Die Demokratie gilt heute in der westlichen Welt als Wesensmerkmal der kapitalistischen Gesellschaft. Diese Vorstellung wurde in der krisenfreien Nachkriegszeit nach 1947 und besonders in der ideologischen Offensive nach dem Fall der Sowjetunion geprägt. Dass Kapitalismus und Diktatur aber gut miteinander können, ja dass das Kapital viel eher geneigt ist, Demokratie auszuschalten, als auf Klassenprivilegien für Vermögende und Kapitalbesitzer zu verzichten, ist eine historische Tatsache. Dies war noch der Arbeiterbewegung in den 1970er und 1980er Jahren voll geläufig. Der Putsch von Pinochet in Chile, das Franco-Regime in Spanien (bis 1978) und die Militärdiktatur in Griechenland (bis 1974) waren damals mahnende Beweise, dass auch die Demokratie eine Errungenschaft ist, die weitgehend von der Arbeiterklasse erkämpft werden musste. Dieses Verständnis dringt im Zuge der autoritären Krisenbewältigung wieder zunehmend ins Bewusstsein der Menschen. Laut einer repräsentativen Umfrage der Freien Universität Berlin glauben 60% der Deutschen, dass die Demokratie durch staatliche Massnahmen (etwa Überwachung) aktuell in Gefahr ist. Angesichts der sich rasant entfaltenden Prozesse ist es Zeit, die Begrifflichkeiten zu überprüfen und zu ordnen, um in den realen Klassenkampf richtig intervenieren zu können.
Staat und Gesellschaft
Der Staat abseits seiner bürgerlichen „Idealform“, der parlamentarischen Demokratie, stellt die VertreterInnen der idealistischen Denkschulen vor ein Rätsel. Ihre Analyse beschränkt sich in der Regel auf das schematische Herausstreichen von scheinbaren Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen historischen und aktuellen Staaten, sowie den Grad ihrer Abweichung von der „vernünftigen” Demokratie. Auf ihren Checklisten stehen: Grad der Diktatur, Willkürjustiz, Nationalismus, Klerikalismus etc. Je nach Ausprägung dieser Symptome kann ein Attest erstellt, der Fall abgeschlossen werden. Wie das Urteil auch ausfällt, ob es sich einer historischen Parallele (Faschismus, Bonapartismus) bedient oder sich mit Wortspielereien (mit Begriffen wie Links-/Islamfaschismus, Sultanismus, „gemässigter Diktatur” etc.) zu helfen weiss, es vermag maximal die oberflächliche Erscheinungsform eines Staates zu beschreiben. Je turbulenter sich die gesellschaftlichen Verhältnisse verändern, desto klarer stellt sich heraus, dass diese Vorgehensweise keine praktischen Schlüsse hervorbringen kann.
Nur der Marxismus war und ist dazu fähig diesen kruden Impressionismus hinter sich zu lassen, die gesellschaftlichen Verwerfungen und Übergänge, die zum Faschismus führen, adäquat zu analysieren und daher ein Programm zu entwerfen, mit dem er geschlagen werden kann. Den grössten Beitrag zum marxistischen Erfahrungsschatz lieferte dabei Trotzki in seinen Polemiken gegen den Opportunismus der reformistischen Sozialdemokratie auf der einen, und den Linksradikalismus der stalinistischen Führungen der kommunistischen Parteien auf der anderen Seite.
Um den Charakter eines Staates zu verstehen, müssen die Beziehungen zwischen den Klassen innerhalb der Gesellschaft untersucht werden. Das Kräfteverhältnis zwischen den verschiedenen Polen der Gesellschaft ist kein abstrakter, statischer Faktor, sondern der lebendige Gradmesser der Bewegung der Klassen, des Klassenkampfes. Ohne diese Bewegung zu verstehen, kommt man über den Formalismus, das hilflose Jonglieren mit Allgemeinplätzen, nicht hinaus.
Die Vulgarisierung des Marxismus
Der Stalinismus der Zwischenkriegszeit hat diese Lektion nicht verstanden. Er war, im Gegensatz zu den TrotzkistInnen der linken Opposition, nicht fähig, die spezifischen Erfahrungen des italienischen Faschismus zu verallgemeinern, um so zu einem konkreteren Verständnis der deutschen Situation zu gelangen. Im Gegenteil, der Stalinismus erklärte eine abstrakte Gegebenheit, nämlich die „Diktatur“ der Bourgeoisie bzw. des Finanzkapitals, zum allein relevanten Faktor und leitete seine ganze Taktik daraus ab.
In der Untersuchung der deutschen Situation nach dem ersten Weltkrieg kamen die StalinistInnen dadurch zu den abenteuerlichsten Schlüssen. Sie beginnt bei der für sich genommen (wir sagen: abstrakt) korrekten Feststellung, dass die notwendigen Bedingungen für eine parlamentarisch-demokratische Entwicklung (stabile wirtschaftliche Entwicklung, beruhigter Klassenkampf) im Zwischenkriegsdeutschland nicht mehr gegeben waren. Zu tief war die kapitalistische Krise, zu zugespitzt waren die gesellschaftlichen Widersprüche.
Dem unbedingten Bedürfnis folgend, die Realität in ein Schema zu packen, und unter prinzipiellen Ausschluss der Möglichkeit der Demokratie, blieb nur mehr übrig, die oberflächlichen Erscheinungsmerkmale des italienischen Faschismus, die Herrschaft des Finanzkapitals, eins zu eins auf Deutschland umzulegen und hinter jeder bürgerlichen Offensive den Faschismus zu entdecken. Daraus ergibt sich das fehlende Verständnis von Übergangsformen, unter ihnen den Bonapartismus. Unter Bonapartismus verstehen wir den Verzicht einer gesellschaftlich herrschenden Klasse auf unmittelbare politische Herrschaft und Repräsentation zugunsten des autoritären Staatsapparates.
In letzter Instanz bestimmen die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse, vermittelt durch die staatlich-gewaltsame Durchsetzung spezifischer Eigentumsverhältnisse, den Klassencharakter eines Staates. Parlamentarische Demokratie, Bonapartismus und Faschismus sind ihrer grundlegenden Natur nach bürgerliche Herrschaften, Diktaturen des Kapitals. Das ist ihre Gemeinsamkeit (wir verzichten hier auf die Diskussion des proletarischen Bonapartismus der entarteten russischen Revolution, dessen politischer Ausdruck der Stalinismus ist).
Anstatt aber die Untersuchung der realen, spezifischen Zusammenhänge im krisenhaften Kapitalismus in Angriff zu nehmen, blieb die stalinistische Führung bei der grundlegenden Erkenntnis (es handelt sich um die Diktatur des Kapitals) stehen und verkehrte sie zu einer Karikatur. In der Folge war sie nur mehr zu fatalistischen Schlüssen und einer passiven, abwartenden Praxis fähig, was 1933 in der friedlichen Machtübernahme Hitlers gipfelte.
Die Archetypen der bürgerlichen Klassenherrschaft
Bewaffnet mit der Theorie des Marxismus wollen wir es besser machen. Dazu betrachten wir die Dynamik der Klassenauseinandersetzungen im Übergang von der Demokratie zum Faschismus in der ersten österreichischen Republik.
Zum Zeitpunkt der Errichtung der bürgerlichen Demokratie in der Novemberrevolution 1918 war sie, ähnlich wie in Deutschland, geschichtlich bereits überholt. Sie war nicht das Resultat einer bürgerlichen Revolution auf dem Boden der Entwicklung des Kapitalismus, sondern das einer proletarischen Revolution, in einer Periode des Niedergangs der kapitalistischen Produktionsweise, die durch den Ersten Weltkrieg zum Ausdruck gebracht wurde. Durch die reformistische Strategie der Sozialdemokratie blieb die Revolution auf halbem Wege stehen und machte den Weg frei für ein 13-jähriges parlamentarisches Intermezzo.
Der anhaltende Klassenkonflikt führte schliesslich zur Ausschaltung des Parlaments durch den Putsch von Dollfuss im März 1933. Die Regierung handelte ab diesem Zeitpunkt nicht mehr als Ausschuss der parlamentarischen Mehrheit, sondern setzte sich temporär über die Klassen hinweg. Gestützt auf Polizei und Militär, nutzte Dollfuss das Kräftegleichgewicht zwischen den verfeindeten Klassen, und erschien nun als Mediator der Nation, als Schiedsrichter zwischen den Klassen, als Bewahrer der Ordnung. Diese Situation nennen wir Bonapartismus: Die Stabilität dieses Regimes ist bestimmt durch die Stabilität des gesellschaftlichen Gleichgewichts, das es hervorbrachte.
In unserem Fall führte die zunehmende Opposition der sozialdemokratischen Massenbasis gegen die abwartende und abwiegelnde Politik der Führung zu einem wachligen Kräfteverhältnis zwischen den Klassen. Politischer Ausdruck dieses Prozesses war der bereits illegale Floridsdorfer Parteitag im Oktober 1933, wo die Parteiführung die Kontrolle über die Partei verlor, ohne dass die linke Opposition politisch vorbereitet gewesen wäre, die kollektive Handlungsfähigkeit der Partei auf revolutionärer Basis aufrecht zu erhalten.
Der Niedergang des Kapitalismus verschärft nicht nur die Kämpfe zwischen Proletariat und Kapital, er ruiniert auch die Zwischenschichten wie Kleinbauern, kleine Kaufleute und Ministerialbürokratie. Ohnehin unfähig mit der Grossbourgeoisie zu konkurrieren wird das Kleinbürgertum in Stadt und Land von der fortschreitenden wirtschaftlichen Krise umso heftiger ins Elend gestürzt. Die reihenweise Verelendung dieser Schichten erlaubt es dem Faschismus, eine Massenbasis zu entwickeln, die sich in diesem Fall in den Heimwehren sammelte.
Ihr Zweck wurde in den Februartagen 1934 offenbart. Die kleinbürgerlichen Massen, organisiert in der sogenannten Heimwehr, dienten als Schocktruppen gegen das aufständische Proletariat der österreichischen Arbeiterhochburgen. Die Aufgabe, die sie zu erfüllen hatten, ist nicht weniger als die Zerschlagung der organisierten Arbeiterklasse: Ihre Entwaffnung, die Zerstörung ihrer Presse und die physische Liquidierung ihrer führenden Kader. Die physische Vernichtung der Arbeiterbewegung durch zu faschistischen Banden organisierte, panische Kleinbürger, Arbeitslose und Kriminelle – das ist der spezifische Charakter des Faschismus.
Während der Bonapartismus eine Defensive der Bourgeoisie bedeutet, die sich aus Schwäche vor dem eskalierenden Klassenkampf hinter einer Polizeidiktatur versteckt, um ihn einzufrieren und eine Gleichgewichtssituation zu erzwingen, ist der Faschismus an der Macht die siegreiche Offensive der Bourgeoisie, mit der sie ihre Feinde nachhaltig und möglichst restlos vernichtet. Das sind die Lehren der italienischen Erfahrungen, die es auf Österreich und Deutschland umzulegen gilt.
Sich zu unseren eingangs erwähnten IdealistInnen gesellend waren die deutschen StalinistInnen und die Führung der Komintern, die Checkliste stets zur Hand, zu keinem anderen Schluss fähig, als dass sie es in der Weimarer Republik mit mal offensiveren, mal defensiveren Spielarten des Faschismus zu tun hatten. Dieses Unverständnis erklärt ihre Machtlosigkeit gegenüber dem tatsächlichen Faschismus und die Herkunft der famosen Phrase: „Nach Hitler kommen wir!”. In diesem Slogan wurde die wohl falscheste und fatalistischste Perspektive, die die Arbeiterbewegung jemals hervorgebracht hat, zusammengefasst.
Rolle der Sozialdemokratie
Die reformistische Führung der Sozialdemokratie beantwortete die Frage von der anderen Seite. Die materielle Basis der sozialdemokratischen Führung liegt im bürgerlichen Staat – solange er die Form der Demokratie behält. Ihre Taktik besteht daher ausschliesslich darin, ihre Stellung in der Gesellschaft zu halten, das heisst die bürgerliche Demokratie zu verteidigen. Diese Haltung nimmt sie sowohl gegen die Revolution als auch gegen den Faschismus ein. In Zeiten des stabilen Kapitalismus ist sie damit fähig, die arbeitenden Massen bei der Stange zu halten und die bürgerliche Herrschaft zu stabilisieren. In dem Mass, wie sich die Widersprüche des Kapitalismus verschärfen, spitzen sich auch die Widersprüche innerhalb des Reformismus zu, zwischen der bürgerlichen Führung und ihrer proletarischen Basis.
In einer Periode der Krise der kapitalistischen Gesellschaft und scharfer Klassenkämpfe wird die Führung der Sozialdemokratie zwischen den Fronten aufgerieben, bis sie ihre Rolle als Säule des Kapitalismus nicht mehr erfüllen kann. Dieser Prozess ist aktuell in Europa ein wichtiges Element der Politik. Ist das Vertrauen in die Fähigkeit der ReformistInnen, die ArbeiterInnenklasse weiterhin zurückzuhalten und politisch in den Kapitalismus zu integrieren, erst einmal verloren, kann das Kapital unter passenden Umständen zu dem Schluss kommen, im Faschismus eine bessere Stütze zu erkennen.
Sozialfaschismus und der Sieg des Faschismus
Wir sahen: Sozialdemokratie und Faschismus sind auf verschiedenen Stufen der kapitalistischen Krisenentwicklung politische Instrumente des Kapitals, um seine Herrschaft abzusichern. Das ist ihre Gemeinsamkeit. Und wieder bleibt, zufrieden damit, ein passendes Schema gefunden zu haben, der Stalinismus an dieser Stelle stehen, und identifiziert das eine mit dem anderen: Das war der Kerngehalt der Sozialfaschismusthese. Über Sozialdemokratie und Faschismus schrieb damals Josef Stalin: „Das sind keine Antipoden, sondern Zwillinge!“ und verpflichtete die kommunistischen Parteien zum Kampf gegen die Sozialdemokratie als Hauptgegnerin. Mit dieser sektiererischen Haltung gegenüber den in der Sozialdemokratie organisierten ArbeiterInnen zementierte der Stalinismus die Spaltung der deutschen und internationalen Arbeiterklasse und wurde so, ironischerweise, selbst zum entscheidenden Steigbügelhalter für die Faschisten.
Erst 1935 änderte die Komintern, wie es typisch für sie geworden war, praktisch über Nacht ihre Linie und setzte den Aufbau der sogenannten „antifaschistischen Volksfront“ auf die Tagesordnung. Nun sollten die KPen auf völlig prinzipienloser Basis mit jedem Dahergelaufenen zusammengehen, der sich gegen den Faschismus stellte – dazu sollten insbesondere auch „demokratische“ Kräfte des bürgerlichen Lagers gehören. Angewandt wurde diese Strategie erstmals in der spanischen Revolution. Vom Extrem des Sektierertums in der Arbeiterbewegung war man ins gegenüberliegende Extrem, des Verzichts auf die soziale Revolution zugunsten „einer Koalition mit dem Schatten der Bourgeoisie“ (Trotzki) gerutscht. Anstatt die ArbeiterInnen und das arme Kleinbürgertum auf Basis ihrer wirklich materiellen Interessen gegen das Kapital zu vereinigen, versuchte man mit spektakulärer Erfolglosigkeit, alle gesellschaftlichen Schichten auf Basis des Patriotismus gegen die radikalste Strömung des Kapitals zu vereinigen. Das reale Ergebnis war die Demoralisierung der sozialen Massenbasis der Revolution und der militärische Sieg Francos und damit der Sieg des spanischen Faschismus. Bis dieses Ergebnis schliesslich erreicht worden war, stellte sich die Volksfront-Regierung ein ums andere Mal gegen die aufständischen Massen (in Barcelona 1937 usw.) und erzwang aktiv ihre Niederlage.
Wir haben bereits argumentiert, dass der Faschismus allgemein als soziales und politisches Massenphänomen Ausdruck der kapitalistischen Krise ist. Die Trennung der sozialen Frage (kapitalistische Krise und ihre sozialen Auswirkungen) von der politischen Frage (Aufrechterhaltung der Demokratie) hat sich historisch als erfolglos bewiesen. Die Einheitsfront der Arbeiterorganisationen dagegen hätte zum Sieg gegen den Faschismus führen können. Durch den gemeinsamen Kampf von RevolutionärInnen und ReformistInnen auf Basis eines Programms, das grundlegende demokratische und soziale Forderungen verknüpft wäre der Einfluss der reformistischen Führung in der Praxis überwunden worden. So wären die Bedingungen geschaffen worden, um den Kampf gegen den Faschismus nahtlos in einem Kampf zum Sturz der kapitalistischen Herrschaft an sich münden zu lassen. Als erfolgreiches historisches Beispiel wollen wir hier die Oktoberrevolution anführen: In letzter Konsequenz war die Machtübernahme des all-russischen Rätekongresses vom 7. November 1917 nur die konsequente Umsetzung des bolschewistischen Slogans „Land, Brot, Frieden“. Die Alternative zur Machtübernahme der Räte wäre nicht die bereits völlig erschöpfte Demokratie, sondern die Diktatur von Generälen mithilfe von faschistischen Banden gewesen. In Deutschland und Österreich offenbarte sich dies nur wenige Jahre später in den 1930iger Jahren.
Der materielle Grund dafür, dass die grundlegendsten Strategien der russischen Revolution im weiteren Verlauf des 20. Jhdt. von der überwiegenden Mehrheit der kommunistischen Bewegung ignoriert wurden, liegt in der Entwicklung der Sowjetunion. So wie die Führung der Sozialdemokratie materiell an die Existenz eines demokratischen bürgerlichen Regimes gebunden ist, so war die Führung der kommunistischen Bewegung materiell an die Existenz der Sowjetunion gebunden. Die internationalistische Opposition der russischen und internationalen Bewegung (die „TrotkistInnen“) wurden verfolgt und ermordet, um die Doktrin des „Sozialismus in einem Lande“ politisch durchzusetzen. Die Politik der Kommunistischen Internationale war infolge völlig auf die „Verteidigung der Sowjetunion“ ausgerichtet. Wo immer eine stalinistische Bürokratie von der Geschichte die Verantwortung erhielt, die proletarische Revolution zu organisieren, handelte sie konterrevolutionär und fatalistisch, weil sie wussten, dass ihre privilegierte soziale Stellung unter den Hammerschlägen der Revolution zerbrechen musste. Angesichts der militärischen Bedrohung durch den Faschismus war die Politik der KommunistInnen von geopolitischen Erwägungen geprägt. Dies führte 1943 schlussendlich zur Auflösung der Kommunistischen Internationale (KI) überhaupt. Diese Gesamtlage erklärt die sich rasch wandelnden Einschätzungen und Taktiken der KI in den entscheidenden 1930iger Jahren.
Selbst nach der kapitalistischen Restauration des Kapitalismus in der Sowjetunion blieben die Ideentrümmer politisch bis heute wirkmächtig. Dies drückt sich einerseits im sektiererischen Verhalten der stalinistischen KKE gegenüber SYRIZA bei den griechischen Wahlen im Mai und Juni 2012 (bei gleichzeitiger lauter Verkündigung der Notwendigkeit, die Volksfront aufzubauen!) aus, andererseits im Fatalismus des ehemaligen SYRIZA-Finanzministers Varoufakis, der angesichts der tiefen kapitalistischen Krise als Alternativen nur einen reformierten Kapitalismus oder den Sieg des Faschismus sieht, woraus sich die Unterordnung des Klassenkampfes unter die Stabilisierung des griechischen (und europäischen) Kapitalismus ableitet. Traten KKE und SYRIZA im ersten Halbjahr 2015 als politische Gegner auf, so bezogen sie ihre politischen Ideen trotzdem beide aus dem Reformismus – einmal aus seiner linksradikalen stalinistischen Phase (Sozialfaschismus), einmal aus seiner opportunistischen (Volksfront, bzw. Sozialdemokratie). Genau wie die sozialdemokratische Bürokratie fürchten beide nichts mehr, als zwischen den Fronten des Klassenkampfs zerrieben zu werden. Das sind keine Antipoden, sondern Zwillinge.
Besteht die Gefahr eines Faschismus in Österreich?
In Österreich geht es vielen leicht über die Lippen, die FPÖ faschistisch zu nennen. Unsere bisherige Auseinandersetzung mit dem Faschismus macht deutlich, dass diese Klassifizierung zum jetzigen Zeitpunkt falsch ist. Zweifellos tummeln sich im Umfeld der Partei organisierte Zellen, die dem faschistischen Spektrum angehören, allen voran die Identitären und der neonazistische Anhang, der sich langsam hinter ihnen sammelt. Allerdings hat weder die Parteiführung ein Interesse daran, diese Kräfte aktiv zu stärken, noch erfordert die Situation des Klassenkampfes den Einsatz faschistischer Prügelabteilungen gegen die Arbeiterbewegung. Im Gegenteil, die offene Unterstützung bewaffneter Verbände wäre im Rahmen der stabilen Demokratie, die Österreich heute zweifellos noch ist, mehr als kontraproduktiv.
Selbst für die Zukunft bleibt das Kräfteverhältnis für den Einsatz des Faschismus ungünstig. Der Nährboden des Faschismus, das Kleinbürgertum und das Lumpenproletariat, sind im Verlauf des Nachkriegsaufschwungs völlig zusammengeschrumpft. Sicherlich wird sich die Bourgeoisie nicht lumpen lassen, die Überreste dieser faschistischen Hauptstützen im Bedarfsfall gegen das Proletariat zu mobilisieren. Angesichts der schlechten Ausgangsposition werden diese jedoch ein viel unvorteilhafteres Kräfteverhältnis vorfinden als in den 30ern, von der erfolgreichen Machtübernahme ganz zu schweigen.
Die Bezeichnung der FPÖ als faschistische Partei und eine Agitation gegen sie, die sich auf eine solche argumentative Basis stützt sind schwere, politische Fehler. Was ist die Hauptgefahr, die der Arbeiterklasse in Österreich droht? Ist es der Aufbau eines faschistischen Regimes, in dem Sozialdemokratie, Gewerkschaften und radikale Linke verboten, Oppositionelle in Konzentrationslager geschickt und eine kriegerisch-imperialistische Aussenpolitik getrieben wird, während die ArbeiterInnen und Jugend in faschistische Massenorganisationen vom Typ einer Hitlerjugend oder Deutschen Arbeitsfront gezwungen und militaristisch-nationalistisch indoktriniert werden? Oder ist es nicht doch eher die EU-weite Austeritätspolitik, die vom Reformismus mitgetragen wird, die auf ganz un-faschistische Weise den Lebensstandard und die demokratischen Rechte der Menschen zerstört? Sozialdemokratie und Gewerkschaft werden in der momentanen Klassenkampflage von der Bourgeoisie sicher nicht zerstört, sondern im Gegenteil bis zu deren bitteren Ende gebraucht, um den Kapitalismus am Leben zu halten. Die Strategie der Bürgerlichen läuft mitnichten auf die Zerstörung der Organisationen der Arbeiterklasse, sondern im Gegenteil auf deren weitest mögliche Inklusion ins politische System eines zunehmend autoritären Sparregimes hinaus.
In einer solchen Situation Ängste vor einem angeblich drohenden Faschismus zu schüren, kann zu nichts anderem als Desorientierung führen. Es ist Aufgabe der MarxistInnen, zu erklären, dass die FPÖ eine radikalbürgerlich-nationalistische Partei ist, die, wenn sie zur Macht kommt, für die Arbeiterklasse durch barbarische Kürzungs- und Privatisierungspolitik eine soziale Katastrophe verursachen und MigrantInnen und Flüchtlingen durch nationalistische Hetze das Leben zur Hölle machen wird. Wir müssen weiterhin erklären, dass sie damit nicht als faschistische Kraft, sondern als Agentin der EU-Austeritätspolitik handelt, als deren Gegnerin sie sich darstellt, und dass diese Politik nur durch den entschiedenen Bruch mit dem Reformismus und die revolutionäre Überwindung des Kapitalismus besiegt werden kann.
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