen Imperialismus gleichzeitig jedoch völlig unmöglich, in der Sowjetunion in ähnlicher Weise wie 1918 militärisch einzugreifen und das zu einem Zeitpunkt, als Russland noch sehr geschwächt war und sich der Imperialismus demgegenüber noch in einer relativ günstigen Position befand. Angesichts der Bedrohung durch eine revolutionäre Bewegung in den westlichen Ländern selbst waren ihnen die Hände gebunden.
Aber diese Veränderung des Kräfteverhältnissesund die Bedeutung der enormen revolutionären Welle nach dem Krieg wurde von den Führern der V.I. nicht erkannt. So verkündete schliesslich auch die Resolution, die das I.S. für die Weltkonferenz von 1946 entworfen hatte, dass schon „allein diplomatischer Druck“ ausreichen würde, um den Kapitalismus in der Sowjetunion wieder zu errichten!
Die vollständige Perspektivlosigkeit des I.S. in Bezug auf Westeuropa wurde aber noch durch seine Haltung zu den theoretischen Problemen, denen sich die Bewegung in Osteuropa gegenübersah, übertroffen. Die Führer der V.I. begriffen nicht, welchen neuen Impuls das Vorrücken der Roten Armee der Revolution gegeben hatte, ein Impuls, den die Bürokratie natürlich für ihre eigenen Zwecke nutzte. Nachdem sie sich der Revolutionen in den Ländern Osteuropas bedient hatte, erwürgte sie diese in einem weiteren Schritt. Es ging dabei nicht darum, dass die Stalinisten etwa vor dem Kapitalismus kapitulierten, vielmehr führten sie die soziale Revolution zunächst einmal durch, doch errichteten im Zuge dessen stalinistisch-bonapartistische Diktaturen. Um weitergehenden Forderungen der Arbeiter- und Bauernschaft in der ersten Phase nach 1945 vorzubeugen, riefen die Stalinisten „antifaschistische Bündnisse“ ins Leben.
Diese klassenübergreifenden „Bündnisse“, von dem die Stalinisten zunächst in Osteuropa redeten, waren vergleichbar mit der Volksfront während der 1930er Jahre in Spanien – ein Bündnis noch nicht einmal mit den Kapitalisten, sondern mit dem Schatten der Kapitalistenklasse. Allerdings liess man es im republikanischen Spanien zu, dass der Schatten immer mehr Substanz gewann und schliesslich wurde sogar die wahre Macht wieder in die Hände der Bourgeoisie übergeben. Demgegenüber lag substanzielle Macht in Form von Armee und Polizei in allen Ländern Osteuropas in den Händen der stalinistischen Parteien. Diese überliessen ihren bürgerlichen Koalitionspartnern lediglich einen Schatten der Macht.
Die Stalinisten machten sich die revolutionäre Situation in all diesen Ländern zunutze. Die herrschende Klasse war dort überall gezwungen, mit den fliehenden Nazitruppen das Land zu verlassen, aus Angst vor der Rache der Massen, deren Hass sie sich wegen ihrer Zusammenarbeit mit den deutschen Besatzungstruppen zugezogen hatte. Demzufolge waren mit dem Rückzug der Armeen Hitlers auch die staatlichen Strukturen zusammengebrochen. Armee- und Polizeiangehörige flohen grossteils oder hielten sich versteckt. Auf diese Weise verblieb als einzige bewaffnete Macht in Osteuropa die Rote Armee. Indem sie zwischen den Klassen balancierte, ging die bonapartistische Clique daran, einen Staat nach dem Vorbild Russlands zu errichten – jedoch nicht nach dem von 1917, sondern des stalinistischen Russlands. Ein Staat wie jener in Moskau 1945 wurde geschaffen.
Zwar fanden sich bereits in den Schriften Trotzkis Andeutungen über die Möglichkeit derartiger Entwicklungen, die Führer der V.I. standen aber den neuen historischen Phänomenen völlig hilflos gegenüber. Sie erklärten, die Länder Osteuropas seien „staatskapitalistisch“, während Russland für sie nach wie vor ein degenerierter Arbeiterstaat blieb. Eine solche Position war unvereinbar mit einer marxistischen Analyse. Denn wenn die osteuropäischen Länder, in denen die Produktionsmittel verstaatlicht und eine Planwirtschaft eingeführt worden waren, „staatskapitalistisch“ waren, dann war es völlig absurd, daran festzuhalten, dass Russland, wo die gleichen Bedingungen bürokratischer Diktatur herrschten, irgend etwas mit einem Arbeiterstaat zu tun haben sollte. Die grundlegenden Bedingungen waren in beiden Fällen gleich.
Die Führung der V.I. erwies sich also sowohl in Bezug auf West- als auch auf Osteuropa als unfähig, korrekte Perspektiven zu entwickeln und die Ausbildung der revolutionären Kader darauf aufzubauen. Enttäuscht von den Auseinandersetzungen über diese Fragen, wandten sich wichtige Kräfte in Frankreich und in anderen Ländern von der V.I. ab.
Noch katastrophaler war die Position des I.S. der V.I. in Bezug auf das zweitgrösste Ereignis in der Geschichte der Menschheit, die Chinesische Revolution. Das I.S. schätzte den Charakter des von Mao Tse-tung und seinen Anhängern betriebenen Bauernkrieges ebenso falsch ein wie das internationale Kräfteverhältnis. Es beschränkte sich zunächst darauf, Ideen und Einschätzungen aus Trotzkis Schriften zu wiederholen, ohne diese wirklich verstanden und durchdacht zu haben. Die führenden Kräfte der Internationale erklärten, Mao würde vor Tschiang Kai-schek (dem Repräsentanten der nationalen Bourgeoisie) kapitulieren und der Verlauf der gescheiterten Revolution der Jahre 1925-27 würde sich wiederholen.
Es ging im chinesischen Bürgerkrieg jedoch vor allem um die Landfrage, die ständigen Friedensangebote der chinesischen Stalinisten an die bürgerlichen Kräfte wurden von einer durchgreifenden Landreform sowie der Enteignung des „bürokratischen Kapitals“ abhängig gemacht. Doch genau dieses Programm konnte Tschiang Kai-schek auf gar keinen Fall akzeptieren. Aber auch aus anderen Gründen eröffneten sich im Vergleich zur Revolution von 1925-27 völlig neue Perspektiven. Die chinesische Bourgeoisie hatte sich während der gesamten Periode seit der gescheiterten Revolution in den 1920er Jahren als unfähig erwiesen, die Probleme der bürgerlich-demokratischen Revolution zu lösen. Dazu gehörten die Vereinigung des Landes sowie der Kampf gegen die Beherrschung durch den ausländischen Imperialismus. Die Unfähigkeit, dieses Problem auch nur anzupacken, wurde im Krieg gegen die japanische Besatzungsmacht deutlich.
Die Lage in China war einerseits gekennzeichnet durch die Passivität der Arbeiterklasse und andererseits durch einen erbitterten Bauernkrieg, wie es ihn in den letzten tausend Jahren der chinesischen Geschichte viele Male gegeben hatte. Hinzu kam die revolutionäre Nachkriegswelle, die dem Imperialismus eine Intervention in China verunmöglichte. All diese Faktoren zusammen trieben die Ereignisse in eine neue Richtung. Bereits 1949 deutete die britische RCP in einem Dokument („In Reply to David James“, Anm.) zur Lage in China an, welche Massnahmen Mao im Falle eines Sieges im Bürgerkrieg ergreifen würde; und ein Sieg der Bauernarmeen Maos war unter den gegebenen Umständen unvermeidlich.
Die Führer der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) verkündeten zu der Zeit selbst noch, China stünde eine 50 Jahre andauernde Epoche „kapitalistischer Demokratie“ bevor. Die KP war ein Bündnis mit der sogenannten nationalen Bourgeoisie eingegangen. Aber eine marxistische Analyse konnte eine solche Einschätzung nicht ernst nehmen. Die Macht befand sich bereits in Händen der chinesischen Roten Armee. Auf dieser Grundlage sagten wir voraus, dass Mao entsprechend dem Modell Osteuropa zwischen den verschiedenen Schichten und Klassen balancieren und einen Staat nach dem Vorbild der Sowjetunion errichten würde. Aber Mao würde da beginnen, wo Stalin aufgehört und nicht dort, wo Lenin angefangen hatte. China würde sich also von Anfang an zu einem bonapartistischen Arbeiterstaat entwickeln.
Das I.S. der V.I. und die Führer der chinesischen Sektion jedoch beharrten darauf, dass Mao vor dem Kapitalismus kapitulieren würde. Auch nach dem vollständigen Sieg der chinesischen Stalinisten verstanden sie nicht dessen wahre Bedeutung und verkündeten, China sei – ähnlich wie Osteuropa – „staatskapitalistisch“. Allerdings definierten sie diesen Begriff nicht genauer.
In der Folge entdeckte man grossartige revolutionäre Perspektiven für China und Osteuropa. Mao würde nicht in der Lage sein, seine „kapitalistische Herrschaft“ lange aufrechtzuerhalten. In Osteuropa befänden sich die „staatskapitalistischen“ Regime in einem zugespitzten Krisenzustand, der zu ihrem Sturz führen würde. Sie verstanden nicht, dass – zumindest wenn es nicht in den kapitalistischen Metropolen zu grossen revolutionären Ereignissen bzw. in Russland selbst zu einer erfolgreichen politischen Revolution kommt – für mindestens ein oder zwei Jahrzehnte die bürokratischen Regime Osteuropas und Chinas fest im Sattel bleiben würden.
Sie waren der Meinung, der Krieg würde die Probleme der Revolution lösen. Da diese Perspektive aber offensichtlich nicht eingetreten war, ging einer der Führer der V.I. lange nach Beendigung des Krieges sogar soweit zu behaupten, der Krieg sei noch immer im Gange! Die anderen Führer vertraten hingegen die Meinung, der Ausbruch eines neuen Weltkrieges stehe unmittelbar bevor. Diese Prognosen wiederholten sich von 1945 an praktisch jedes Jahr. Ein Atomkrieg würde schliesslich den Sozialismus nach sich ziehen. Manche von ihnen (z.B. Posadas) verbreiten noch heute, wenn auch in verwässerter Form, diese Idee. Bei jeder Krise zwischen Imperialismus und Sowjetbürokratie schreien sie wieder die altbekannte Botschaft vom drohenden Krieg in die Welt hinaus. Bis heute haben sie nicht verstanden, dass das Problem des Krieges in der modernen Epoche ein Problem des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen ist, dass nur schwere, wiederholte Niederlagen des Proletariats in den wichtigsten kapitalistischen Ländern (bes. in den USA) den Weg für einen neuen Weltkrieg freimachen könnten.
Die Fehleinschätzungen der Führung der V.I. wurden immer wieder durch den Gang der tatsächlichen Ereignisse deutlich gemacht; aber das I.S. versäumte es stets, seine Fehler zu analysieren und ihnen auf den Grund zu gehen. Die natürliche Folge davon war, dass es sich von seinen Misserfolgen einfach in die entgegengesetzte Richtung, hin zu noch schlimmeren Fehlern, stossen liess. Nachdem es China und die Länder Osteuropas zunächst als kapitalistische Staaten abgestempelt hatte, ging das I.S. jetzt in das andere Extrem über.
In Jugoslawien, wo die nationale Bürokratie unter Tito mit der russischen Bürokratie in Konflikt gekommen war, entdeckten die Führer der V.I. jetzt plötzlich einen „relativ gesunden Arbeiterstaat“. Sie begriffen den eigentlichen Charakter dieses Konflikts, in dem man Jugoslawien kritische Unterstützung hätte geben müssen, nicht und begannen Tito als „Helden“ zu verherrlichen. Ausserdem dachten sie, die neue Internationale könnte von jugoslawischem Boden aus zu einem Faktor werden.
Nachdem sie durch die Ereignisse zunächst gezwungen worden waren, die Charakterisierung Chinas von einem kapitalistischen in einen Arbeiterstaat zu verändern, gingen sie jetzt auch in diesem Fall so weit, China einen „relativ gesunden Arbeiterstaat“ zu nennen. Dabei berücksichtigten sie in keiner Weise die Bedingungen, unter denen die chinesische Revolution sich entwickelt hatte: die unermessliche Rückständigkeit Chinas im Vergleich selbst zu Russland; die Tatsache, dass die Arbeiterklasse in der chinesischen Revolution keine unabhängige Rolle gespielt hatte und passiv geblieben war; weiterhin die Tatsache, dass die stalinistische Bürokratie in China den Staat und die Bevölkerung in einem noch festeren Griff hielt, als es selbst der russischen Bürokratie möglich war. Dies war ihr möglich, da sich der Kapitalismus für eine ganze Periode – wenn auch nicht für immer – stabilisieren konnte und die sozialistische Revolution in den Metropolen des Westens nicht unmittelbar bevorstand. Die Führer der Internationale schienen vergessen zu haben, dass eine sozialistische Revolution vor allem der bewussten Beteiligung der Arbeiterklasse und deren demokratische Beteiligung an der Kontrolle und Verwaltung von Industrie und Staat bedarf. Davon konnte in China aber keinesfalls die Rede sein. Bis zum heutigen Tag haben die Führer dieses Problem nicht verstanden und sehen China und Jugoslawien immer noch als „relativ gesunde Arbeiterstaaten“ an, die lediglich ein paar Reformen wie etwa in Russland zwischen 1917-1923 benötigen.Die Notwendigkeit einer politischen Revolution, wie sie von Trotzki definiert und verstanden wurde, wird von ihnen für China wie auch für Jugoslawien verneint.[2]
Somit verstärkten sie die Fehler in ihrer vorangegangen Position, indem sie einige grundlegende Ideen des Marxismus über Bord warfen und den Bogen in die andere Richtung überspannten. Ähnlich wie die Stalinisten vor ihnen vollzogen sie einen Zick-Zack-Kurs, ohne dabei die gemachten Fehler auf Basis der marxistischen Methode zu korrigieren und so den Weg für ein Verständnis auf höherer Ebene zu bereiten. Jeden Kurswechsel, jede taktische Veränderung präsentierte die Führung der Organisation in klingenden Reden und hochtrabenden Dokumenten, als ob ihr die neue Position von einer höheren Macht eingegeben worden wäre. Diese Organisationskultur war unter anderem ein wichtiger Faktor, warum die V.I. unfähig war, sich unter den neuen Bedingngen korrekt zu orientieren. Es fehlte der Führung an ehrlichen Absichten, die aber nur diejenigen an den Tag legen können, die Vertrauen in sich selbst, ihre Ideen und ihre politische Autorität haben. Nur mit solchen Mitteln können die Kader der revolutionären Bewegung für die grossen Aufgaben, vor denen die Menschheit steht, ausgebildet und gefestigt werden.
Am Beispiel ihrer Einschätzung Jugoslawiens, die wir oben schon kurz dargestellt haben, kann man sich noch einmal detailliert vor Augen führen, zu welch abenteuerlichen theoretischen Widersprüchen die vom I.S. verwendeten unsauberen Methoden zwangsläufig führen mussten. Nachdem sie Jugoslawien – genau wie den anderen Ländern Osteuropas sowie China – einen staatskapitalistischen Charakter zuschrieben, ohne diese Einstellung jemals vernünftig analysiert, definiert oder erklärt zu haben, vollführten sie anschliessend einen theoretischen Salto. Und wieder blieben sie eine Erklärung der Gründe dieser neuen, gegensätzlichen Beurteilung schuldig; sie liessen sich offenbar allein von oberflächlichen Erscheinungsformen leiten. Plötzlich, quasi über Nacht, wurde Tito für die V.I. zum Retter und Jugoslawien zu einem „relativ gesunden Arbeiterstaat“ erklärt. Dabei waren es die eigennützigen Interessen der jugoslawischen Bürokratie, die zum Bruch mit Stalin geführt hatten.
Dies hätte klar festgestellt werden müssen, auch wenn man gleichzeitig den Versuch Jugoslawiens, sich der nationalen Unterdrückung durch die russische Bürokratie zu entziehen, kritisch unterstützen hätte müssen. Stattdessen vergötterte das I.S. aber die jugoslawische Bürokratie.
Auf der anderen Seite hielten die Führer der Internationale eine politische Revolution in der Sowjetunion nach wie vor für notwendig; der Grund hierfür war wohl einfach darin zu suchen, dass Trotzki dies gesagt hatte.[3]
Die (Schein-)Begründung für seine Haltung zu Jugoslawien lieferte das I.S. der V.I. mit der Feststellung, dort habe eine sozialistische Revolution schon während des Krieges und in der Nachkriegsperiode stattgefunden. Aus dieser „Entdeckung“ schlussfolgerten sie, dass die sozialistische Revolution in Jugoslawien im Gegensatz zu Russland 1917 nicht isoliert war.. In Russland hingegen sei die sozialistische Revolution isoliert geblieben; die Tatsache dass in Russland der Stalinismus entstanden war lag daran, dass in keinem anderen Land die sozialistische Revolution gesiegt hatte. Als die sozialistische Revolution dann im Verlauf und in Folge des Zweiten Weltkrieges (angeblich) in Jugoslawien stattgefunden habe, sei sie nicht isoliert gewesen, aufgrund der Revolution, die in Russland schon vorher stattgefunden habe. Also könne es dort auch keinen Entartungsprozess, ähnlich wie in der Sowjetunion, und somit keinen Stalinismus geben. Die triumphierende Schlussfolgerung war, dass Jugoslawien ein gesunder Arbeiterstaat mit nur geringfügigen Deformierungen sei. So einfach war die Sache und auf Grundlage dieses theoretischen Unsinns ging die V.I. daran internationale Arbeitsbrigaden zu organisieren, die helfen sollten, in Jugoslawien „den Sozialismus aufzubauen“.
Die diesbezügliche Propaganda war genauso unkritisch und voller Lobhudelei, wie es die stalinistische Propaganda gewesen war, die zur Entsendung von Jugendgruppen in die Sowjetunion aufgerufen hatte, um dort „den Sozialismus aufzubauen“. Die ganze Episode ist nur ein Beispiel für die Methoden des I.S. der V.I. Genauso argumentierten Mandel & Co. später hinsichtlich der sogenannten „Kulturrevolution“ in China sowie im Falle Kubas. Entgegen der widersinnigen Behauptungen der V.I.-Führung konnte man unter Zugrundelegung einer gründlichen Analyse nur zu einem Ergebnis kommen: die stalinistische Bürokratie in Jugoslawien unterschied sich in ihren Grundsätzen nicht von derjenigen in Russland. Die Tito-Clique begann dort, wo Stalin aufhörte, d.h. es gab zu keiner Zeit in Jugoslawien eine Arbeiterdemokratie wie in Russland nach der Revolution von 1917-1923. Die Bewegung während des Krieges war hauptsächlich ein nationaler Befreiungskrieg der jugoslawischen Bauern. Der daraus hervorgegangene Staat war ein totalitäres Einparteienregime nach dem Vorbild Russlands, gesteuert von einem ausgewachsenen stalinistischen Apparat.
Da Jugoslawien ein ausgesprochen rückständiges Land war, umfasste der neue stalinistische Staatsapparat auch erhebliche Überbleibsel der alten herrschenden Klasse, vor allem auf dem Gebiet der Diplomatie und der Armee.
Auf jeden Fall also gleicht das jugoslawische Bild weitgehend demjenigen des stalinistischen Russlands. Ohne die ständige und allumfassende Kontrolle einer Arbeiterdemokratie konnte von einem gesunden Arbeiterstaat überhaupt nicht die Rede sein. In einer Wirtschaft, die eine Übergangsform zwischen Kapitalismus und Sozialismus darstellt, kann eine Bewegung hin zum Sozialismus einzig und allein durch die bewusste Kontrolle und umfassende Beteiligung der Arbeiter garantiert werden. Was Jugoslawien im Vergleich zur Sowjetunion betrifft, gilt eindeutig, dass gleiche Bedingungen und Ursachen notwendigerweise die gleichen Ergebnisse nach sich ziehen. Abgesehen von zweitrangigen Besonderheiten [z.B. der sogenannten „Arbeiterselbstverwaltung“ in den Betrieben, Anm.], unterscheiden sich die grundlegenden Merkmale des jugoslawischen Regimes absolut nicht von denen Russlands. Und es war eine vollständige Abkehr vom Marxismus, das Gegenteil zu behaupten.
Bis zum heutigen Tag hat keine der in der V.I. damals versammelten Tendenzen, die allesamt die obige Position vertraten, im Lichte der tatsächlichen Ereignisse ihre Einschätzung neu überdacht und korrigiert. Das gilt für Pablo, Posadas, Healy, Mandel und Cannon/Hansen ohne Ausnahme. Nach wie vor tauchen deshalb in ihren Schriften die seltsamsten und widersprüchlichsten Ideen in unmöglichen Kombinationen auf. So findet z.B. Healy keinerlei Widerspruch darin, Kuba als „Staatskapitalismus“ zu charakterisieren, gleichzeitig aber die chinesische Kulturrevolution als sogenannte neue Version der Pariser Kommune zu feiern. Für die französische Tendenz „Voix Ouvriere“ (Arbeiterstimme) – seit 1968 „Lutte Ouvriere“ (Arbeiterkampf) – die außerhalb der V.I. steht, ist Russland ein deformierter Arbeiterstaat, gleichzeitig aber sind Osteuropa, Jugoslawien und Kuba kapitalistisch; damit befindet sich diese Tendenz noch immer auf der Position des I.S. in den Jahren 1945-47. 25 Jahre voller lehrreicher politischer Ereignisse haben diese Leute völlig unbeeindruckt gelassen! All diesen Tendenzen ist auch gemeinsam, dass sie Syrien und Burma fälschlicherweise als kapitalistische Staaten einschätzen. Das Vereinigte Sekretariat selbst bezahlt durch ihren Zick-Zack-Kurs für ihre fehlende theoretische Aufrichtigkeit mit einer Anhäufung immer mehr Fehler aus der Verangenheit.
Daher tappen sie nach wie vor im Dunkeln hinsichtlich der Frage, ob nun in China und Jugoslawien eine politische Revolution noch erforderlich ist, oder nicht. Die Mehrheit von ihnen scheint sich zu der Einschätzung durchgerungen zu haben, dies seien „relativ gesunde Arbeiterstaaten“, die lediglich einer Reform, nicht aber einer Revolution bedürften.
Im Verlauf des letzten Vierteljahrhunderts hat die V.I. völlig ihre theoretischen Verankerungen verloren. Immer wieder liessen sich ihre Führer von der Entwicklung und von den Ereignissen überraschen. Sie reagierten rein empirisch und auf Grundlage oberflächlicher Eindrücke. Damit waren sie dazu verurteilt, ständig der neuesten politischen Entwicklung hinterherzulaufen. Sie waren unfähig, die zukünftigen Geschehnisse sowie das zukünftige Verhalten politischer Kräfte und Gruppierungen korrekt vorauszusehen. Das galt nicht nur im Falle Titos und Jugoslawiens, sondern hinsichtlich sämtlicher wichtiger Entwicklungen in den Ländern des stalinistischen Blocks. Zurückzuführen ist dieses Versagen auf ein mangelndes Verständnis des proletarischen Bonapartismus.
Der Aufstand der ungarischen Arbeiter gegen die alte Bürokratie im Jahre 1956 muss als Beginn einer allgemeinen politischen Revolution gesehen werden. Wenn sie sich nicht offen von jeglicher Verbindung mit der Tradition des Trotzkismus lossagen wollten, dann mussten die Führer der V.I. diese Bewegung unterstützen. Dies taten sie dann auch, aber gleichzeitig liessen sie sich nicht davon abhalten, die Entwicklung in Polen (ebenfalls 1956) mit dem ungarischen Aufstand auf ein und dieselbe Ebene zu stellen.
Sie sahen die entscheidenden Unterschiede nicht. In Ungarn kam es fast zur völligen Zerschlagung der (sogenannten) Kommunistischen Partei sowie zum Beginn der Organisierung einer neuen Arbeiterbewegung. Nach ihren Erfahrungen mit der stalinistischen Herrschaft waren die ungarischen Arbeiter während der Revolution keinen einzigen Augenblick bereit, die Errichtung eines neuen totalitären stalinistischen Regimes zu dulden.
In Polen entwickelten sich die Ereignisse etwas anders. Die nationale Erhebung gegen die Herrschaft der übermächtigen russischen Bürokratie wurde von einer bestimmten Schicht (um Gomulka) innerhalb der polnischen Bürokratie in nationale, stalinistische Bahnen umgelenkt. Die Führer der V.I. begriffen das nicht und sahen in Gomulka den Verfechter eines „demokratischen Kommunismus“. Sie sahen nicht, dass Gomulka nur den Flügel der polnischen Bürokratie vertrat, der sich selbst zum „Herren im eigenen Haus“ und damit relativ unabhängig von Moskau machen wollte. Es war Mandel & Co. nicht klar, dass zwischen diesen Kräften in Polen und dem Reformflügel der russischen Bürokratie kein grundlegender Unterschied bestand. Trotz „demokratischem“ Gerede wollten die Bürokraten um Gomulka genauso wenig wie Chruschtschow in Moskau zu den Traditionen der Oktoberrevolution von 1917 zurückkehren.
Vielmehr wollten sich die Kräfte um Gomulka in Polen dem Versuch entgegenstellen, in Ungarn eine sozialistische Demokratie zu errichten. Die mögliche politische Revolution wurde also – im Gegensatz zur ungarischen Entwicklung – in Polen in nationale stalinistische Bahnen umgeleitet. Wie ihre Brüder in Moskau hatten die polnischen Bürokraten nur ein Mittel zu ihrer Verfügung: sie konnten von scharfer Repression bei Bedarf auf gemässigte Reformen (oder dann auch wieder zurück auf verschärfte Repressionen) umschalten; dabei blieb jedoch der stalinistische Machtapparat stets völlig unangetastet. Aber die führenden Kräfte der V.I. sahen nichtsdestotrotz in Gomulka den Beginn einer vollständigen Veränderung der Situation in Polen verkörpert, genauso wie sie auch ungerechtfertigte Illusionen in die „Entstalinisierungspolitik“ in der Sowjetunion hegten. In jeder Phase der Entwicklung hielten sie erneut Ausschau nach einer Art Messias, der sie aus der Isolation von der Massenbewegung befreien könnte. Aber jedes Mal waren sie wieder zu Enttäuschung und Desillusionierung verdammt.
Sie gaben sich auch keineswegs damit zufrieden, dass sie sich bereits einmal am Maoismus die Finger verbrannt hatten. Der Bruch zwischen Russland und China, der für sie überraschend kam, war für sie Anlass, ihre Illusionen in den Maoismus neu zu beleben. Erneut tischten sie die Idee auf, China sei ein gesunder Arbeiterstaat mit nur geringfügigen Mängeln, der nur einer Reform, nicht jedoch einer politischen Revolution bedurfte. Mao sollte der neue Retter sein. Sie missverstanden die „Kulturrevolution“ in China gründlich.
Trotzki hat schon beschrieben, dass sich der proletarische Bonapartismus bisweilen sogar auf die Arbeiter- und Bauernmassen stützte, um die Bürokratie von den übelsten Auswüchsen zu säubern. Während der Einführung der 5-Jahres-Pläne in Russland stützte sich auch Stalin vorübergehend in ähnlicher Weise auf die Arbeiter- und Bauernschaft. Es gelang ihm sogar, unter den Arbeitern eine gewisse Begeisterung zu entfachen, weil diese von der Wichtigkeit ihrer Arbeit für den „sozialistischen Aufbau“ überzeugt waren. Aber diese Tatsache ändert nichts am Charakter, an der Politik und an den Methoden des Stalinismus. Es änderte nichts am Charakter des staatlichen Regimes. Einige Einzelpersonen oder sogar eine Schicht der Bürokratie zu Sündenböcken für alle Fehlentwicklungen abzustempeln, hatte noch nichts mit einer Schwächung der bürokratischen Herrschaft insgesamt zu tun. Im Gegenteil, dieser Prozess verstärkte letztlich sogar diese Herrschaft. Ebenso wenig bedeutete die „Kulturrevolution“ eine grundlegende Veränderung in China.
Alles was Mao tat, war sich auf die Masse der Arbeiter zu stützen, um gezielte Schläge gegen einige Teile der Bürokratie auszuteilen. Diese hatten inzwischen Privilegien und materielle Vorteile in einem Masse angesammelt, das weit über die begrenzten Möglichkeiten der noch schwach entwickelten Produktivkräfte Chinas hinausgingen. Die Kluft, die sich zwischen Arbeitern und Bauern einerseits sowie Schichten der Bürokratie andererseits auftat, hatte sich dermassen vergrössert, dass sie enorme Unzufriedenheit und Unruhe in der Bevölkerung auslöste.
Es erwies sich deshalb als immer dringender, diese Privilegien – wenn auch nur vorübergehend – einzuschränken; besonders dann, wenn man sich zum Ziel gesetzt hatte, die Arbeiter und Bauern zu neuen, verstärkten Kraftanstrengungen in der Produktion (Schwerindustrie, Atomwaffen, usw.) zu bewegen. Der ganze Prozess der „Kulturrevolution“ war von Anfang bis zum Ende von der Spitze der Bürokratie aus organisiert. Wenn man angesichts dessen in der V.I. von „Neuauflagen der Pariser Kommune“ in Shanghai, Peking und anderen chinesischen Städten sprach, so stellte dies eine Verächtlichmachung der grossen Tradition der Kommune sowie der Russischen Revolution dar. Das unvermeidliche Ergebnis dieser Ereignisse war dann auch eine Stärkung der Macht der chinesischen Bürokratie (auch in Polen hatte die Bewegung nur zur Ablösung der alten Bürokratenelite durch eine neue stärkere Clique unter Gomulka geführt). Für die chinesischen (wie für die polnischen) Massen lag in diesen Entwicklungen keinerlei Fortschritt, kein Ausweg. Aber die Suche nach Wundermitteln, durch deren Anwendung sich alle Probleme von allein lösen, war schon immer ein Symptom des kleinbürgerlichen Utopismus, der an die Stelle einer marxistischen Analyse tritt und der sich durch hysterische Hoffnungen auf diese oder jene Tendenz, auf diese oder jene Einzelperson (z.B. Tito, Gomulka oder Mao) auszeichnet.
Diese Methoden und die Kapitulation der V.I. gegenüber verschiedenen Schattierungen des Stalinismus oder Utopismus warfen immer wieder die Bemühungen um den Aufbau einer lebensfähigen Bewegung zurück. So war es z.B. in Italien die Führung der so genannten Trotzkisten, die tatkräftig beim Aufbau einer grossen maoistischen Bewegung mit 100.000 Anhängern mithalfen. Sie veröffentlichten in ihrer überschwänglichen Begeisterung für die „Kulturrevolution“ völlig unkritisch die Werke Maos in Italien und verteilten sie innerhalb der Kommunistischen Partei. Dadurch schufen sie die Grundlage für den Maoismus in Italien. Führende Vertreter der Trotzkisten unternahmen Reisen in die Schweiz, um sich bei der dortigen chinesischen Botschaft das „wertvolle“ Material zu besorgen. Die Konsequenz dieser unkritischen Haltung gegenüber den Ideen des Maoismus war ernüchternd: aus den Reihen der von ihnen hofierten maoistischen Bewegung gewannen die italienischen Trotzkisten so gut wie keine neuen Mitglieder für ihre eigene Organisation, im Gegenteil, sie verloren sogar noch Mitglieder an die Maoisten. An diesem Beispiel zeigte sich wieder einmal, dass besonders eine noch schwache Tendenz für theoretische Verirrung immer einen hohen Preis zahlen muss. In diesem Fall waren auch nicht allein die verlorenen Mitglieder zu beklagen, viel schlimmer sind die Verwirrung und Demoralisierung, die durch solche Erfahrungen in den Reihen der verbleibenden Mitgliedschaft gesät werden. Unter den gegebenen Umständen hätten sich die italienischen Trotzkisten ganz anders verhalten müssen: einerseits hätten sie der Basis der Kommunistischen Partei eine freundliche, diskussionsbereite Haltung entgegenbringen müssen – und zwar sowohl gegenüber denjenigen, die zum Maoismus tendierten, als auch denjenigen, die sich an der Sowjetunion ausrichteten. Gleichzeitig jedoch hätten sie nicht nur schärfste Kritik an der opportunistischen Politik des Moskau-Flügels üben müssen, sondern genauso an der unmarxistischen Position der Maoisten, angefangen bei deren Führern in Peking.
Aufgrund ihrer Misserfolge und der negativen Entwicklung der eigenen Organisation – die vor allem auf die objektiven Bedingungen der Nachkriegsperiode zurückzuführen waren, zum Teil aber auch auf ihre eigene falsche Politik – suchten sie den Schuldigen in der Arbeiterklasse. Die Arbeiter im Westen seien durch den „spätkapitalistischen“ Wohlstand „korrumpiert“, „verbürgerlicht“ und „amerikanisiert“ worden. Darauf jedenfalls liefen ihre Aussagen letztendlich hinaus. In der Folge spiegelte sich diese Ansicht in ihrer gesamten Politik wider. Als logische Konsequenz begab sich die V.I. auf die Suche nach einem neuen Allheilmittel, das der Internationale und der Arbeiterklasse neues Leben einhauchen könnte. Sie glaubte es Anfang der 1960er Jahre in der kolonialen Revolution gefunden zu haben.
Die jüngsten Dokumente unserer Tendenz haben die Bedeutung der kolonialen Revolution und der damit verbundenen Entwicklungen ausführlich dargelegt. Die Erhebungen, die wir in der sog. „Dritte Welt“ sehen, haben ihre Ursache in der absoluten Unfähigkeit des Kapitalismus und des Imperialismus, die Produktivkräfte in diesen Regionen in dem erforderlichen und möglichen Masse weiterzuentwickeln. Nun haben die Prozesse in diesen Ländern aber aufgrund der Existenz starker bonapartistischer Arbeiterstaaten und in Folge des Kräfteverhältnisses zwischen dem Imperialismus und den nichtimperialistischen Ländern einen ganz besonders eigentümlichen Verlauf genommen. Gerade deshalb kommt es mehr denn je darauf an, mit unbeugsamer Entschlossenheit an Trotzkis Konzept der permanenten Revolution festzuhalten. Insbesondere gilt es, in diesem Lichte die Lehren aus den Erfahrungen in China, Jugoslawien und Kuba zu ziehen und sich von den Einflüssen bürgerlich-nationalistischer, stalinistischer und reformistischer Tendenzen freizuhalten.
Während des algerischen Unabhängigkeitskrieges gegen den französischen Kolonialismus orientierte das I.S. (nach 1963 V.S.) der V.I. seine Organisation auf eine fast bedingungslose Unterstützung der FLN (Nationale Befreiungsfront). Diese Position war sicherlich noch angemessener als diejenige, die von den in den 1950er Jahren von der V.I. abgespaltenen Gruppen Lamberts (OCI = Organisation Communiste Internationaliste) und Healys (SLL/ WRP = Socialist Labour League, ab 1975 Workers Revolutionary Party) in Bezug auf Algerien vertreten wurde. Beide unterstützten die MNA (Algerische Nationalbewegung) – eine Bewegung, die zwar anfangs links von der FLN stand, aber später zu einem Instrument des französischen Imperialismus wurde. Es war also durchaus wichtig, die FLN kritisch zu unterstützen. Jedoch die ganze Arbeit der algerischen Sektion der V.I. der nationalistischen Bewegung unterzuordnen, konnte nur dazu führen, dass die noch schwachen trotzkistischen Kräfte sich an den Nationalismus anpassten.
Es wäre aus der Sicht der algerischen Trotzkisten richtig gewesen, einerseits zwar den gerechten Kampf um nationale Unabhängigkeit voll zu unterstützen, andererseits aber hätten sie gleichzeitig an einer internationalistischen Position festhalten müssen. Nur so hätte der nationale Unabhängigkeitskampf mit dem Kampf der französischen Arbeiterklasse verbunden werden können. Nur so hätte sich die Option eines sozialistischen Algeriens aufgetan, das sich mit einem sozialistischen Frankreich zusammenschliessen hätte können. Der Verrat der sozialdemokratischen und stalinistischen Organisationen in Frankreich an der Sache des algerischen Volkes war sicherlich die Ursache dafür, dass die algerische Revolution einen nationalistischen Charakter annahm. Aber das durfte für die V.I. noch lange kein Grund sein, selbst die Ideen des Marxismus-Leninismus zu dieser Frage aufzugeben.
Der Sieg über die französische Besatzungsmacht für sich allein war schon ein gewaltiger Schritt nach vorne. Es hätte der Führung der V.I. aber klar sein müssen, dass es völlig unmöglich sein würde, in einem Land wie Algerien eine Arbeiterdemokratie aufzubauen. Vielmehr konnte das Ergebnis des Befreiungskampfes nur entweder eine bürgerliche oder eine proletarische Version des Bonapartismus sein, denn das Land verfügte kaum über Industrie, seine Bevölkerung war durch den Krieg stark dezimiert, die Hälfte der Bevölkerung war arbeitslos, es gab keine starke, algerische Arbeiterklasse, und vor allem gab es keine revolutionäre Partei der Klasse. Hinzu kam noch das Fehlen jeglicher Hilfe durch die französische bzw. die internationale Arbeiterklasse. All diese Faktoren zusammen schlossen eine wirkliche Lösung (im Sinne einer Arbeiterdemokratie) für das algerische Volk aus. Mehr als die Überwindung der imperialistischen Herrschaft war unter diesen Bedingungen nicht möglich.
Auf den von den französischen Gutsbesitzern verlassenen Gütern errichteten die landlosen Bauern und die Landarbeiter mit Billigung der FLN-Regierung demokratisch gewählte Kontrollräte. In diesen „Räten“ sah die Führung der V.I. eine Bestätigung ihrer Illusionen in die Möglichkeiten der algerischen Revolution. Dies zeigte jedoch nur ihr mangelndes theoretisches Verständnis auf. Wirkliche Arbeiterkontrolle muss von den Industriearbeitern ausgehend aufgebaut werden und nicht etwa von den halb aus Bauern, halb aus Landarbeitern gebildeten Vereinigungen, die nach der Flucht der französischen Gutsbesitzer die Kontrolle über das Agrarland übernommen hatten. Bestenfalls waren es primitive Formen von landwirtschaftlichen Genossenschaften, aber keine Beispiele für Arbeiterkontrolle und -verwaltung. Sie konnten nur vorübergehende Erscheinungen ohne wirkliche Zukunftsperspektive darstellen. Vorausgesetzt, dass sich die sozialistische Revolution nicht auf hoch entwickelte Länder ausweitete, waren sie dazu verurteilt, eine interessante Kuriosität gesellschaftlicher Entwicklung zu bleiben. Eine vorübergehende Randerscheinung, die Aufschluss gibt über die instinktive Orientierung des ländlichen Halbproletariats. Es hat schon in vielen Ländern in Zeiten des Erwachens einer breiten Massenbewegung ähnliche Bewegungen gegeben.
Der Putsch Boumediennes im Jahre 1965 traf die Führung der V.I. völlig unvorbereitet, obwohl diese oder eine ähnliche Entwicklung in Algerien unvermeidlich war. In allen kolonialen Ländern, in denen der Kampf gegen die imperialistische Herrschaft erfolgreich verlief, haben sich vergleichbare Prozesse abgespielt. Zwar errangen diese Länder ihre politische Unabhängigkeit, sie bleiben aber wirtschaftlich von den Industrieländern abhängig. Natürlich stellt allein schon die Durchsetzung der politischen Unabhängigkeit für die kolonialen Völker einen riesigen Fortschritt dar. Auf der anderen Seite jedoch stehen diese Länder, die jetzt ihre nationale Unabhängigkeit erlangt haben, aufgrund der über den Weltmarkt sich manifestierenden imperialistische Herrschaft einerseits sowie die relative Stärke des stalinistischen Bonapartismus andererseits vor ganz neuen, kaum zu bewältigenden Problemen. Die einheimische Bourgeoisie ist völlig unfähig, die Probleme dieser Länder zu lösen. Aus diesem Grund haben in den früheren Kolonialgebieten Afrikas, in den halb-kolonialen Gebieten Lateinamerikas sowie in den meisten Ländern Asiens Militärdiktaturen verschiedenster Formen die Macht an sich gerissen. Die ständige Krise, der sich diese Regimes gegenübersahen, hat sie in Richtung entweder eines proletarischen oder aber eines kapitalistischen Bonapartismus getrieben.
Das I.S. der V.I. hatte zwar (in der Hoffnung auf eine Lösung seiner eigenen Probleme) seine ganze Konzentration der kolonialen Revolution zugewandt, die Dialektik des Prozesses in diesen Ländern hat es aber nicht verstanden. Die Entwicklung der kolonialen Revolution vollzog sich aufgrund der Verzögerung der Revolution im Westen (einschliesslich den USA und Japan) in einer völlig verzerrten Form. Dabei spielte die Schwäche der genuin marxistisch-leninistischen Kräfte, die auf die bereits früher beschriebenen historischen Faktoren zurückzuführen war, eine wichtige Rolle. Auch wenn die koloniale Welt ansonsten reif für die sozialistische Revolution war, musste die Revolution unter diesen Umständen auf die eine oder andere Art entarten.
Es wäre die Pflicht einer marxistischen Führung gewesen, den Prozess, der sich in der „Dritten Welt“ abspielt, auf der Grundlage einer korrekten Analyse den noch jungen und schwachen marxistischen Kräften in diesen Ländern eine vernünftige Orientierung zu geben. Aber trotz der Lehren, die Trotzki aus den Erfahrungen der Kommunistischen Partei Chinas mit der Kuomintang gezogen hatte, trotz der reichen Erfahrungen, die die Entwicklungen in Jugoslawien, China, Russland und in den Ländern Afrikas geliefert hatten, trotz alledem versäumte es das V.S. der V.I., die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Seine führenden Vertreter erstarrten in Ehrfurcht vor den mächtigen revolutionären Bewegungen in der kolonialen Welt. Natürlich ist es immer besser, an einer wichtigen Bewegung mitzuwirken , als einfach nur abseits zu stehen. Aber das darf niemals heissen, dass man mit den kleinbürgerlich-nationalistischen Kräften in den kolonialen Ländern verschmilzt und dabei seine eigene revolutionäre Identität vollständig aufgibt. Indem man vor den unrealistischen Wunschvorstellungen der dortigen Mittelschichten kapitulierte, setzte man gleichzeitig die revolutionäre Avantgarde dem Einfluss des Nationalismus aus.
Das völlige Fehlen einer marxistischen Methode zeigt sich nicht zuletzt in der Haltung der V.I. zur kubanischen Revolution. Die kubanische Revolution, so das I.S. der V.I., sei ein Paradebeispiel für die Anwendung der marxistischen Methode. In Wahrheit wurde Castros Armee um ein bürgerlich-demokratisches Programm gesammelt und bestand hauptsächlich aus Landarbeitern, Bauern und Lumpenproletariern. Castro begann als bürgerlicher Demokrat und sein Vorbild für eine Gesellschaft waren die Vereinigten Staaten. Die Arbeiterklasse griff erst im letzten Stadium in den Kampf ein. Als Castro auf Havanna marschierte, riefen die Arbeiter zu seiner Unterstützung einen Generalstreik aus. Der Fall Havannas bedeutete den Zusammenbruch der verhassten Armee und Polizei des Batista-Regimes. Castros Guerillatruppe hatten die Macht nun fest in der Hand.
Dass das Regime in der Folge an die Überwindung des Kapitalismus und Grossgrundbesitzes schritt, war aber nicht das Ergebnis eines durchdachten, bewussten Prozesses. Im Gegenteil, es waren die Fehler des amerikanischen Imperialismus, die Castro zu einer Politik der Enteignung des Privateigentums an den Produktionsmitteln greifen liess.
Obwohl Castro zu Beginn lediglich bürgerlich-demokratische Reformen durchführte, verhängten die USA eine Blockade über Kuba, dessen Wirtschaft zu 90% amerikanischen Kapitalisten gehörte. Die Monopole, die Kuba kontrollierten, weigerten sich, die Steuern zu zahlen, die Castro einheben wollte, um Geld für seine Reformen zu bekommen. Obwohl diese Steuern immer noch weit unter dem Niveau auf dem amerikanischen Festland lagen, erhoben sie wütend Einspruch und wandten sich mit der Bitte um Unterstützung an Washington.
Als Vergeltung für die Blockade verstaatlichte das kubanische Regime das gesamte amerikanische Eigentum auf Kuba. Dies bedeutete, dass sich nun neun Zehntel der Landwirtschaft und der Industrie in staatlicher Hand befanden, später verstaatlichte das kubanische Regime auch noch das restliche Zehntel. Die neue Staatsführung hatte China, Jugoslawien und Russland zum Vorbild und errichtete ein System nach diesem Muster. Eine Arbeiterdemokratie gab es jedoch auf Kuba zu keinem Zeitpunkt. Das bonapartistische Regime wird durch Castro und die Massenversammlungen auf dem Platz der Revolution verkörpert, wo der einzige Beitrag der Massen darin besteht, auf Castros Appelle mit „Si“ zu antworten. Kuba ist ein Einparteienstaat ohne Rätedemokratie und ohne Arbeiterkontrolle über die Industrie oder den Staat.
Angesichts der Isolation der Revolution und der Art, wie sie sich entwickelt hatte, war die Herausbildung eines bürokratischen Regimes auf Kuba unvermeidlich. Die Arbeitermiliz ist entwaffnet worden. Die Differenzierung zwischen der (Top-)Bürokratie und der Arbeiterklasse schreitet ständig voran. Der Staatsapparat hat sich über die Massen erhoben und spielt eine völlig eigenständige Rolle. Hinter den Kulissen versucht Castro mit dem amerikanischen Imperialismus diplomatische Anerkennung und Entwicklungshilfe zu vereinbaren und in der nächsten Periode ist eine Einigung wahrscheinlich unausweichlich. Dann wird mit den „revolutionären“ Appellen, die Castro an Lateinamerika richtet, Schluss sein. Die Weltsicht der Führer der kubanischen Revolution wird aufgrund der engen Inselgrenzen mehr und mehr durch die Beziehungen zu anderen Nationen und die internationalen Klassenbeziehungen bestimmt werden.
Gegenwärtig erhält Kuba von der stalinistischen Bürokratie in Russland täglich mehrere Millionen Dollar an Hilfe, ohne die das Regime nicht überleben könnte. Für eine Arbeiterdemokratie würde die Bürokratie der Sowjetunion nicht eine Kopeke geben. Nur weil das Regime in Havanna im Wesentlichen mehr und mehr den anderen bonapartistischen Arbeiterstaaten ähnelt, leistet sich die Bürokratie den Luxus brüderlicher Hilfe an Kuba.
Wenn eine Organisation mit einer falschen theoretischen Grundlage an ein Problem herangeht, wird sie von einem Irrtum in den nächsten stolpern. Das erklärt auch, warum das Vereinigte Sekretariat völlig blind ist gegenüber den Prozessen, die auf der Insel ablaufen und sieht nicht, dass das Regime in Kuba unvermeidlich bürokratisch degenerieren und totalitäre Züge annehmen musste. Es hält weiter an dem reaktionären Traum fest, das rückständige Agrarland Kuba könne den Sozialismus aufbauen. Aus ihrer Sicht braucht Kuba nur kleinere Reformen, um zu einer mustergültigen Arbeiterdemokratie zu werden. Die Notwendigkeit einer politischen Revolution zur Errichtung einer Arbeiterdemokratie sieht das V.S. nicht, lediglich fantasierte „Reformen“. Als ob die Arbeiterkontrolle über Industrie und Staat erreicht werden könnte, indem man Castro von der Notwendigkeit dieses Schritts überredet.
Andererseits argumentiert das V.S. in einem äussert abenteuerlichen Argumentationskunststück, dass bereits eine Arbeiterdemokratie existiere und Kuba sogar demokratischer sei als Russland in den Jahren 1917-1920. Die Wahrheit ist, wenn Castro solche Reformen einleiten würde, würde er selbst von der Bürokratie entfernt werden. Abgesehen davon glaubt Castro, der ohne festen ideologischen Hintergrund agiert, dass er den „Sozialismus“ aufbaut. Ohne ideologische Scheuklappen könnte er die Rolle, die er spielt, auch gar nicht durchhalten. Aber die Sektierer beugen sich, ohne selbst dem Druck bürokratischer Interessen ausgesetzt zu sein, dieser Variante des Stalinismus und setzen sich die Scheuklappen freiwillig auf.
Nach einem Vierteljahrhundert müssen wir zu dem Schluss kommen, dass diese Strömung nichts dazugelernt hat und ihr theoretisches Erbe völlig vergessen hat. In Lateinamerika wiederholen sie die Fehler, die sie schon in Algerien gemacht haben, und in anderer Form zeigt sich dasselbe Methodenproblem in der Einschätzung Chinas und Jugoslawiens. Nun wird Bolivien als das Zaubermittel gesehen, mit dem die Weltsituation verändert werden könnte. Die V.I. verschmilzt nun in dem Versuch, die kubanische Erfahrung zu wiederholen, mit kleinbürgerlichen Guerillabewegungen. Castro wird als „unbewusster Trotzkist“ und als der neue Messias des Marxismus gesehen; er ist das neue Idol, dem die V.I. nacheifert. Ungeachtet veränderter Umstände, unterschiedlicher Bedingungen, der zunehmenden Wachsamkeit der herrschenden Klasse und des Imperialismus unterstützte man Abenteuer wie jenes von Che Guevara, der versuchte, die Bauernschaft für den Guerillakrieg zu gewinnen.
Guevaras Heldentum sollte uns gegenüber seinem theoretischen Bankrott nicht blind machen. Eine Wiederholung der Politik des Castroismus in Lateinamerika ist in Wirklichkeit ein Verbrechen gegen die Interessen der internationalen Arbeiterklasse. In der marxistischen Literatur wurde die Rolle der verschiedenen Klassen in der Gesellschaft, des Proletariats, der Bauern, des Kleinbürgertums und des Bürgertums ausführlich dargelegt. Für die V.I. ist das anscheinend aber ein Buch mit sieben Siegeln. Der Marxismus geht davon aus, dass auch in der kolonialen Revolution das Proletariat die führende Rolle spielt. Das Proletariat wird im Produktionsprozess zur Zusammenarbeit gezwungen. Es wird gezwungen, sich zum Schutz gegen Ausbeutung zusammenzuschliessen. Daher ist die Arbeiterklasse die einzige gesellschaftliche Kraft, welche die sozialistische Revolution zu erkämpfen vermag.
Doch sogar das Proletariat ist nur Material für die Ausbeutung, solange es nur eine Klasse an sich und nicht eine Klasse für sich ist. Dieses Bewusstsein entwickelt sich mit den Erfahrungen der Klasse und in ihrem Kampf für bessere Lebensbedingungen. Auch dazu braucht es die Partei und die Führung der Arbeiterklasse. Die Bauern, kleinbürgerliche Intellektuelle und das Lumpenproletariat können gesellschaftlich gesehen keine unabhängige Rolle spielen. Wo kleinbürgerliche Intellektuelle und Ex-Marxisten den Klassenkampf auf Basis eines Bauernkrieges organisieren, wird sich das Klassenbewusstsein aufgrund des Charakters eines solchen Kampfes nicht wirklich entwickeln können. Wenn es in Jugoslawien und China nichtsdestotrotz gelungen ist, die Bauernschaft, das Kleinbürgertum und das Lumpenproletariat in nationalen und sozialen Befreiungsarmeen zu einem erfolgreichen Kampf gegen die verfaulenden semi-feudalen Regimes zu organisieren, so war dies nur unter ganz bestimmten historischen Bedingungen möglich, die wir in früheren Dokumenten analysiert haben.
Es stimmt, dass Lenin die Möglichkeit sah, dass Regionen in Afrika direkt von der Stammesorganisation zum Kommunismus übergehen könnten. Doch dies, so schreibt er, könnte nur mit Hilfe des Sozialismus in den fortgeschrittenen Ländern geschehen und nicht auf Grundlage der eigenen Ressourcen. Die materiellen Voraussetzungen für den Sozialismus existieren in keinem der Kolonialländer, nur im Weltsystem wird die Basis für die sozialistische Revolution in den rückständigen Teilen der Welt gelegt. Diese sogenannten Marxisten stellen die Ideen des Marxismus von den Füssen auf den Kopf und übernahmen die Politik der russischen Narodniki und Sozialrevolutionäre. Unbewusst haben sie dabei die marxistische Analyse der Rollen der verschiedenen Klassen in der Gesellschaft über Bord geworfen. Für Bakunin sind die Bauern und die Lumpenproletarier die revolutionärste Klasse der Gesellschaft. Diese Konzeption floss aus der Methode und Theorie des Anarchismus. Damit einher ging auch die Strategie der Propaganda der Tat, sprich des Terrorismus und der Enteignung von einzelnen Kapitalisten und Grossgrundbesitzern.
Nachdem sich die Kommunistischen Parteien und der Reformismus in Lateinamerika weitgehend diskreditiert hatten, konnte sich das Programm des Guerilla-Krieges auf dem Land und, schlimmer noch, das Konzept der „Stadtguerilla“ entwickeln. Die jungen, noch schwachen Kräfte des Trotzkismus hatten aufgrund des Zick-Zack-Kurses der vergangenen 25 Jahre kein klares Konzept und landeten schliesslich ebenfalls beim Guerillakampf, der sich Sackgasse erwies. Ihre wichtigste Aufgabe jedoch wäre es in dieser Situation gewesen, unter den fortschrittlichen Kräften, unter den Intellektuellen, Studierenden und vor allem in der Arbeiterklasse, die grundlegenden Ideen des Marxismus zu verankern. Die Bewegungen für nationale und soziale Befreiung in Brasilien, Argentinien, Uruguay, Chile, Guatemala und den anderen Ländern Lateinamerikas kann nur aus einer Massenbewegung der Arbeiterklasse und der Bauern entstehen. Kleine Scharmützel, Entführungen, Banküberfälle usw. verschleissen nur sinnlos die tapferen und ernsthaften jungen Kräfte der Revolution. Es darf nicht ihre Aufgabe sein, auf sich allein gestellt und losgelöst von den realen Klassenkämpfen, den Kampf mit der herrschenden Klasse, mit der Armee und der Geheimpolizei, auszufechten.
Dies scheint auf den ersten Blick der schwierigere Weg zu sein, und in gewissem Sinne ist es auch der schwierigere Weg. Doch nur indem man allen voran die Arbeiterklasse im Kampf für nationale und soziale Befreiung organisiert, kann eine sozialistische Revolution siegreich sein bzw. kann sich diese Revolution dann auch gesund entwickeln. Aufgrund der Komplexität der historischen Rahmenbedingungen und der spezifischen Beziehungen der Klassen im internationalen Massstab kann theoretisch nicht ausgeschlossen werden, dass ein Guerillakrieg erfolgreich sein könnte. Das Ergebnis wäre aber bestenfalls jenem in China oder auf Kuba ähnlich, nicht jedoch der Sowjetdemokratie von 1917, die unter der Führung des Proletariats erkämpft wurde.
Eine Massenbewegung des Proletariats ist in den Ländern Lateinamerikas durchaus möglich. Die jüngsten Generalstreiks in Chile, Argentinien und Peru sind ein Beweis für die potenzielle Stärke der Arbeiterklasse. Eine revolutionär-marxistische Strömung muss mit der Perspektive aufgebaut werden, dass eine gut vorbereitete Massenerhebung zum Sieg der sozialistischen Revolution führen kann. Eine entscheidende Bedeutung zur Vorbereitung eines solchen Aufstands käme dabei den Klassenkämpfen in den Städten zu. Die Revolution würde sich unter diesen Bedingungen über ganz Lateinamerika ausbreiten.
Die Kader des Proletariats müssen auf Grundlage der Erfahrungen der russischen Revolution politisch ausgebildet werden. Sie dürfen nicht die Revolutionen in China, Kuba oder Jugoslawien zum Vorbild nehmen, sondern sollten sich am Beispiel der russischen Revolution von 1917 orientieren. Die Marxsche Konzeption einer proletarischen Revolution in den Städten, die durch einen Bauernkrieg auf dem Land unterstützt wird, sollten sie zu der ihren machen. Die Hauptaufgabe in diesen Ländern besteht in geduldiger Überzeugungsarbeit in Bezug auf die führende Rolle des Proletariats im Kampf um die Arbeitermacht und den Sozialismus.
Nicht die Stadtguerilla, sondern die organisierte und bewaffnete Arbeiterklasse muss den kapitalistischen Staatkonfrontieren – das gilt auch für einen Militär- und PolizeistaatWenn das Proletariat einmal von der Notwendigkeit sich zu bewaffnen überzeugt ist, wird es auch die nötigen Waffen auftreiben. Die Armee, die die Arbeiterklasse in Schach halten soll, besteht hauptsächlich aus Bauern. Sie wird angesichts einer Massenbewegung auseinanderbrechen und die Mehrheit der Soldaten wird auf die Seite der Revolution wechseln. Die bäuerlichen Elemente der Armee können mit der Forderung nach einer Landreform und nach der nationalen Befreiung vom Imperialismus für die Revolution gewonnen werden.
Dem Druck des kleinbürgerlichen Anarchismus nachzugeben, entspricht einem Verrat an der historischen Mission des Marxismus. Marxisten sollten die Anhänger einer idealistischen Revolutionskonzeption freundlich aber bestimmt kritisieren. Auch wenn diese von ehrlichen Motiven getrieben sind, so führen sie die Bewegung doch in eine schreckliche Sackgasse. Gegen die Methoden und die Politik des Anarchismus gilt es kompromisslos aufzutreten. Die sogenannten Trotzkisten der Vierten Internationale haben stattdessen das Gedankengut des Anarchismus weitgehend übernommen und den Marxismus, der sich mit seinen klaren Ideen auf jahrhundertelange Erfahrungen des Klassenkampfes und der nationalen Befreiungsbewegungen stützt.
Es liegt nicht in der Tradition des Marxismus einen Bauernkrieg zu fördern, der völlig losgelöst von der wirklich entscheidenden Bewegung der Arbeiterklasse geführt wird. Natürlich müssen wir immer und unter allen Umständen auch andere unterdrückte Klassen in ihrem Kampf unterstützen. Unser Hauptaugenmerk muss jedoch auf den Klassenkämpfen des Proletariats in den Städten liegen.
Angesichts der Erfahrungen der letzten 30 Jahre haben die Argumente für einen Bauernkrieg ein gewisses Gewicht bekommen. Aber die Aufgabe der Marxisten besteht nicht allein im Sturz der kapitalistischen Herrschaft, sondern auch darin, einen Weg zur Errichtung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung aufzuzeigen. Die Überwindung des Kapitalismus und des Grossgrundbesitzes in den kolonial geprägten Ländern stellt einen gewaltigen Fortschritt für die ganze Menschheit dar. Aber gerade weil die Bauernschaft als Klasse die zukünftigen sozialistischen Aufgaben nicht eigenständig lösen kann, wird sie nur an die Macht kommen, indem sie neue Hindernisse auf dem Weg zum Sozialismus errichtet.
Der Sieg eines Bauernkrieges in den unterentwickelten Ländern kann angesichts der derzeitigen Kräfteverhältnisse im internationalen Maßstab und aufgrund der Krise des Kapitalismus und Imperialismus einen deformierten Arbeiterstaat zum Ergebnis haben. Eine solche Revolution wird aber nicht zur Errichtung einer Arbeiter- und Bauerndemokratie führen, in der die Industrie, die Landwirtschaft und der Staat von den Arbeitern und Bauern bewusst kontrolliert werden. Der Grund dafür liegt ganz einfach in der Tatsache, dass in den ehemaligen Kolonien und in den halbkolonialen Ländern – solange diese national isoliert bleiben – die materielle Basis für den Sozialismus nicht vorhanden ist. Wenn diese Revolutionen trotzdem den Kapitalismus überwinden können, so liegt das daran, dass die Produktivkräfte im internationalen Massstab für den Sozialismus ausreichend weit entwickelt sind. Weltweit betrachtet sind die für den sozialistischen Aufbau notwendigen Technologien, Produktionskapazitäten und Ressourcen vorhanden. Das macht eine gesunde Diktatur des Proletariats in den Kolonialländern und auch in den entarteten Staaten Chinas, Jugoslawiens und Kubas prinzipiell möglich. Doch wo die Revolution einen von vornherein degenerierten Verlauf nahm, oder wo sie wie in Russland auf einem gesunden Weg war, sich aber aufgrund von Rückständigkeit und Isolation von der Diktatur des Proletariats in eine stalinistisch-bonapartistische Diktatur wandelte, wird sich über die Arbeiterklasse und die Bauernschaft eine privilegierte Elite erheben, die auch die Staatsmaschinerie kontrolliert. Dies bedeutet, dass es eine neue politische Revolution braucht, bevor diese Gesellschaften Richtung Sozialismus schreiten können. In China, Jugoslawien, Russland und Kuba muss die Arbeiterklasse eine politische Revolution durchführen, bevor der Staatsapparat seine Zwangsfunktion verlieren und absterben kann. Alle diese Fragen der kolonialen Revolution können jedoch nicht vom Problem der Weltrevolution getrennt gesehen werden.
Wer vor klassenfremden Theorien in die Knie geht und bereit ist, die grundlegendsten Ideen der permanenten Revolution zu verwässern, der kehrt dem Marxismus-Leninismus den Rücken. Wenn man in Lateinamerika, Asien und Afrika nicht an den grundlegenden Ideen des Marxismus festhält, endet man sehr schnell im kleinbürgerlichen Nationalismus, im anarchistischen Utopismus oder im stalinistischen Zynismus und verliert das Vertrauen in die Kraft des Proletariats. Vor allem wird man bald schon die Perspektive der Weltrevolution aufgeben, auf die sich unser marxistischer Internationalismus gründet; damit gibt man aber auch das Programm des Trotzkismus preis.
Das lateinamerikanische Proletariat ist besonders in Brasilien, Chile, Argentinien, Uruguay und Mexiko stark genug, um die führende Rolle in der Revolution spielen zu können. Die Kräfte des Marxismus müssen sich in erster Linie auf die Arbeiterklasse orientieren. Intellektuelle und Studierende, die sich von ihren kleinbürgerlichen Traditionen lossagen und verstanden haben, dass Kapitalismus und Imperialismus diesen Ländern keine Zukunft bieten können, müssen in diesem Geist politisch geschult werden. Nur in der ideologischen Auseinandersetzung mit allen anderen Strömungen in der Linken kann der Trotzkismus die nötigen Kader auf ihre Aufgaben in der revolutionären Bewegung vorbereiten.
Eine profunde Kritik an der bürokratischen Entwicklung von Castros Regime in Kuba muss zentraler Bestandteil bei der Reorganisierung der revolutionären Kräfte in Lateinamerika sein. Wir müssen die Errungenschaften der kubanischen Revolution verteidigen und ihre positiven Seiten betonen, aber gegenüber der Avantgarde der Arbeiter- und Jugendbewegung müssen wir auch die negativen Gesichtspunkte zur Diskussion stellen. Nur so können die Kinderkrankheiten des kubanischen Regimes in Lateinamerika erfolgreich bekämpft werden.
Die politische Linie des Vereinigten Sekretariats zur Frage des Entrismus basiert ebenso wenig auf festen Grundsätzen wie alle anderen Aspekte ihres politischen Konzepts. In Grossbritannien setzte die V.I. in der kurzen, unmittelbar auf den Krieg folgenden Wirtschaftskrise auf die Taktik des Entrismus, weil sie Bedingungen für eine lange Krise des Kapitalismus und die Entwicklung eins starken linken Flügels in der Labour Party sah. Trotzki verfolgte eine Strategie, die darauf abzielte die Avantgarde auf der Grundlage fester politischer Grundsätze zu gewinnen. Seine Nachfolger jedoch versuchten die fortschrittlichen Teile der Bewegung zu gewinnen, indem sie von ihrem eigenen, politischen Programm Abstriche machten. Sie verwässerten ihr eigenes Programm und passten sich immer stärker an den Linksreformismus bzw. sogar an einzelne Individuen, obwohl diese oft nur sich selbst repräsentierten. Sie entwickelten eine Politik, die sie “tiefen Entrismus” nannten. Sie vermengten objektive und subjektive Faktoren der Politik, und ohne Rücksichtnahme auf die Art und Weise, wie sich das Bewusstsein der Massen entwickelt, erklärten sie ihren Mitgliedern, dass sie den linken Flügel in der Arbeiterbewegung organisieren würden. Wenn es tatsächlich darum ginge, eine Bewegung ausschliesslich mit Tricks, Manövern und Taktiererei zu organisieren, dann hätte ohnedies schon die stalinistische Perversion des Marxismus den richtigen Weg aufgezeigt.
Selbst bei einer korrekten Strategie, Politik und Taktik hängt die Entwicklung des Massenbewusstseins nicht von willkürlichen Entscheidungen politischer Gruppen ab. Die Entwicklung des Bewusstseins innerhalb der Klasse folgt eigenen Gesetzen, denen ein Molekularprozess, der sich auf Basis von Erfahrung und Ereignissen entwickelt, zu Grunde liegt. Ihr (teilweise erfolgreicher) Versuch, sich als Linksreformisten auszugeben, führte dazu, dass sie tatsächlich zu „Linksreformisten“ wurden. Auf lange Sicht ist eine solche Politik verhängnisvoll und bereitet nur eine Wende zu einer „ultralinken“ Politik vor. Sowohl der Opportunismus wie auch der Linksradikalismus haben ihren Ursprung in der Unfähigkeit einer Organisation, eine prinzipienfeste Linie durchzuhalten, die objektive Situation richtig einzuschätzen und die Entwicklung des subjektiven Faktors mit der der objektiven Situation in Einklang zu bringen.
Ereignisse allein werden natürlich die Frage des Aufbaus der Organisation nicht lösen, aber andererseits kann eine revolutionäre Strömung nur stärker werden, wenn sie die objektiven Prozesse versteht und sich an den realen Bewusstseinsprozessen der fortgeschrittenen Arbeiter orientiert. Als Massentendenz wird sich der linke Flügel zunächst auf einer linksreformistischen bzw. zentristischen Grundlage entwickeln. Die revolutionären Kräfte können beim Aufbau des linken Flügels eine Rolle spielen, doch im Zuge einer Massenbewegung werden erst einmal politisch konfuse Linksreformisten und Zentristen an die Spitze geraten. In einem frühen Stadium der Entwicklung werden sie unvermeidlich die Führung des linken Flügels stellen. Erst im Zuge von Erfahrungen, die den Ausgangspunkt für eine marxistische Kritik bilden, werden die Reformisten durch marxistische Kader ersetzt werden.
Für die Führung der V.I. ist das ein Buch mit sieben Siegeln. In Grossbritannien prognostizierte sie in der Nachkriegsperiode jedes Jahr einen neuerlichen Ausbruch des Weltkrieges. Bei den Wahlen von 1951 plapperten sie die Propaganda der Labour-Spitze nach und behaupteten, dass ein Sieg Churchills Krieg bedeuten würde! Anstatt das politische Verständnis jener Arbeiter zu vertiefen, mit denen sie in Kontakt standen, trugen sie nur zu deren Verwirrung bei. Als ob Krieg und Frieden allein von der Laune eines Individuums abhängen würden. Ebenfalls 1951 erklärten sie, dass Grossbritannien innerhalb von 12 Monaten vor der Entscheidung zwischen Sozialismus oder Faschismus stehen würde. Wenn man ihre Publikationen liest, kann man nur zu dem Eindruck kommen, dass der Socialist Labour League (später Workers Revolutionary Party) die Texte von Trotzki und anderen marxistischen Theoretikern zur Frage der Bewegung der Klassenkräfte völlig unbekannt waren.
Es geht nicht darum sich die Frage zu stellen, ob die herrschende Klasse zu einem bestimmten Moment beschliesst das Auto anstatt den Zug zu nehmen, viel mehr muss man sich die Frage nach dem Kräfteverhältnis zwischen den Mittelschichten, der Arbeiterklasse und der herrschenden Klasse stellen. Nicht nur in Grossbritannien, wo sie niemals die Lehren aus den gemachten Erfahrungen zogen, sondern überall, wo sie ihre Taktik anwandten, haben sie gemessen an den selbst gesetzten Zielen schrecklich versagt.
Das hatte seine Ursache in dem langen Wirtschaftsaufschwung, der in der Nachkriegszeit zu einer Erneuerung der Sozialdemokratie in Ländern wie der BRD und England sowie des Stalinismus in Ländern wie Frankreich und Italien führte. Mit ihren theoretischen Konzepten steckte das V.S. in einer Sackgasse, dazu kam die schwierige objektive Situation. Unter diesen Bedingungen entwickelte das V.S. eine Theorie des generellen Entrismus in die Sozialdemokratie oder die KP, je nachdem welche der beiden Parteien in einem bestimmten Land stärker war. Dies war unter den gegebenen Bedingungen die korrekte Taktik. Doch leider war das V.S. in der Durchführung dieser Taktik durch und durch opportunistisch. In den KPs in Frankreich und Italien passten sie sich dem Stalinismus an, ohne eine standfeste, revolutionäre, leninistische Position zu beziehen. Selbst unter schwierigen Bedingungen hätte es möglich sein müssen, dem Kurs der jeweiligen Parteiführungen eine Politik im Sinne von Marx und Lenin entgegenzustellen.
Die Taktik des Entrismus floss aus der objektiven Situation und der Schwäche der revolutionären Kräfte, ihre konkrete Umsetzung wurde aber völlig opportunistisch angelegt. In der Folge erzielten sie mit dieser Politik in Frankreich und Italien auch keine grossen Erfolge und traten mit der gleichen Anzahl an Unterstützern aus der KP aus, wie sie schon beim Eintritt hatten. Sie verfolgten einen Zickzack-Kurs zwischen opportunistischer Anpassung an die Führung einerseits und einer ultralinken Position gegenüber der KP, womit sie sich den Weg zur Parteibasis versperrten.
In den sozialdemokratischen Parteien unterwarfen sie sich dem Linksreformismus, so in der BRD, in Grossbritannien, Holland und Belgien. Diese Politik musste erfolglos bleiben. 1967 verabschiedeten sie als Reaktion darauf eine Resolution, in der eine ultralinke Position gegenüber diesen Parteien eingenommen wurde, wonach sie nicht länger Massenparteien der Arbeiterklasse seien. Doch leider hatten die KP in Frankreich und Italien sowie die Sozialdemokratie in anderen Ländern immer noch die Unterstützung der überwältigenden Mehrheit der Arbeiterklasse, die es nicht einmal mitbekommen hat, dass die Ultralinken ihrer Partei den Rücken zugewandt hatten.
Diese ultralinke Wende von 1967 war kein einmaliger Ausrutscher in der Nachkriegsgeschichte der V.I. Schon unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg nahm die Führung der V.I. in praktisch allen Fragen einer ultralinken Haltung ein. Man leugnete die Möglichkeit eines Wirtschaftsaufschwungs des Nachkriegskapitalismus. Durch die Politik des Stalinismus und des Reformismus wurden aber die politischen Voraussetzungen für ein Wiederaufleben des Kapitalismus geschaffen. 1946/47 war die Führung der V.I. aber der festen Überzeugung, dass die Wirtschaft auf kapitalistischer Grundlage nicht wieder aufgebaut werden könnte. Aus ihrer Sicht standen wir angeblich vor einer Nachkriegskrise, aus der der Kapitalismus keinen Ausweg finden konnte.
Als wir ganz im Sinne Lenins die Meinung vertraten, dass der Kapitalismus immer einen Ausweg findet, solange er nicht gestürzt wird, wurden unsere Argumente ins Lächerliche gezogen. Als ihre Behauptungen durch die Entwicklung 1948 widerlegt wurden, dozierten sie feierlich „marxistisch“, dass es eine Obergrenze der Produktion gäbe, eine höchste Entwicklungsstufe, die der Kapitalismus in der Vorkriegszeit erreicht hätte und nicht mehr überschreiten könne. Zum Kummer unserer selbsternannten marxistischen Ökonomen wurde diese absolute Obergrenze schon Anfang der 1950er Jahre im Zuge des Aufschwungs der Weltwirtschaft durchbrochen.
1949 hatte die V.I. behauptet, dass es dem amerikanischen Imperialismus unmöglich sei, seinen Rivalen Hilfe zu gewähren. Wie soll es möglich sein, dass Amerika seine Konkurrenten hochpäppelt, schmunzelten sie ironisch; seien die Kapitalisten etwa Menschenfreunde geworden, die ihre Konkurrenten unterstützen würden? In anderen Worten, sie hatten nicht das geringste Verständnis vom Kräfteverhältnis zwischen den Klassen bzw. den Nationen, vom Kräfteverhältnis zwischen Russland und Amerika. Ihre ökonomischen Analysen zu jener Zeit waren vergleichbar mit dem theoretischen Niveau der Stalinisten der „dritten Periode“ in den 1930er Jahren.
Eine neue Periode bringt immer auch neue Götter hervor. Nachdem ihre plumpen „Theorien“ der Realität nicht standhielten, schlug die V.I. Anfang der 1960er Jahre nun einen neuen Purzelbaum. Nicht ihre Analyse etwa sei falsch gewesen, sondern der Kapitalismus habe sich offenbar grundlegend gewandelt. Insgeheim war die Führung der V.I. zu dem Schluss gekommen, dass die marxistische Krisentheorie nicht mehr relevant sei. Auch wenn sie es aus Angst vor einer Revisionismusdebatte nicht wagte, dies offen zu sagen, so akzeptierte sie doch die grundlegenden Aussagen des Keynesianismus, wonach eine Krise durch staatliche Eingriffe und Defizitfinanzierung verhindert werden könne. Diese Idee zieht sich über zwei Jahrzehnte hinweg durch ihre zentralen ökonomischen Dokumente. Am klarsten geht es aus ihrem Weltkonferenzdokument von 1965 „Die Entwicklung des Kapitalismus in Westeuropa und die Aufgaben der revolutionären Marxisten“ hervor:
„Wenn sich dieser Boom 1965 und in der ersten Hälfte 1966 fortsetzt, ist es wahrscheinlich, dass keine allgemeine Rezession in Westeuropa stattfinden wird. Wenn dagegen in den USA 1965 oder Anfang 1966 eine Rezession ausbricht, ist es wahrscheinlich, dass dies mit einer allgemeinen Rezession in Westeuropa zusammentreffen würde und, dass zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg die wirtschaftlichen Zyklen aller wichtigen kapitalistischen Länder synchron laufen würden. Jedoch sogar im letzteren Fall würde es nur eine Rezession sein und nicht eine ernste wirtschaftliche Krise wie jene von 1929 oder 1938. Der Grund dafür ist, wie schon in früheren Dokumenten der Internationale ausführlich dargestellt, die Möglichkeit des Imperialismus Krisen durch die Erhöhung des Staatsbudgets zu ‚amortisieren’. Der Preis dafür ist die ständige Kaufkraftminderung des Geldes.“ (S.3, unsere Hervorhebung).
Diese keynsianistische Idee wird von ernsthaften bürgerlichen Ökonomen zurückgewiesen. Das V.S. hatte es verabsäumt die Entwicklung des wirtschaftlichen Nachkriegsaufschwungs zu analysieren und gab in der Folge dem Druck bürgerlicher „Theoretiker“ nach.[4] Auch ihre aktuelle Position zur Krisenfrage wird das V.S. wieder ändern, sobald diese Ideen in Misskredit geraten sind. Die Führung der V.I. wurde von den wirtschaftlichen Entwicklungen völlig überrascht und passte sich in Folge allen nur möglichen Strömungen der Sozialdemokratie, des Stalinismus und sogar bürgerlichen Denkschulen völlig eklektisch[5] an und gab dies als marxistische Theorie aus.
In unseren Nachkriegsdokumenten hatten wir festgestellt, dass weder ein Weltkrieg zwischen den imperialistischen Mächten noch ein unmittelbarer Weltkrieg gegen die Sowjetunion drohe. Wir kamen zu diesem Schluss, weil angesichts der revolutionären Welle, die sich im Gefolge des Zweiten Weltkrieges international entfaltete, der Imperialismus nicht erneut auf die militärische Karte setzen konnte. Die Bourgeoisie in Westeuropa konnte ihre Position nur festigen, wenn sie bereit war, demokratische Rechte zuzugestehen und die Existenz und Stärkung mächtiger Massenorganisationen der Arbeiterklasse hinzunehmen. Dies wiederum bedeutete, dass die politischen Voraussetzungen für einen Angriff auf die Sowjetunion oder eine imperialistische Intervention gegen die chinesische Revolution nicht gegeben waren. Gleichzeitig erzwang der Druck der in Europa stationierten alliierten Soldaten und der Bevölkerung in den Heimatländern innerhalb weniger Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges eine beschleunigte Demobilisierung der anglo-amerikanischen Streitkräfte. Damit verschob sich das Kräfteverhältnis in Bezug auf die konventionellen Streitkräfte in Europa drastisch zugunsten der Sowjetunion.
Mit 200 einsatzbereiten Divisionen (gegenüber nur etwa einem Viertel davon in den Händen der Westmächte) würden die Russen im Fall eines konventionellen Krieges in Europa schneller vordringen können, als Hitler einst in Frankreich. Zweifellos würde die Rote Armee in so einem Fall ganz Westeuropa besetzen. Mit einer erdrückenden Übermacht an Panzern, Flugzeugen und Kanonen könnten die Streitkräfte, die den Westmächten zur Verfügung standen, innerhalb von Tagen in Deutschland und innerhalb von Wochen in Frankreich zurückgedrängt und vernichtend geschlagen werden.
In Asien war China die grösste Militärmacht auf dem Festland, und hier könnten in einem revolutionären oder semi-revolutionären Krieg, in dem sich die chinesischen Streitkräfte mit Unterstützung der lokalen Bauernschaft bewegen würden, auch Asien relativ schnell einnehmen.
Dementsprechend hatte sich das weltweite Kräfteverhältnis entscheidend zu Ungunsten des Imperialismus verändert. Da sie in der politischen Schule Lenins und Trotzkis nichts gelernt hatten, konnten die Strategen des Vereinigten Sekretariats nur ständig die Binsenweisheit wiederholen, dass „Kapitalismus Krieg bedeutet“, die auch ein kleines Kind nach der Lektüre Lenins versteht. Aber diese Formel erklärt nicht, wie, wann, unter welchen Bedingungen ein Weltkrieg ausbrechen würde. Zur Ausarbeitung unserer Strategie und Taktik hilft uns diese Standardaussage nicht weiter. Krieg ist in unserer heutigen Zeit längst nicht nur eine Frage des Kräfteverhältnisses zwischen den Mächten, sondern insbesondere eine Frage des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen. Erst nach einer blutigen und nachhaltigen Niederlage der Arbeiterbewegung wäre ein Weltkrieg möglich.
Die Niederlage der Arbeiterbewegung in Deutschland, Italien, Frankreich und Spanien sowie die Zerschlagung ihrer Organisationen durch den Faschismus ebnete einst den Weg für den Zweiten Weltkrieg. Seither ist jedoch die Macht der Arbeiterbewegung ungeheuer angewachsen und die Imperialisten müssen dementsprechend vorsichtig agieren. Es stimmt, dass jedes Jahr seit dem Zweiten Weltkrieg regional begrenzte Kriege gegen die koloniale Revolution und zwischen kleineren Mächten stattgefunden haben. Ähnlich hatte es nach dem Ersten Weltkrieg Jahr für Jahr bis zum abschliessenden Inferno 1939 kleinere Kriege gegeben.
Zusätzlich zu allen anderen Faktoren kommt hinzu, dass die militärischen Grossmächte heute über nukleare und andere schreckliche Massenvernichtungswaffen verfügen. Die Kapitalisten stürzen sich aber nicht in einen Krieg um des Krieges willen, sondern weil sie nach mehr Macht und Profit streben. In einem Krieg verfolgen sie nicht die Absicht, den Feind zu vernichten, sondern ihn zu besiegen. Was wäre der Sinn eines Krieges, in dem nicht nur der Feind, sondern auch man selbst vernichtet wird? Ein Atomkrieg würde die Vernichtung der Arbeiterklasse bedeuten. Das hiesse die Gans zu töten, die die goldenen Eier legt. Gegenseitige Vernichtung würde ausserdem die Vernichtung der herrschenden Klasse selbst bedeuten.
Nur totalitäre faschistische Regimes würden in einer ausweglosen Situation in einem Akt der Verzweiflung diesen Weg wählen. Und hier wiederum haben wir es mit einer Frage des Klassenkampfes zu tun. Die Bourgeoisie wird ihr Schicksal nicht so schnell noch einmal leichtfertig irren Diktatoren vom Schlage Mussolinis und Hitlers überlassen. Auf jeden Fall aber müssten sie der Arbeiterklasse zuerst eine verheerende Niederlage bereiten, bevor sie einen solchen Schritt setzen könnten.
Wenn man vor diesem Hintergrund trotzdem mit der Perspektive eines bevorstehenden Weltkrieges arbeitet, zeugt dies nicht nur von mangelndem Verständnis für die sich im Spiel befindlichen sozialen und militärischen Kräfte, sondern auch, dass man den Pessimismus zum Programm erhoben hat. Die Vorstellung, dass ein neuerlicher Weltkrieg die Probleme der sozialistischen Revolution lösen würde, ist genauso abwegig wie es die Losung der Stalinisten in Deutschland war, wonach die Machtergreifung Hitlers dem Sozialismus den Weg ebnen würde. In Wahrheit würde der Ausbruch eines Weltkrieges eine entscheidende Niederlage der Arbeiterklasse bedeuten. Ein Atomkrieg würde höchstwahrscheinlich die gegenseitige Vernichtung der kriegführenden Länder und ihrer Klassen mit sich bringen. Im günstigsten Fall könnte es ein paar Überlebenden gelingen, eine Art Sklavenstaat zu schaffen. Doch sie müssten von neuem mit der Entwicklung der Produktivkräfte beginnen, ohne die der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft undenkbar ist. Die Posadisten haben dabei die Ideen von Pablo, Hansen, Mandel, Healey und Co. nur bis ins Extrem weitergesponnen.
Sie waren allesamt nicht in der Lage, die innerimperialistischen Interessenwidersprüche zu sehen. Die westeuropäischen Staaten hatten kein Interesse an einem Sieg eines „idealen“ Kapitalismus oder des amerikanischen Imperialismus, sondern verfolgten ihre eigenen Interessen. Ein Weltkrieg würde zur Zerstörung Westeuropas führen, so wie Korea und Vietnam von amerikanischen Bomben zerstört wurden. Deshalb hatten die imperialistischen Mächte Westeuropas kein Interesse an einem Krieg, der auf ihrem Territorium ausgefochten worden wäre, den sie nicht gewinnen hätten können und der im günstigsten Fall nur dem amerikanischen Imperialismus genützt hätte.
Ein konventioneller Krieg steht für die USA nicht zur Debatte. Sich von Calais durch europäischen Kontinent nach Kalkutta, Shanghai und Wladiwostok durchzukämpfen, wäre eine unlösbare Aufgabe. Ein Atomkrieg würde erstmals Krieg auf amerikanischem Boden und die Zerstörung ihrer Heimatbasis bedeuten – der Städte und der Industrie im eigenen Land. Deshalb war die Perspektive von „Krieg und Revolution“, wie sie die V.I. entworfen hatte, nicht nur reaktionär, sondern entbehrte auch jeder realen Grundlage. Die Position von Posadas zeugte von völliger Ahnungslosigkeit gegenüber den tatsächlich wirkenden sozialen Faktoren, die sie bis heute nicht verstehen. Bei jeder Krise, jedem Konflikt zwischen dem Imperialismus und der Sowjetunion sprach er von einer „drohenden Apokalypse“.
Trotz aller Interessenkonflikte zwischen den Supermächten waren sowohl der Korea- und der Vietnamkrieg als auch die anderen Kriege der Nachkriegsgeschichte in ein überlegtes Arrangement zwischen dem Imperialismus und den Bürokratien in Moskau und Peking eingebettet und dadurch örtlich und materiell begrenzt. Während dieser gesamten Periode war der Imperialismus angesichts der militärischen, industriellen und strategischen Stärke der Sowjetunion und der Sowjetbürokratie in der Defensive.
Weil seine Auslegung des Entrismus nach fast zwanzig Jahren keine nennenswerten Resultate gebracht hatte, schwenkte das V.S. in den westlichen kapitalistischen Ländern 1967 auf einen ultralinken Kurs um. Ohne die Erfahrung mit dem Entrismus in den sozialdemokratischen und kommunistischen Parteien ehrlich bilanziert zu haben, gingen man in Deutschland, Frankreich und Italien zu einer ultralinken Politik über. Doch sie schafften es sogar diesen Schwenk noch mit einem Akt des Opportunismus zu kombinieren. So schrieb einer ihrer britischen Vertreter, die Regierung Wilson in Grossbritannien von 1964 sei eine „linke sozialdemokratische Regierung“. Diese Ansicht wurde von der gesamten britischen Gruppe verteidigt und nicht etwa zurückgewiesen. Die Ereignisse zerstörten diese Illusionen in die Labour-Regierung jedoch rasch. Zur gleichen Zeit gelang es dem V.S. einen grundlegenden Unterschied zwischen der Regierung Wilson in England und der Regierung Brandt in der BRD zu finden. Ein Paradebeispiel für den Eklektizismus des V.S.. Unterschiede zwischen Individuen sind unbedeutend, selbst wenn sich Brandt und Wilson markant voneinander unterscheiden würden. Die opportunistische Periode in der britische Labour Party war aber nur das Vorspiel zu sterilen, ultralinken Abenteuern.
In der BRD weigerten sich die Anhänger des V.S. mit den sozialdemokratischen Jugendorganisation zu arbeiten und konzentrierten sich stattdessen voll auf die Studentenbewegung. Dies war zwar nur eine taktische Frage, die sie zwar falsch beantworteten, aber kein Fehler, den man nicht hätte korrigieren können. Eine gewisse Aufmerksamkeit hätte man den Studenten widmen sollen, insbesondere hätte man in dieser Bewegung die Notwendigkeit einer Orientierung auf die Arbeiterbewegung argumentieren müssen. Die Arbeiterklasse in der BRD muss, genauso wie ihre britischen Klassengeschwister, ihre Erfahrungen mit einer sozialdemokratischen Regierung machen, um zu verstehen, dass der Reformismus ihre Probleme nicht lösen kann. Die deutsche Arbeiterklasse wurde durch die Erfahrung mit dem Faschismus und die Politik von Reformismus und Stalinismus politisch weit zurückgeworfen und kann revolutionäre Ideen nur entwickeln, indem sie ihre Führung an der Spitze reformistischer Regierungen auf die Probe stellt.
Anstatt die Aktivisten der Studentenbewegung marxistisch zu schulen, passte sich das V.S. den ideologischen Vorurteilen dieses Milieus an und bildete somit diese potentiell sehr wertvollen Kräfte völlig falsch aus. Das bedeutet, dass die meisten von diesen linken Studenten zu einem späteren Zeitpunkt frustriert wieder aus der Politik aussteigen werden. Sie werden die Arbeiterklasse für Dinge verantwortlich machen, die in Wirklichkeit ihrer eigenen Unzulänglichkeit entspringen. Wie überall in der politischen Praxis schaffen es die Mandelisten auch hier ein negatives Ergebnis einzufahren. In der BRD wäre die Hauptaufgabe gewesen, näher an die sozialdemokratischen Arbeiter und insbesondere an die Jugend heranzukommen. Diese Aufgabe konnten sie aber unmöglich bewältigen, weil sie die Fehler der Vergangenheit noch nicht aufgearbeitet haben.
Nicht nur in der BRD, sondern auch in Frankreich, Italien, den USA und weltweit hat sich diese Strömung gegenüber der Studentenbewegung politisch und ideologisch angepasst. Der Bruch der Studierenden mit der bürgerlichen Ideologie, den wir weltweit beobachten können, ist ein progressives Phänomen. Dieser Tatsache durfte man sich natürlich nicht verschliessen, weil es darum geht die besten Teile dieser Bewegung für die Ideen des Marxismus zu gewinnen. Vor allem hätte man gegenüber den Studierenden argumentieren müssen, dass ihre Bewegung ein Symptom der Krise des Kapitalismus und eines weltweiten, gesellschaftlichen Linksrucks ist. In Kolonialländern, Industrieländern wie in bonapartistischen Arbeiterstaaten kann das gleiche Phänomen beobachtet werden.
Die Studierenden sind das Barometer einer sich entfaltenden, gesellschaftlichen Krise. Doch wenn die Studierendenbewegung keine Wurzeln in der Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung schlägt, wird sie letztendlich wirkungslos bleiben. Wenn sich die Studierenden nicht die Ideenwelt und die Methoden des wissenschaftlichen Marxismus aneignen, wird die Bewegung sich isolieren und in verschiedenen Formen des Utopismus und Anarchismus verfallen. Studierende können für die Verbreitung revolutionärer Ideen dieselbe Wirkung haben wie Hefe im Brotteig, aber nur auf der Grundlage marxistischer Ideen und wenn sie sich ihrer eigenen Grenzen und ihrer Stellung in der Gesellschaft bewusst sind.
Der französische Mai 1968 ist ein neuer, vielleicht entscheidender Test für alle Strömungen der revolutionären Bewegung. Die Revolution ist der Lackmustest für alle Revolutionäre. Hier wird sich die Spreu vom Weizen trennen. Das V.S. der V.I. wurde natürlich von den Ereignissen in Frankreich überrascht, weil es eine Revolution im Westen in dieser historischen Epoche für gar nicht möglich gehalten hatte. Vor 1968 vertrat das V.S. einen zutiefst pessimistischen Standpunkt bezüglich des Potentials der westlichen Arbeiterklasse. Nach dem Mai 1968 ging man zu einer unverantwortlichen ultralinken Position über. Dabei wird nun den kommunistischen Parteien eine entscheidende Rolle zukommen, wodurch das V.S. für eine weitere Periode zu völligem Sektierertum verdammt ist. Die Vorstellung, dass der sich 1968 gerade entfaltende revolutionäre Prozess innerhalb von Tagen oder Wochen entscheiden würden, zeugte einmal mehr vom völligen Unverständnis in Bezug auf die Frage, wie eine Revolution abläuft. Weder hatte man verstanden, dass die Schwäche der bewusst-revolutionären Kräfte ein wichtiger Faktor in dieser Situation ist, noch hatte man die Notwendigkeit erkannt, einen Weg zu den in der KP organisierten Massen zu finden. Stattdessen biederten sich das V.S. an die universitäre Linke an, was zu einer völlig ultralinken Politik führte. Der Aufruf zum Boykott der Parlamentswahlen wie auch der Studentenwahlen war absolut unverantwortlich. Diese Taktik spielte nur der Führung der KP in die Hände, die immer noch die Unterstützung der überwältigenden Mehrheit der Arbeiterklasse genoss.
[Anm. Während des Generalstreiks im Mai 1968 hätte die zentrale Losung von Marxisten die nach Bildung von Räten sein müssen. Als dann aber im Juni 1968 die Bewegung abgeebbt war, wäre eine Beteiligung an den Wahlen die richtige Taktik gewesen. Zu diesem Zeitpunkt gab es nämlich mangels einer Rätebewegung keine ernsthafte Alternative, die man den Wahlen hätten entgegensetzen können.]Das V.S. zog nicht in Erwägung, dass die KP als politische Alternative zur gaullistischen Partei gesehen werden wird und wieder an Bedeutung gewinnen wird. Dementsprechend wurden auch die eigenen Anhänger nicht darauf vorbereitet, dass die Bourgeoisie in der kommenden Periode einmal mehr auf die Volksfrontideologie setzen wird, um eine neuerliche Offensive seitens der Arbeiterklasse zu brechen. Wir haben die Entwicklung der Revolution in Frankreich, die erst ganz am Anfang steht, studiert und beschrieben und werden unsere Analysen an dieser Stelle nicht wiederholen. Wir müssen nur hinzufügen, dass alle anderen Strömungen der revolutionären Linken in Frankreich zurzeit im Niedergang begriffen sind, weil sie das Wechselspiel von Ebbe und Flut in einer Revolution nicht verstehen und analysieren können. Die Perioden der Ruhe, ja sogar der Reaktion, bereiten den Weg für künftige revolutionäre Massenmobilisierungen und für eine neue revolutionäre Offensive.
Die Ereignisse deuten darauf hin, dass nicht nur in Frankreich, sondern auch in anderen Ländern, in denen die KP die Hauptpartei der Arbeiterklasse ist, der Weg zur Entwicklung einer alternativen revolutionären Massenpartei nur über den Weg einer Massenspaltung der KP erreicht werden kann. In den Ländern, in denen die Sozialdemokratie die beherrschende Kraft in der Arbeiterbewegung ist, gelten ähnliche Überlegungen. Dies entspricht der historischen Erfahrung der letzten fünf bis sieben Jahrzehnte.
Der Weltkongress der 4. Internationale aus dem Jahre 1965, bei dem die britische Sektion ausgeschlossen wurde, wurde ausreichend in den Materialien unserer Strömung dokumentiert. Hier offenbarte sich ihre Unfähigkeit der Organisation, eine ernsthafte marxistische Strömung in ihren Reihen zu dulden. Die Weigerung mit dem marxistischen Flügel auch nur zu diskutieren bzw. ihn in den eigenen Reihen zu tolerieren, zeugt davon, dass diese Organisation von einer organischen Tendenz hin zu kleinbürgerlichem Sektierertum, Utopismus und Opportunismus gekennzeichnet ist.
Die Geschichte der Sektion in Ceylon enthält eine lehrreiche Lektion, was passiert, wenn eine revolutionäre Strömung nicht imstande ist, die Fehler der Vergangenheit zu korrigieren. Die ceylonesischen Trotzkisten stellten die einzige Massenorganisation der 4. Internationale und können als die Massenpartei der Arbeiterklasse auf Ceylon bezeichnet werden. Doch gerade deswegen war sie auch umso mehr dem Druck feindlicher Klassenkräfte ausgesetzt, was die Gefahr der Degeneration umso grösser macht. Über 25 Jahre hinweg machte die sogenannte internationale Führung der V.I. einen Fehler nach dem anderen. Im Fall von Ceylon führte dies dazu, dass sie keine Kontrolle mehr über die Parlamentsmitglieder oder die Führung der nationalen Sektion hatte. Weil die V.I. in den meisten Ländern nur aus kleinen Gruppierungen bestand, konnte sie auf die Sektion in Ceylon nur eine politische aber keine organisatorische Autorität ausüben. Da sie aber jegliche politische Autorität verspielt hatte, konnten ihre Versuche, auf organisatorischem Wege Einfluss zu nehmen, bei den ceylonesischen Trotzkisten nur Verachtung für die Führung der Internationale hervorrufen.
Als die Lanka Sama Samaja Partei (LSSP) 1964 eine opportunistische Position in Bezug auf eine Koalitionsregierung einnahm, befürwortete die 4. Internationale eine sofortige Spaltung der Partei. Diese Haltung aber isolierte nur die revolutionären Elemente und verdammte sie zu einer Position der Ohmacht im ultralinken Milieu. Während die Führung der LSSP dadurch in ihrer Position sogar gestärkt wurde, befand sich der Teil der Sektion, der sich abgespalten hatte, schon bald im Niedergang. Die unmittelbare Aufgabe einer revolutionären Strömung, egal ob innerhalb oder ausserhalb der LSSP, hätte darin bestanden, sich auf die Massenorganisation der Arbeiter zu orientieren, in diesem Fall die LSSP Politische Autorität muss sich eine revolutionäre Führung jedoch über Jahre und Jahrzehnte hinweg erarbeiten, in denen sie die Richtigkeit der eigenen Ideen, Methoden und Analysen unter Beweis stellt. Die V.I. versuchte diesen Mangel an politischer Autorität durch administrative Massnahmen zu kompensieren. Dies endete in einer Reihe von Spaltungen, die die Organisation enorm schwächten.
Auf dem Kongress 1965 hatte das V.S. eine „neue“ Theorie vorgelegt, die Theorie vom „starken Staat“ im Kapitalismus. Das war eine Erweiterung der schon 1945 vertretenen Theorie, wonach in Westeuropa bonapartistische Staaten auf der Tagesordnung stünden und der Kapitalismus die Existenz demokratischer Rechte nicht länger dulden könne und daher in Westeuropa nur diktatorische Regimes entstehen würden. 1965 wärmten man diese Theorie, deren Fehler nie analysiert wurden, wieder auf und sprach nun vom „starken Staat“. In Frankreich, Deutschland und England, überall würde die Bourgeoisie die bürgerliche Demokratie durch ein bonapartistisches Regime ersetzen.
Diese Analyse ignorierte die Stärke und die Macht der organisierten Arbeiterbewegung, das veränderte Kräfteverhältnis zwischen den Klassen, die schwankende Haltung des Kleinbürgertums und dass es der Bourgeoisie unmöglich war, der Gesellschaft – die nach links tendierte – ihren Willen aufzuzwingen. Der Versuch, Preise und Löhne gesetzlich zu diktieren, ist in den meisten kapitalistischen Staaten gescheitert. Die Staaten mussten mit Ausnahme von Griechenland (wo spezifische Gründe vorliegen) eher demokratische Rechte zugestehen, als dass sie diktatorische Machtbefugnisse anhäufen konnten.
In einigen Ländern hat es eine Tendenz zur Massenradikalisierung gegeben, und nirgendwo ist es der Bourgeoisie gelungen, ihre Herrschaft mittels eines Militär- und Polizeistaates durchzusetzen. Auch die Radikalisierung der Studenten stärkt die Linke. Der einzige „starke“ Staat in Europa, jener von Charles de Gaulle in Frankreich, wurde durch die erste wirkliche Arbeitermassenbewegung seit dem Krieg im Mai 1968 hinweggefegt. Dabei muss noch gesagt werden, dass de Gaulles Bonapartismus die demokratischste Form des Bonapartismus darstellte, die es je gab. Das war kein Zufall, sondern Ausdruck der potentiellen Macht, über die die Arbeiterklasse heutzutage verfügt.
Die Entwicklung der Industrie an sich hat zu dieser enormen Stärkung der Macht der Arbeiterklasse beigetragen. Bevor die Bürgerlichen entscheidende Schritte Richtung Reaktion durchsetzen können, werden sie erst eine blutige Auseinandersetzung mit der Arbeiterklasse führen müssen. In diesem Kampf läuft die Bourgeoisie aber auch Gefahr, alles zu verlieren. Folglich wird die Bourgeoisie nur widerwillig einen solchen Weg einschlagen. Zudem: In keinem Lang gibt es heute starke faschistische Organisationen wie vor dem Krieg. Nach der Erfahrung mit dem faschistischen Irrsinn in den 1930er und 1940er Jahren wird sich die Bourgeoisie nur äusserst ungern wieder unter die Herrschaft des Faschismus begeben.
Andererseits ist ein “starker“ Staat bonapartistischen Charakters nicht in der Lage, sich lange ohne gesellschaftliche Massenbasis zu halten. Daher mögen die bürgerlichen Staaten zwar versuchen reaktionäre Methoden und Gesetze zur Anwendung zu bringen, eine Militär- oder Polizeidiktatur steht deshalb aber noch lange nicht auf der Tagesordnung. Überall in der bürgerlichen Welt werden der Arbeiterklasse und der revolutionären Bewegung nicht „starke Staaten“, sondern eher schwache und gelähmte Staaten gegenüberstehen.
Die ganze Taktik der sogenannten “ausser-parlamentarischen Opposition” in Deutschland, Frankreich, Italien und Britannien ist Ausdruck einer rein verbalen Opposition. Hier dominieren eher kleinbürgerliche und anarchistische als marxistische Ideen. Die primäre Aufgabe von Studierenden und Radikalen im Allgemeinen wäre es, sich in den nüchternen Ideen des Marxismus auszubilden und dann einen Schritt auf die Massen hin zu machen, anstatt sich in Revolutionsromantik zu verlieren. Die Kapitulation des V.S. vor diesem Verbalradikalismus ist Ausdruck eines völligen Unverständnisses der Dialektik des Klassenkampfes und die Art und Weise wie die Klasse wieder zu selbstständigem Leben erwachen wird. Die Aufgabe ist es heute theoretische Festigkeit mit taktischer Flexibilität zu kombinieren. Letztere ist notwendig, um überhaupt die Aufmerksamkeit der Arbeiterklasse zu erlangen.
Historisch betrachtet haben wir in gewisser Hinsicht sogar Glück gehabt. Wenn nämlich die V.I. nicht aus winzigen Sekten, sondern in Frankreich, Amerika und anderen Ländern aus Organisationen von 10-50.000 Mitgliedern bestanden hätte, wäre der Schaden für unsere Bewegung durch diesen ultralinken Kurs viel größer gewesen. Das wäre mit den Folgen der ultralinken Politik der Komintern in den 1930er Jahren vergleichbar gewesen, als sich die KP aufgrund ihrer unbesonnenen Haltung gegenüber den Massenorganisationen von der Arbeiterklasse völlig isolierte. So wurde damals Hitlers Sieg in Deutschland aufbereitet. Mit ihren Spielereien machten es all die „trotzkistischen“ Strömungen in Frankreich der KP-Führung leicht, wieder an Prestige und Einfluss in der Arbeiterklasse zu gewinnen. In den Ländern, wo sich das V.S. größeren Einfluss erarbeitete, hat es erfolgreich dazu beigetragen, die Studierenden von der Arbeiterbewegung zu isolieren.
Die theoretische Ungehobeltheit und die unzähligen politischen Mängel jener Clique, die für sich den Anspruch erhebt, für die 4. Internationale sprechen zu können, lässt sich bis in die frühe Nachkriegszeit zurückverfolgen. Wäre die Führung der V.I. zu dieser Zeit wenigstens bereit gewesen, die eigene Linie einer aufrichtigen Selbstkritik zu unterziehen und ihre eigenen Fehler und die Ursachen dieser Fehler einer gründlichen Analyse zu unterziehen, wäre es möglich gewesen die Bewegung auf einer neuen, solideren Grundlage aufzubauen. Trotzkis Schriften behandelte die Führung der V.I. wie eine Kochanleitung, der man wortgetreu folgen müsse. Doch nachdem sie sich mehrmals mit dieser Methode die Finger verbrannt hatten, kamen diese Köche zu dem Schluss, dass dieses „Kochbuch der Revolution“ unbrauchbar sei und die Lehren der grossen Meister ohne viel Aufhebens zu entsorgen seien. So verliess die V.I. immer mehr den Boden des marxistischen Theoriegebäudes und agierte rein empirisch und impressionistisch.
Unsere Aufgabe, national wie international, bleibt im Grunde die gleiche wie seit zwei Generationen. Es geht um die Verteidigung und Verbreitung der grundlegenden revolutionären Ideen des Marxismus. Die Ursache für die Degeneration der Sekten, deren wichtigste sich um das Banner des V.S. scharen, ist im Charakter der vergangenen historischen Periode zu suchen. Der Druck des Kapitalismus, des Reformismus und Stalinismus in einer Periode kapitalistischen Aufschwungs im Westen, einer zeitweiligen Konsolidierung des Stalinismus im Osten sowie der ganz speziellen Entwicklung der kolonialen Revolution – hier liegen die Ursachen der Degeneration aller Sekten, die den Anspruch auf die 4. Internationale erheben.
Doch eine solche Erklärung ist noch lange keine Entschuldigung. Die historische Notwendigkeit hat zwei Seiten. Die auf objektiven und subjektiven Faktoren beruhende Degeneration der Zweiten und Dritten Internationale rechtfertigte nicht die Politik ihrer Führungen, die den Marxismus über Bord warfen. Die historische Entwicklung allein rechtfertigt weder Reformismus noch Stalinismus. Gleichermassen gibt es keine Rechtfertigung für das Sektierertum und den Opportunismus, die eine ganze Generation lang die Politik der Führung der sogenannten Vierten Internationale kennzeichneten. Es ist eine Sache, dann und wann politische Fehler zu machen. Selbst die revolutionärsten und weitsichtigsten Strömungen werden Fehler machen. Aber wenn Fehler ständig wiederholt werden, ein permanenter Zickzack-Kurs zwischen Opportunismus und Linksradikalismus die Politik einer Organisation kennzeichnet, dann wird aus den Fehlern eine neue politische Linie.
Eine Strömung, die solch eine Entwicklung nimmt, wird die Aufgaben, die ihr von der Geschichte gestellten werden, nicht bewältigen können. Ihr weiterer Weg wird gekennzeichnet sein von endlosen Spaltungen und Manövern, wobei die Führung mit ihren Diktaten nicht weit kommen kann, weil es ihr an politischer Autorität mangelt. Eine derartige politische Strömung kann niemals die Tradition des Bolschewismus und Trotzkismus fortführen. Vielleicht werden sich viele der Jüngeren von diesem Milieu lossagen und zum Aufbau der neuen Internationale beitragen. Für den Aufbau einer revolutionären Massenströmung ist es notwendig die Traditionen, Methoden und die Politik des Marxismus verinnerlicht zu haben. Gleichermassen ist es aber wichtig, dass die Weltgeschichte in unsere Richtung arbeitet. Das war bei den Bolschewiki der Fall.
Für eine kleine revolutionäre Strömung ist es lebenswichtig und unerlässlich an den theoretischen Grundlagen festzuhalten, wobei diese auf der Basis praktischer Erfahrungen bewusst und ohne Denkschranken immer wieder erweitert werden müssen. Ansonsten ist sie als revolutionäre Kraft zum Untergang verurteilt. Wenn eine Organisation nicht imstande ist aus den Erfahrungen, die sie in grossen Ereignissen macht, zu lernen, dann ist sie dazu verdammt, eine Sekte zu bleiben, was nur zu weiteren Niederlagen führt und die Auflösungserscheinungen der Bewegung verstärkt. Von einem historischen Standpunkt aus gesehen, gibt es keine Entschuldigung für eine derart beständige Aneinanderreihung von Irrtümern, wie sie die sogenannte 4. Internationale zu verzeichnen hat. Fehler sind schmerzhaft, die Unfähigkeit Fehler zu korrigieren aber tödlich.
Lenin und Trotzki dagegen waren bemüht, theoretische Irrtümer peinlich genau bis ins kleinste Detail zu korrigieren, um die Theorie, die Klinge des Bolschewismus, messerscharf zu halten. Die Stalinisten und Reformisten verfügen über Massenorganisationen. Die Marxisten haben heute keine Massenorganisation, sie haben nur die revolutionäre Theorie. Die jedoch kann sie dazu befähigen, im Laufe der Geschichte von einer kleinen Qualität zu einer revolutionären Quantität zu werden. Wenn eine Strömung weder Massenorganisation ist noch über eine marxistische Theorie verfügt, dann wird sie bedeutungslos bleiben. Eine solche Strömung ist im historischen Massstab dem Untergang geweiht. Im Gegensatz dazu haben die britischen Marxisten generell richtig gearbeitet. Hinsichtlich der grundlegenden Probleme können sich unsere Dokumente der letzten 25 Jahre als ein Beitrag zum Marxismus sehen lassen.
Dass es den Trotzkisten nicht gelungen ist, eine funktionsfähige Internationale aufzubauen, kann angesichts des Charakters der Epoche nachvollziehbar erscheinen. Eine Periode, die gleichzeitig revolutionär und konterrevolutionär ist, ein Proletariat, dem in Form der Sozialdemokratie und des Stalinismus gewaltige Hindernisse im Weg stehen. Der Aufbau revolutionärer Massenströmungen war unter diesen Bedingungen extrem schwierig.
Mit der neuen Periode, die mit der 68er-Revolution in Frankreich abgebrochen ist, beginnt eine gänzlich neue Stufe in der Entwicklung des Proletariats. Masseninitiativen und Massenaktionen werden die mächtigen stalinistischen und sozialdemokratischen Organisationen auf die Probe stellen. Es werden sich revolutionäre oder quasi-revolutionäre Flügel in diesen Parteien bilden, aber es wird auch zu einer Reihe von Spaltungen sowohl nach rechts als auch nach links kommen. Im Zuge dieser Erfahrung werden die Arbeiter nicht nur die reformistischen und stalinistischen Massenorganisationen auf die Probe stellen, sondern es werden auch die verschiedenen sektiererischen und zentristischen Tendenzen, z.B. die Maoisten, Castristen und Guevaristen erstarken. Letzteres wird sich daraus ergeben, dass derzeit keine revolutionäre Organisation existiert, die für die Massen einen wirklichen Referenzpunkt darstellt. Diese Strömungen werden sich unter dem Druck der Ereignisse als unwirksam und unzureichend erweisen. Die frischen Kräfte der neuen Generation, nicht nur unter den Studierenden, sondern auch, und was noch viel wichtiger ist, in der Arbeiterklasse werden einen revolutionären Ausweg suchen.
In den westlichen Ländern, wo der Stalinismus die Hauptströmung in der Arbeiterbewegung darstellt, werden sich in den Kommunistischen Parteien revolutionäre Massentendenzen formieren und dort, wo die Reformisten die Massenorganisationen der Arbeiterklasse dominieren, wird dasselbe innerhalb der sozialdemokratischen Parteien passieren. Jene Periode, die Trotzki für die unmittelbare Nachkriegszeit vorhergesagt hatte, entfaltet sich nun unter veränderten historischen Umständen. Die Ideen des Marxismus, an denen wir festgehalten haben, werden nun in der Klasse wieder ein Gehör finden.
Die Ideen unserer Strömung können in dieser historischen Epoche sowohl national als auch international Massenunterstützung erlangen. Unsere Aufgabe besteht jetzt darin in Grossbritannien eine starke Strömung aufzubauen. Mit ihren Ressourcen und ihrer Autorität werden wir auch international die Aufmerksamkeit der Avantgarde bekommen. Es ist unmöglich, schon jetzt einen genauen Plan dafür zu entwerfen, aber mit Initiative und Elan wird es uns gelingen den Einfluss unserer Strömung zu steigern.
In den dunklen Tagen des Ersten Weltkrieges waren die Marxisten auf kleine Grüppchen zusammengeschrumpft. Auf Grundlage der Ereignisse aber führten sie 1917 die Revolution in Russland zum Sieg und bereiteten so den Weg zum Aufbau revolutionärer Massenparteien. Dank Lenin und Trotzki hielten die Bolschewiki an den Ideen des revolutionären Marxismus fest. Unter ungünstigen historischen Umständen wurden diese Ideen in der Arbeiterbewegung wieder zurückgedrängt. In einer neuen historischen Epoche werden diese Ideen aber, angereichert durch die vielfältigen Erfahrungen der letzten 25 Jahre, erneut eine grosse Zuhörerschaft finden. Andere Strömungen mit trotzkistischem Selbstverständnis werden unter dem Druck der Ereignisse die Probe nicht bestehen können.
Der Kapitalismus wird sich weltweit in einer Sackkasse verlaufen. In den nichtkapitalistischen Ländern wird die Unvereinbarkeit des Stalinismus mit einer staatlichen Planwirtschaft offensichtlich werden. Der Zustand der Bourgeoisie und der stalinistischen Bürokratie spiegelt sich in der Ideenlosigkeit ihrer ökonomischen und politischen Theoretiker wider. Besonders deutlich ist der Bankrott der Stalinismus, was sich daran zeigt, dass die stalinistischen Parteien entlang nationaler Linien gespalten sind und sich gegenseitig bekriegen.
Auf der anderen Seite hat der Reformismus sowohl in den Ländern, wo die Sozialdemokratie an der Regierung ist, als auch dort, wo sie in der Opposition ist, seine negative Rolle gezeigt. Wo diese Parteien die Arbeiterbewegung dominieren, gerieten selbst die kleinen und schwachen trotzkistischen Organisationen unter ihren korrumpierenden Einfluss. Für diese Gruppen gibt es keinen Weg nach vorn. Doch unter den Bedingungen eines bevorstehenden revolutionären Aufschwungs wird die Jugend von den Ideen des Trotzkismus angezogen werden. Obwohl 1917 keine revolutionäre Internationale existierte, führten die Bolschewiki die Revolution mit der Methode, den Ideen und im Namen der Internationale durch. Sie waren durch und durch Internationalisten. Die grösste internationalistische Aufgabe der britischen Marxisten liegt heute im Aufbau einer starken internationalen revolutionären Strömung, die von den Prinzipien und Traditionen des Internationalismus erfüllt ist.
Lenin und Trotzki hatten mehrfach darauf hingewiesen, dass ein Fehler, der nicht korrigiert wird, sich zu einer Tendenz auswächst. In diesem Dokument zeigen wir, dass das V.S. während der letzten 25 Jahre von einem Fehler in nächsten gestolpert ist. Von einer falschen Politik zu ihrem Gegenteil, und auf höherer Ebene wieder zurück. Das ist das Kennzeichen einer durch und durch kleinbürgerlichen Tendenz. Für die Führung zumindest muss man sagen, dass die Fehler organisch sind. Die gesamte Weltsicht wurde durch die Fehler eines viertel Jahrhunderts geprägt und sie wurden Teil ihrer Denkmethode, ihrer Arbeitsweise und ihrer gesamten Lebensphilosophie. Diese politische Strömung als zentristisch zu charakterisieren wäre noch ein Kompliment.
Der Niedergang der Zweiten Internationale, die eine Massenbewegung ist, kann mit dem gesellschaftlichen Druck, den spezifischen historischen Bedingungen des späten 19. und des frühen 20. Jahrhunderts sowie der daraus resultierenden Entfremdung und Loslösung der Führung von der Basis erklärt werden.
In ihren Anfängen stellte die Dritte Internationale die revolutionärste Massenströmung dar, die die Welt je gesehen hat. In vielen Dokumenten haben wir die Degeneration der Internationale in jener revolutionären Epoche (um präziser zu sein, in jener Epoche von Revolution und Konterrevolution) als Resultat des Drucks der Bürokratie und ihrer Selbsterhebung über die Massen erklärt. Dabei lassen wir hier die Frage der russischen Partei bei Seite. Auf internationaler Ebene begann die Entartung der Dritten Internationale mit der Weigerung, aus den konkreten Ereignissen zu lernen und die Fehler der stalinistischen Bürokratie zu korrigieren. Unter all den Faktoren, die hier zusammenspielten, war dies nicht der unwichtigste.
Der Trotzkismus kann als die revolutionärste und aufrichtigste revolutionäre Strömung der Geschichte gesehen werden. Die Grundlage für die Herausbildung dieser Strömung legte Trotzki in erster Linie mit seiner Analyse dieses Prozesses. Der Trotzkismus verfügte über keine breite Massenunterstützung, deshalb konnte er nur auf Grundlage einer ernsthaften Haltung gegenüber marxistischer Theorie, die es anhand der bestimmenden Ereignisse weiterzuentwickeln galt, bestehen. Diese Betonung der Theorie übernahmen wir von Lenin und von vielleicht sogar noch mehr den Werken und der Aktivität Trotzkis während einer Periode des theoretischen Verfalls. Weil das V.S. und die anderen trotzkistischen Strömungen dieses kostbare Erbe aufgaben und sich ohne das Korrektiv, das eine revolutionäre Massenbewegung darstellt, entwickeln mussten, verfolgten sie eine immer unverantwortlichere Politik. Fragen der Theorie wurden nicht mehr ernsthaft diskutiert, sondern wurden recht willkürlich von der Führungsclique entschieden. Die ganze Periode seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat gezeigt, dass diese Leute völlig unfähig sind, einen organisatorischen und politischen Kurswechsel auf der Grundlage marxistischer Ideen zu vollziehen.
Die organisatorischen Manöver dieser sinowjewistischen Strömung zu dokumentieren, wollen wir uns an dieser Stelle lieber ersparen. Es sei nur das Dokument erwähnt, das wir über unseren Ausschluss am Kongress des Vereinigten Sekretariats 1965 publizierten. Lenin meinte einst, die Zweite Internationale sei nicht viel mehr als ein Postamt. Vom V.S. kann man aber nicht einmal das behaupten. Sowohl organisatorisch als auch politisch ist diese Strömung völlig bankrott.
Wie wird die Internationale aufgebaut werden? Wir haben in Britannien wieder und wieder darauf hingewiesen, dass unsere Strömung nur auf der Basis von grossen Ereignissen aufgebaut werden wird. Für die Internationale gilt das genauso.
Vielfach haben wir darauf hingewiesen, wie die sozialdemokratischen und stalinistischen Massenparteien unter dem Druck der Ereignisse in eine Krise schlittern werden. Entwicklungen im Osten wie im Westen werden hier ihre Rolle spielen. Aber speziell die Entwicklungen in den grossen Industrieländern werden diesen Prozess entscheidend beeinflussen. Wir stehen am Beginn einer neuen Periode in der Geschichte des Kapitalismus im Westen und des Stalinismus im Osten.
Der Mai 1968 in Frankreich und die gegenwärtigen Massenproteste in Italien sind nur ein Anfang. Schon jetzt werden die Umrisse der Krise in den Beziehungen zwischen den Klassen nicht nur in Europa, sondern auch in Japan und Amerika deutlich sichtbar.
Unvermeidlich werden sich unter den Hammerschlägen der Ereignisse in den stalinistischen und sozialdemokratischen Parteien zentristische Gruppierungen herausbilden. Massenabspaltungen werden in den nächsten ein, zwei Jahrzehnten auf der Tagesordnung stehen. Die Entwicklung in Russland könnte die Situation weltweit transformieren. Gleiches gilt für Amerika und andere westliche Industrieländer. Wenn sich zentristische Massengruppierungen bilden, in denen sich viele Arbeiter zusammenschliessen, weil sie sich eine revolutionäre Führung wünschen, wird dies ein günstiger Nährboden für die Verankerung marxistischer Ideen sein. Wir müssen versuchen, diese Elemente international mit den Ideen und Methoden Trotzkis zu erreichen.
Aus den gesellschaftlichen Kräften dieser Organisationen können die Massenkräfte erwachsen, die es für den Aufbau der Internationale braucht. Unter dem Eindruck grosser Ereignisse werden unsere Ideen und politischen Konzepte diesen Schichten, vor allem den Arbeitern, als glaubwürdige Alternative erscheinen. Diese Elemente zu erreichen, wird einen wichtigen Teil unserer zukünftigen Arbeit ausmachen.
Grosse gesellschaftliche Erschütterungen werden auch den jüngeren und intelligenteren Elementen in den anderen Organisationen, die sich trotzkistisch bezeichnen, unsere Ideen zugänglich machen. Viele von ihnen werden dann für unsere Internationale offen sein.
Es wird ähnlich sein wie in der Spanischen Revolution (1931-37), nur dass die organische Krise des Stalinismus und Reformismus diesmal noch deutlicher an die Oberfläche treten wird. Die Arbeiterklasse ist heute viel stärker, die internationale Reaktion weit schwächer als in der Vergangenheit und dies bildet die Grundlage für eine Offensive der Arbeiter. Auf Niederlagen und Perioden der Reaktion in der einen oder anderen Form werden wichtige Siege und Erfolge folgen. So werden noch grössere Offensiven der Arbeiter vorbereitet, Perioden die schlussendlich die Bildung zentristischer Massentendenzen ermöglichen.
Die Russische Revolution entwickelte sich innerhalb von neun Monaten, vor allem aufgrund der Stärke des Bolschewismus. Die Spanische Revolution dagegen entwickelte sich über sechs oder sieben Jahre hinweg. Eine sich langziehende revolutionäre Periode, die der Schwäche der revolutionären Kräfte geschuldet ist, ist auch heute am wahrscheinlichsten, wie das Beispiel Frankreich schon zeigt. Ein solch langgezogener Prozess bietet uns die Möglichkeit zu intervenieren. Die revolutionären Elemente in den zukünftigen zentristischen Massenparteien werden nach konsequenten und schlüssigen Ideen, politischen Konzepten und Arbeitsmethoden suchen.
Es ist daher von zentraler Bedeutung, unserer internationalen Arbeit einen noch grösseren Stellenwert zu geben. Wir müssen unsere Arbeit mit Gruppen und sogar mit Individuen aus anderen Ländern, mit denen wir in Kontakt kommen, weiterentwickeln. Durch die politische Kritik an anderen Strömungen werden wir das Fundament für den Aufbau der Internationale legen. Daher bleibt dies auch weiterhin ein wichtiger Teil unserer Arbeit, national wie international.
Der Aufbau einer starken Strömung in Grossbritannien ist jedoch bereits ein wichtiger Teil unserer internationalistischen Strategie. Die Stärkung unserer Organisation, deren materieller Ausdruck unsere Lokale, Publikationen und die Zahl der hauptamtlichen Revolutionäre in unseren Reihen ist, ist daher sowohl von nationaler wie auch internationaler Bedeutung. Das V.S. und andere haben uns nie mit theoretisch fundierten, politischen Argumenten kritisiert. Sie haben immer nur unsere Arbeit ins Lächerliche gezogen. „Wer sind denn die? Was haben die schon aufgebaut? Die werden nie eine starke Strömung aufbauen“. Der Aufbau einer starken Strömung in Grossbritannien würde in der Praxis nicht nur die Richtigkeit unserer Ideen, sondern auch die Richtigkeit unserer organisatorischen Methoden beweisen. Diese Verleumdungen müssen in der Praxis widerlegt werden. Der Zusammenbruch der Revolutionary Communist Party (RCP) hat unsere Bewegung national wie international zurückgeworfen, wir sind nun dabei dies wieder auszubügeln.
Der Bolschewismus wurde international erst durch den Erfolg der Oktoberrevolution zu einer Massenströmung. Der Sieg der Revolution wiederum hing von der Organisation der russischen Partei einerseits und von der Theorie und Politik Lenins und Trotzkis andererseits ab. Wir stehen heute vor einer ähnlichen Aufgabe, jedoch müssen wir erst den Test der Geschichte bestehen und eine revolutionäre Massenströmung aufbauen. Trotz erster erfreulicher Erfolge, die wir beim Aufbau der Internationale bereits erzielen konnten, müssen wir uns über die Grösse der noch vor uns liegenden Aufgaben im Klaren sein – unsere eigentliche Geschichte als internationale Strömung hat gerade erst begonnen.
Das Potential für revolutionäre Massenkämpfe in den industriell entwickelten Ländern, und nicht zuletzt in Britannien, ist heute weitaus höher als in früheren Geschichtsperioden. Auf Basis revolutionärer Entwicklungen werden die Ideen von fortgeschrittenen Arbeitern gerne aufgenommen werden. Interventionen in revolutionären Situationen in anderen Ländern können unter diesen Voraussetzungen sehr erfolgversprechend sein.
Wir sind heute für solche Interventionen besser vorbereitet als in der Vergangenheit, weil es unter uns Genossen gibt, die die wichtigsten europäischen Sprachen beherrschen. Ihre Fähigkeiten werden zukünftig mehr und mehr gebraucht werden. Aber es handelt sich auch um eine Frage von Geld und Ressourcen. Wir haben viel Kritik an der amerikanischen SWP, aber obwohl die USA erst ganz am Anfang einer revolutionären Entwicklung steht, und obwohl die SWP insbesondere unter Studierenden verankert ist, wird berichtet, dass sie alleine in New York 60 Hauptamtliche beschäftigt!
Um die Mindestanforderungen erfüllen zu können, die wir uns national wie international selbst gestellt haben, brauchen wir mindestens ein Dutzend Hauptamtliche. Wir können sagen, dass mit unseren bescheidenen Erfolgen die tatsächliche Geschichte der Strömung gerade eben erst beginnt; mit unserer eigenen Druckerei, unseren Lokalen und mit mehr Hauptamtlichen können wir nun auf eine viel ernsthaftere Art und Weise unsere internationale Arbeit weiterführen. Mit den heutigen Ressourcen können wir beginnen die Politik anderer Strömungen einer Kritik zu unterziehen, mit dem Ziel auch international unseren politischen Einfluss zu vergrössern. Wir können nun unsere eigenen Analysen und theoretischen Dokumente in verschiedenen Sprachen publizieren und somit auch international ernsthafte Arbeit leisten. Der Aufbau unserer Organisation in Grossbritannien und das Zusammenführen jener Elemente, die mit uns die neue Internationale bilden werden, geht nun Hand in Hand.
Fussnoten
[1] Trotzki hat den Faschismus einst als die „chemisch destillierte Essenz des Imperialismus“ bezeichnet!
[2] Aktualisierung: Auf Drängen vieler ihrer Sektionen revidierte das Vereinigte Sekretariat sein Urteil zum Charakter Chinas und zwar nach Abflauen der „Grossen Proletarischen Kulturrevolution“ 1966/67, die es als antibürokratischen Kampf verstand. Jetzt nahm das Vereinigte Sekretariat die Position ein, dass eine „politische Verwandlung tiefgehenden Charakters“ stattfinden müsste, bevor Marxisten von einem gesunden Arbeiterstaat sprechen könnten. Diese zaghafte, halbherzige Formulierung stellt einen faulen Kompromiss dar zwischen jenen in der V.I., die eine politische Revolution in China für erforderlich halten, und denjenigen, die nicht dieser Meinung sind. Eine derartige Schwammigkeit in Bezug auf ein Land mit einem Viertel der Erdbevölkerung! Was Jugoslawien angeht, so liessen die Führer der V.I. ihre Begeisterung für Tito stillschweigend abflauen, vor allem seitdem Enthüllungen über die Aktivitäten der jugoslawischen Geheimpolizei, die die Billigung Titos hatte, Anfang der 1970er Jahre ans Tageslicht kamen.
[3] Isaac Deutscher, ehemals führendes Mitglied der polnischen KP, der zeitweise Trotzki politisch nahe stand, gelangte wenigstens zu einer in sich geschlossenen – wenn auch falschen – Einschätzung der beiden Länder: er behauptete, dass auch in Russland eine politische Revolution nicht mehr notwendig war und dass sich die Bürokratie im Zuge der „Entstalinisierung“ selbst abschaffen würde.
[4] eine genaue Analyse dieses Prozesses findet sich in „Will there be a slump?“
[5] Anm.: eklektisch verfährt jemand, der aus verschiedenen Weltanschauungen das ihm Passende „auswählt“, d.h. unschöpferisch fremde Gedankenverbindungen nebeneinander stellt.
Nordamerika — von der Redaktion — 13. 11. 2024
Europa — von Jack Halinski-Fitzpatrick, marxist.com — 11. 11. 2024
Nah-Ost — von der Redaktion von marxist.com — 07. 11. 2024
Nordamerika — von Revolutionary Communists of America — 05. 11. 2024