Niemand kann Lenin vorwerfen, er hätte nur über die Revolution geredet. Die Bolschewiki haben, angeführt von Lenin, den Zar gestürzt, die Macht übernommen, die Kapitalisten enteignet und mit dem Aufbau einer neuen Gesellschaftsordnung begonnen. Sie haben die Revolution gemacht. Und doch war Lenins mächtigste Waffe die Theorie: der Marxismus, ganz besonders sein philosophisches Herzstück, der dialektische Materialismus. Diese Philosophie war Lenins Leitfaden zum Handeln. Wegen genau dieser Waffe waren die Bolschewiki die konsequenteste revolutionäre kommunistische Partei in der Geschichte.
Wir gründen die Revolutionäre Kommunistische Partei. Wir stellen uns bewusst und stolz in die Tradition von Lenin.
Sein ganzes Leben lang hat Lenin die Philosophie des dialektischen Materialismus gelernt, verteidigt und angewandt. Eine der zentralen Etappen war Lenins Arbeit nach der ersten Russischen Revolution von 1905. 1905 waren alle Elemente für den Sieg noch nicht ganz reif. Die Revolution scheiterte und der Zarismus ging in die Konteroffensive. Es folgte eine dunkle Periode der Reaktion. Das beeinflusste auch die Partei der Bolschewiki. Der revolutionäre Optimismus verflog. Viele Kader, allen voran kleinbürgerliche Intellektuelle, wandten sich vom Klassenkampf ab und verfielen in tiefen Pessimismus und Individualismus.
In dieser Phase begann ein philosophischer Streit in der bolschewistischen Partei. Leute wie Bogdanow (Mitglied des Zentralkomitees) wollten den Marxismus «weiterentwickeln». Was gut daherkam – wer kann gegen eine Verbesserung des Marxismus sein? – brachte Lenin zur Weissglut. Er schrieb 1908 an Gorki, als eine Serie von Artikeln von Autoren rund um Bogdanow herausgegeben wurde: «Ich lasse mich eher vierteilen, als dass ich mich damit einverstanden erkläre, mich an einem Organ oder an einem Kollegium zu beteiligen, das solche Sachen predigt.»
Lenin zeigte, dass es sich hier nicht um eine Weiterentwicklung des Marxismus handelte, sondern um einen fundamentalen Angriff auf die philosophischen Grundlagen des Marxismus, den Materialismus. Lenin war bereit, mit der ganzen Führung der Bolschewiki zu brechen, um den Materialismus zu verteidigen, so ernst war ihm die Sache. Sein philosophisches Meisterwerk «Materialismus und Empiriokritizismus» war ein Krieg für die Verteidigung des Materialismus.
Der philosophische Materialismus geht von dem Satz aus, dass die Empfindungen und Vorstellungen der Menschen Abbilder einer unabhängig von unserem Bewusstsein existierenden materiellen Aussenwelt sind. Die «Empiriokritizisten» rund um Bogdanow behaupteten, dass darin ein Element von «Mystik», «Metaphysik» und «Dogmatismus» steckt. Denn alles, was wir kennen, sind doch bloss unsere subjektiven Empfindungen. Wer kann schon beweisen, dass hinter diesen Empfindungen noch etwas Objektives steckt? Wer noch ein Objekt jenseits meiner Vorstellung annimmt, ist ein unwissenschaftlicher Mystiker!
Es ging darum, die philosophische Essenz all der «neuen» trendy Philosophien freizulegen, die aus dem Boden des Pessimismus sprossen wie Pilze aus feuchtem Waldboden. «Wesentlich ist der Ausgangspunkt», so Lenin. Für einen Materialisten ist es unzulässig zu behaupten, dass es noch eine zweite göttliche Welt jenseits der Welt der Natur gibt. Denn der philosophische Materialist geht davon aus, dass es eine und nur eine natürliche Welt gibt. Was ist hingegen der Ausgangspunkt einer Philosophie, die es als unzulässig und «mystisch» ansieht, über die individuelle geistige Erfahrung hinauszugehen und zu behaupten, dass es eine objektive natürliche Welt jenseits der individuellen Erfahrungen gibt? Offensichtlich nicht die Natur, nicht die objektive Welt, sondern meine Empfindung – und zwar meine Empfindung ohne den Menschen mit Fleisch und Blut dahinter. Denn Fleisch, Blut, Gehirn etc., das ist ja bereits etwas Objektives jenseits meiner geistigen Empfindung.
Lenin entlarvte, dass am «Empiriokritizismus» nur die Verpackung neu war: nur die neuen, modern und wissenschaftlich tönenden Phrasen. Wie jede Form von Idealismus geht der «Empiriokritizismus» davon aus, dass irgendetwas Ideelles – eine absolute Idee, ein Gott, Bewusstsein etc. – das Primäre auf der Welt ist, und nicht etwa die Natur. Der objektive Idealismus geht davon aus, dass es eine objektive Welt gibt, also eine Welt, die unabhängig von meinem Denken existiert. Natürlich mystifiziert er diese objektive Welt; zum Beispiel, indem er behauptet, Gott habe sie erschaffen. Der objektive Idealismus ist nichts als Religion in philosophischem Gewand. Aber für ihn gibt es objektive Bäume, Strassen, Stühle und nicht zuletzt andere Menschen ausserhalb von meinem Kopf. Immerhin anerkennt er eine objektiv existierende Welt. Für den subjektiven Idealismus hingegen ist das Bestimmende auf der Welt mein individuelles Bewusstsein. Die ganze Welt löst sich auf in meinen Vorstellungen. Konsequenterweise folgt daraus, dass es keine objektive Aussenwelt gibt. Lenin nennt diese «Philosophie» mit angemessener Härte eine Philosophie fürs «Irrenhaus». Subjektiver Idealismus ist die niederste Form des Idealismus, ja die niederste philosophische Strömung überhaupt.
Denn sie bedeutet den Bruch mit Rationalität und Vernunft. Bogdanow und Co. entwickelten nicht den Marxismus weiter, sie streiften nicht kritisch Reste von Mystizismus ab und machten ihn nicht wissenschaftlicher. Wenn es mir nicht erlaubt ist, über meine Empfindung hinauszugehen, was bleibt dann für die Wissenschaft übrig? Wenn meine Vorstellungen alles sind, was ich kennen und wissen kann, dann fällt die Grundlage für die Wissenschaft in sich zusammen: nämlich eine objektiv existierende und vor allem erkennbare und erforschbare Aussenwelt.
Lenin nennt den Startpunkt des subjektiven Idealismus – meine Vorstellungen, körper- und gehirnlos – eine «tote Abstraktion». Der dialektische Materialismus beginnt mit einem konkreten Punkt. Ideen und Empfindungen etc. sind natürlich etwas anderes als materielle Dinge wie Steine und Stühle. Aber es gibt keine Ideen ohne materiellen Körper. Man kann die Empfindungen nicht von den natürlichen materiellen Menschen loslösen. Ideen sind eine «Funktion des Gehirns».
Das Gehirn und mit ihm das Bewusstsein entsteht mit der Arbeit – also damit, dass die Menschen beginnen, kollektiv die Natur zu bearbeiten und zu beherrschen. Das Bewusstsein ist ein Mittel, wie die Menschen die Natur verstehen und beherrschen und wie sie zusammenarbeiten können. Die Rolle des Bewusstseins ist also genau das Gegenteil von dem, was die subjektiven Idealisten meinen. «Der Sophismus der idealistischen Philosophie besteht darin, dass die Empfindung nicht für die Verbindung des Bewusstseins mit der Aussenwelt, sondern für eine Scheidewand gehalten wird, für eine Mauer, die das Bewusstsein von der Aussenwelt trennt» (unsere Hervorhebung).
Und so öffnet er Tür und Tor für Mystizismus, Religion, Irrationalismus und «Fideismus», wie Lenin sich ausdrückt. Der Materialismus sieht das Bewusstsein als einen zentralen Aspekt davon, wie die Menschen aus Fleisch und Blut in der kollektiven Arbeit ihre Umwelt unter ihre Kontrolle bringen. Und genau diese Praxis der Menschen beweist wiederum die Wahrheit oder Falschheit ihrer Ideen. So geht der menschliche Geschichtsprozess vorwärts: Naturbeherrschung und Erkenntnis der Welt schreiten fort.
Der subjektive Idealist hat keinerlei objektives Kriterium, um wahr von falsch zu unterscheiden. Er hat keinerlei Waffen gegen Aberglaube und Mystizismus. Evolutionstheorie oder christliche Schöpfung? Jacke wie Hose! Alles einfach subjektive Vorstellungen und Empfindungen!
Philosophie hat ihre eigene Logik. Reichst du dem Teufel den kleinen Finger, dann nimmt er die ganze Hand, schreibt Lenin: «Sobald ihr die uns in der Empfindung gegebene objektive Realität leugnet, habt ihr schon jede Waffe gegen den Fideismus eingebüsst. […] Für diese Ideen [Religion, Mystizismus usw.] ‘kann kein Platz sein’ einzig und allein in einer Philosophie, die lehrt, dass nur das sinnliche Sein existiert, dass die Welt sich bewegende Materie, dass die allen und jedem bekannte Aussenwelt, das Physische, die einzige objektive Realität ist – d. h. in der Philosophie des Materialismus. […] Ist die Welt sich bewegende Materie, so kann und muss man sie fortwährend studieren in den unendlich komplizierten und detaillierten Erscheinungen und Verästelungen dieser Bewegung, der Bewegung dieser Materie, doch ausserhalb dieser, ausserhalb der ‘physischen’, allen bekannten Aussenwelt kann nichts sein.»
Der Materialismus ist der kohärente philosophische Rahmen für Rationalität und Wissenschaft. Subjektiver Idealismus hingegen bedeutet Anti-Wissenschaft.
Lenin verstand sofort, dass es sich nicht um eine abstrakte theoretische Frage handelte. Lenin sah im philosophischen Kampf «einen Kampf, der in letzter Instanz die Tendenzen und die Ideologie der feindlichen Klassen der modernen Gesellschaft zum Ausdruck bringt».
Die herrschende Klasse herrscht nicht nur mit dem Schwert, sondern vor allem auch mit Ideen. Als die Bourgeoisie noch eine fortschrittliche, revolutionäre Rolle spielte, war sie für die Enthüllung der Wahrheit. Aber seit das kapitalistische System seinen Zenit um die Wende zum 20. Jahrhundert erreicht hat, sieht sich die Bourgeoisie konfrontiert mit einer neuen revolutionären Klasse, der Arbeiterklasse. Und die Wahrheit ist genau deren mächtigste Waffe! Wenn die Arbeiterklasse versteht, dass ein gutes Leben für sie voraussetzt, dieses bankrotte System und die Bourgeoisie an ihrer Spitze zu stürzen, dann hat die Stunde der Bourgeoisie geschlagen. Die philosophischen Handlanger der Bourgeoisie beginnen mit aller Kraft, die Wahrheit zu verhüllen.
Der subjektive Idealismus ist das konsequenteste philosophische Tool der Herrschenden dafür. Denn was ist konsequenter, als mit der Erkennbarkeit der Aussenwelt die Möglichkeit der Wahrheit überhaupt zu begraben!?
Lenins Kampf für den Materialismus war also ein Kampf für den Sieg der Arbeiterklasse über die Bourgeoisie. Das heisst nicht, dass jeder Arbeiter Lenins philosophische Bücher lesen muss, damit die Revolution siegen kann. Die Massen der Arbeiterklasse lernen durch die alltägliche Erfahrung und durch den praktischen Kampf, nicht aus Büchern.
Aber die Arbeiterklasse braucht eine Führung in Form einer revolutionären kommunistischen Partei, um den Kampf zum konsequenten Ende zu bringen. Hier stellt sich die Frage ganz anders. «Die höchste Aufgabe der Menschheit ist es, diese objektive Logik der wirtschaftlichen Evolution (der Evolution des gesellschaftlichen Seins) in den allgemeinen Grundzügen zu erfassen, um derselben ihr gesellschaftliches Bewusstsein und das der fortgeschrittenen Klassen aller kapitalistischen Länder so deutlich, so klar, so kritisch als möglich anzupassen.» Genau das ist die Aufgabe der kommunistischen Partei. Sie muss das Bewusstsein der Arbeiterklasse auf das Niveau ihrer historischen Aufgaben heben: Sturz der Bourgeoisie, Übernahme der Macht und kommunistischer Umbau der Gesellschaft.
Aber kommunistische Revolutionäre predigen nicht aus dem Elfenbeinturm herab. Sie sind der konsequenteste Teil des Kampfs der Arbeiterklasse. Umso mehr brauchen sie eine lebendige, von der herrschenden Klasse unabhängige, philosophische Weltanschauung und Methode. Einknicken in der Tat beginnt mit Einknicken im Kopf. Kommunisten müssen ihre Psychologie von allem befreien, das sie paralysiert. Wir müssen immun sein gegenüber den ideellen Drücken der herrschenden Klasse: ihrem lähmenden Pessimismus und ihrem vernebelnden Mystizismus. Und im Kampf die nächsten Schritte vorwärts zeigen, geht nicht mit Plattitüden. Kommunisten müssen aus jeder spezifischen Situation des Kampfs das Maximum rausholen für die Bewegung in Richtung der Revolution. Sie brauchen die «konkrete Analyse der konkreten Situation», wie Lenin immer wieder betonte. Sie brauchen die lebendige Methode der marxistischen Philosophie.
Der Sieg der Arbeiterklasse über die Bourgeoisie ist eine Frage der Wahrheit. Der Arbeiterklasse zum Sieg zu verhelfen ist unmöglich ohne den dialektischen Materialismus. Das war der Sinn hinter Lenins philosophischem Kampf.
Natürlich, «practicos» wie Stalin haben Lenin belächelt. Sie hielten Lenins philosophischen Kampf für überflüssig. Aber die Geschichte hat die Richtigkeit von Lenins Ansichten bewiesen.
Nur weil Lenin den Standpunkt des Materialismus keinen Millimeter verliess, stand er mit beiden Füssen auf dem Boden der objektiven Realität. Er sah, wie durch die objektive Logik der Gesellschaft auf die Reaktion nach 1908 eine erneute Flutwelle der Revolution kommen musste. Die Flutwelle kam – und die Bolschewiki waren bereit. Sie standen mutig an der Front der Kämpfe und hatten eine Orientierung. Nur so konnten die Bolschewiki die Arbeiterklasse in den folgenden Jahren erobern. Wäre Lenin mit den «practicos» gegangen, wäre die Partei im Sumpf von Pessimismus und Mystizismus zugrunde gegangen.
Lenin hat während jeder Phase auf dem Weg zur Oktoberrevolution – und ganz besonders in Zeiten jäher Umbrüche und drängendster praktischer und organisatorischer Aufgaben – die Waffe des dialektischen Materialismus verteidigt, geschliffen und angewandt. Es ist eine historische Tatsache, dass nur diejenige Partei die Arbeiterklasse zum Sieg führte, die mit Lenin die lebendige, unverfälschte Methode des dialektischen Materialismus an ihrer Spitze hatte.
Nach einer historischen Ausnahmephase nach dem Zweiten Weltkrieg steckt das kapitalistische System heute wieder in einer historischen Sackgasse – einer noch tieferen als zuvor. Dasselbe faule System bringt dieselben stinkenden Ideen hervor. Versteckt hinter Pseudo-Kritik an «Meta-Narrativen» oder «Eurozentrismus» und hochtrabenden «neuen» Konzepten wie «Queer Theory», «Post-Kolonialismus» versteckt sich ein und dieselbe reaktionäre Essenz: Es gibt keine objektive Wahrheit! Es gibt keine objektive Welt zum Verstehen und Umstürzen! Die Ideen des «Empiriokritizismus» waren ein Abklatsch alter philosophischer Abfallprodukte. Die Ideen des «Postmodernismus» sind ein Abklatsch eines Abklatsches.
Während die ganze sogenannte «revolutionäre Linke» dem Teufel einen Finger nach dem anderen gab, hat unsere Internationale (die International Marxist Tendency) über Jahrzehnte die Philosophie des dialektischen Materialismus verteidigt.
Heute dreht sich der Wind. Tausende, wenn nicht Zehntausende, strecken in der Schweiz die Hand nach dem Banner des genuinen Kommunismus aus und wollen kämpfen. Die Möglichkeiten für die Kommunisten sind riesig. Es ist kein Zufall, dass genau diese «Revolutionäre», die mit Verachtung auf die IMT und ihre philosophische Arbeit herabschauten, heute pessimistisch die Hände verwerfen; und dass die RKP, also diejenige Partei, die den Kampf für den Kommunismus auch auf der Ebene der Philosophie führte und weiterführen wird, mit grösster Dringlichkeit an den Kampf für die Revolution herangeht.
Die RKP hat sich keine kleinere Aufgabe gestellt, als die Arbeiterklasse in der Schweiz zu unseren Lebzeiten zum Sieg zu führen. Wir könnten nicht zuversichtlicher sein, dass die Revolution gelingen wird.
Die Worte von Trotzki könnten wir eins-zu-eins auf das Banner der RKP schreiben:
«Der Leninismus ist die höchste Verkörperung und Verdichtung des Marxismus für die direkte revolutionäre Aktion in der Epoche des imperialistischen Todeskampfes der bürgerlichen Gesellschaft. […] Unsere Partei ist von dem mächtigen Geist Lenins durchdrungen. […] Unsere revolutionären Lungen atmen die Luft jener besseren und höheren Lehre, die die vorangegangene Entwicklung des menschlichen Denkens geschaffen hat. Deshalb sind wir so zutiefst davon überzeugt, dass die Zukunft uns gehört.»
(The Tasks of Communist Education, 1923, unsere Übersetzung)
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