Die Frage des Staates ist einer der Scheidungspunkte zwischen Marxismus und Anarchismus. Was also ist der Staat? Der Marxismus erklärt den Staat als Produkt und Manifestation der Unvereinbarkeit der Klassengegensätze in der Gesellschaft. Er entsteht dort wo, wann und insofern die Klassengegensätze nicht versöhnt werden können. Umgekehrt beweist die Existenz des Staates die Unversöhnlichkeit der Klassengegensätze.
In seiner historischen Analyse des Staates sagt Friedrich Engels:
„Der Staat ist also keineswegs eine der Gesellschaft von aussen aufgezwungene Macht; ebenso wenig ist er ‚die Wirklichkeit der sittlichen Idee‘, das Bild und die Wirklichkeit der Vernunft‘, wie Hegel behauptet. Er ist vielmehr ein Produkt der Gesellschaft auf bestimmter Entwicklungsstufe; er ist das Eingeständnis, dass diese Gesellschaft sich in einen unlösbaren Widerspruch mit sich selbst verwickelt, sich in unversöhnliche Gegensätze gespalten hat, die zu bannen sie ohnmächtig ist. Damit aber diese Gegensätze, Klassen mit widerstreitenden ökonomischen Interessen nicht sich und die Gesellschaft in fruchtlosem Kampf verzehren, ist eine scheinbar über der Gesellschaft stehende Macht nötig geworden, die den Konflikt dämpfen, innerhalb der Schranken der „Ordnung“ halten soll; und diese, aus der Gesellschaft hervorgegangene, aber sich über sie stellende, sich ihr mehr und mehr entfremdende Macht ist der Staat.“
Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates
Der moderne Staat ist ein bürokratisches Ungetüm, der einen kolossalen Teil des von der Arbeiterklasse produzierten Reichtums verschlingt. Marxisten und Anarchisten sind sich einig, dass der Staat ein monströses Instrument der Unterdrückung ist, das beseitigt werden muss. Die Frage ist: Wie? Von wem? Und was wird es ersetzen? Dies sind grundlegende Fragen für jede Revolution. In einer Rede zum Anarchismus während des russischen Bürgerkriegs fasste Trotzki die marxistische Position zum Staat so zusammen:
„Die Bourgeoisie sagt: Berühre nicht die Staatsmacht; es ist das heilige Erbprivileg der gebildeten Klassen. Aber die Anarchisten sagen: Berühre es nicht; es ist eine grässliche Erfindung, ein teuflisches Gerät, halte dich davon fern. Die Bourgeoisie sagt, berühre es nicht, es ist heilig. Die Anarchisten sagen: Berühre es nicht, weil es sündig ist. Beide sagen: Fass es nicht an. Aber wir sagen: Fasst sie nicht nur an, nehmt es in eure Hände und nutzt sie in eurem eigenen Interesse, für die Abschaffung des Privateigentums und die Emanzipation der Arbeiterklasse.“
Leo Trotzki, How The Revolution Armed, Vol. 1, 1918. London: New Park, 1979
Der Marxismus erklärt, dass der Staat letztlich aus besonderen Formationen bewaffneter Menschen besteht: aus Armee, Polizei, Gerichten und Gefängnissen. Es ist ein Instrument der herrschenden Klasse für die Unterdrückung anderer Klassen. Gegen die verwirrten Ideen der Anarchisten argumentierte Marx, dass die Arbeiter einen Staat brauchen, um den Widerstand der Ausbeuterklassen zu überwinden. Aber dieses Argument von Marx wurde sowohl von den Bourgeois als auch von den Anarchisten verzerrt.
Die Pariser Kommune von 1871 war eine der grössten und inspirierendsten Episoden in der Geschichte der Arbeiterklasse. In einer gewaltigen revolutionären Bewegung ersetzte das arbeitende Volk von Paris den kapitalistischen Staat durch seine eigenen Regierungsorgane und behielt die politische Macht bis zu ihrem Untergang einige Monate später. Die Pariser Arbeiter kämpften unter extrem schwierigen Umständen, um jeder Ausbeutung und Unterdrückung ein Ende zu setzen und die Gesellschaft auf einer völlig neuen Grundlage zu organisieren.
Die Kommune war eine glorreiche Episode in der Geschichte der Arbeiterklasse. Zum ersten Mal stürzten die Volksmassen mit den Arbeitern an der Spitze den alten Staat und begannen die Aufgabe, die Gesellschaft umzugestalten. Ohne klar definierten Aktionsplan, Führung oder Organisation zeigten die Massen ein erstaunliches Mass an Mut, Initiative und Kreativität. Letztlich führte das Fehlen einer kühnen und weitsichtigen Führung und eines klaren Programms zu einer schrecklichen Niederlage. Marx und Engels haben die Entwicklungen in Frankreich sehr genau verfolgt und sich auf diese Erfahrung gestützt, um ihre Theorie der „Diktatur des Proletariats“ auszuarbeiten, die nur eine wissenschaftlich präzisere Bezeichnung für „die politische Herrschaft der Arbeiterklasse“ ist.
Marx und Engels zogen eine gründliche Bilanz der Kommune und wiesen auf ihre Fortschritte sowie ihre Fehler und Mängel hin. Diese können fast alle auf das Versagen der Führung zurückgeführt werden. Die Führung der Kommune war eine heterogene Gruppe, die von einer Minderheit von Marxisten bis zu Personen reichte, die dem Reformismus oder Anarchismus näherstanden. Einer der Gründe, warum die Kommune versagte, war, dass sie keine revolutionäre Offensive gegen die reaktionäre Regierung, die sich in Versailles niedergelassen hatte, einleitete. Dies gab den konterrevolutionären Kräften Zeit, sich zu sammeln und Paris anzugreifen. Über 30.000 Menschen wurden von der Konterrevolution abgeschlachtet. Die Kommune wurde buchstäblich unter einem Berg aus Leichen begraben.
Die Erfahrung der Pariser Kommune zusammenfassend erklärten Marx und Engels:
„Namentlich hat die Kommune den Beweis geliefert, dass ‚die Arbeiterklasse nicht die fertige Staatsmaschine einfach in Besitz nehmen und sie für ihre eigenen Zwecke in Bewegung setzen kann.‘…“
Vorwort aus dem Jahr 1872 zum Manifest der Kommunistischen Partei
Die Bürgerlichen und ihre Apologeten wollen Arbeiter und Jugendliche verwirren, indem sie versuchen, die Idee des Kommunismus mit dem monströsen bürokratischen und totalitären Regime des stalinistischen Russlands zu identifizieren. „Willst du Kommunismus? Hier ist er! Das ist Kommunismus! Die Berliner Mauer ist Kommunismus! Ungarn 1956 ist Kommunismus! Die sowjetischen Gulags sind Kommunismus!“ Leider wiederholen auch die Anarchisten diese Argumente.
Das ist eine dumme Verleumdung. Der durch die bolschewistische Revolution errichtete Arbeiterstaat war weder bürokratisch noch totalitär. Im Gegenteil, bevor die stalinistische Bürokratie die Kontrolle von den Massen an sich gerissen hatte, war es der demokratischste Staat, der jemals existierte. Die Grundprinzipien der Sowjetmacht wurden nicht von Marx oder Lenin erfunden. Sie beruhten auf der konkreten Erfahrung der Pariser Kommune und wurden später von Lenin weiter ausgearbeitet.
Die Grundbedingungen für die Arbeiterdemokratie wurden in einem der wichtigsten Werke Lenins dargelegt: Staat und Revolution. Ted Grant [siehe: Grant, Hungary and the Crisis in the Communist Party] fasste Lenins Gedanken in den folgenden vier Punkten zusammen:
Dies waren die Bedingungen, die Lenin nicht für den voll entwickelten Sozialismus oder Kommunismus, sondern für die allererste Phase eines Arbeiterstaates – die Periode des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus – festlegte.
Der Übergang zum Sozialismus – eine höhere Form der Gesellschaft, die auf echter Demokratie und Wohlstand für alle beruht – kann nur durch die aktive und bewusste Beteiligung der Arbeiterklasse an der Verwaltung der Gesellschaft, der Industrie und des Staates erreicht werden. Es ist nicht etwas, das von gutherzigen Kapitalisten oder bürokratischen Mandarinen freundlich an die Arbeiter weitergegeben wird. Die ganze Konzeption von Marx, Engels, Lenin und Trotzki basierte auf dieser Tatsache.
Unter Lenin und Trotzki wurde der Sowjetstaat so aufgebaut, dass er die Arbeiter in die Kontroll- und Buchführungsaufgaben einbeziehen konnte, um den ununterbrochenen Fortschritt der Reduzierung der „Sonderfunktionen“ des Beamten- und Staatsapparats sicherzustellen. Den Gehältern, den Befugnisse und den Privilegien der Beamten wurden strenge Beschränkungen auferlegt, um die Bildung einer privilegierten Kaste zu verhindern.
Die Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten waren gewählte Versammlungen, die nicht aus Berufspolitikern und Bürokraten, sondern aus einfachen Arbeitern, Bauern und Soldaten bestanden. Es war keine Macht die über der Gesellschaft stand, sondern eine Macht, die auf der direkten Initiative der Massen basierte. Die Gesetze des Arbeiterstaats waren nicht vergleichbar mit den Gesetzen einer kapitalistischen Staatsmacht.
Wie Lenin erklärte:
„Sie ist eine Macht von ganz anderer Art als die in der parlamentarischen bürgerlich-demokratischen Republik des bisher allgemein üblichen, in den fortgeschrittenen Ländern Europas und Amerikas herrschenden Typus… Diese Macht ist eine Macht von demselben Typus, wie es die Pariser Kommune von 1871 war.“
„Die Grundmerkmale dieses Typus sind:
1. Quelle der Macht ist nicht das vorher vom Parlament beratene und beschlossene Gesetz, sondern die direkte, von unten kommende Initiative der Volksmassen im Lande, die direkte ‚Machtergreifung‘, um diesen landläufigen Ausdruck zu gebrauchen;2. Ersetzung von Polizei und Armee als vom Volke getrennte und dem Volke entgegenstellte Institutionen durch die direkte Bewaffnung des ganzen Volkes; die Staatsordnung wird unter einer solchen Macht von den bewaffneten Arbeitern und Bauern selbst, vom bewaffneten Volke selbst geschützt;
3. Ebenso wird die Beamtenschaft, die Bürokratie, entweder durch die unmittelbare Herrschaft des Volkes selbst ersetzt oder zumindest unter besondere Kontrolle gestellt; die Beamten verwandeln sich in nicht nur wählbare, sondern auch auf die erste Forderung des Volkes hin absetzbare Personen, ihre Rolle wird auf die von einfachen Bevollmächtigten reduziert: aus einer privilegierten Schicht mit hoher, bourgeoiser Bezahlung ihrer ‚Pöstchen‘ verwandeln sie sich in Arbeiter einer besonderen ‚Waffengattung‘, deren Entlohnung nicht höher ist als der übliche Lohn eines guten Arbeiters.“„Darin und nur darin besteht das Wesen der Pariser Kommune als eines besonderen Staatstypus.“
Lenin, Über Doppelherrschaft, in LW Bd. 24
Lenin betonte, dass das Proletariat nur einen Staat brauche, der „so beschaffen ist, dass er sofort abzusterben beginnt und zwangsläufig absterben muss.“ Ein echter Arbeiterstaat hat nichts mit dem bürokratischen Ungeheuer, das heute existiert, gemein und noch weniger mit dem, was im stalinistischen Russland existierte.
Die frühe Sowjetunion war in Wirklichkeit gar kein Staat in dem Sinne, wie wir ihn normalerweise verstehen, sondern nur der organisierte Ausdruck der revolutionären Macht des arbeitenden Volks. Um den Ausdruck von Marx zu verwenden, war es ein „Halbstaat“, ein so entworfener Staat, dass er schliesslich dahinschwinden und in der Gesellschaft aufgelöst werden würde, um der kollektiven Verwaltung der Gesellschaft zum Nutzen aller ohne Gewalt und Zwang Platz zu machen. Das und nur das ist die echte marxistische Konzeption eines Arbeiterstaates.
Die Staatsfrage ist natürlicherweise mit der Gewaltfrage verbunden. Die herrschende Klasse verfügt über einen gewaltigen Zwangsapparat: die Armee, die Polizei, die Nachrichtendienste, die Gerichte, die Gefängnisse, die Anwälte, die Richter und die Gefängniswärter. Viele Demonstranten haben in letzter Zeit eine wertvolle Ausbildung in der marxistischen Staatstheorie erhalten – in Form eines Polizeiknüppels.
Das sollte uns nicht wirklich überraschen. Die ganze Geschichte zeigt, dass keine herrschende Klasse ihren Reichtum, ihre Macht und ihre Privilegien ohne Kampf aufgibt – und das bedeutet normalerweise einen Kampf der bis zum Äussersten geführt wird. Jede revolutionäre Bewegung wird auf diesen staatlichen Repressionsapparat stossen.
Wie ist die Haltung der Marxisten zur Gewalt? Die Bourgeoisie und ihre Verteidiger werfen Marxisten immer vor, Gewalt zu propagieren. Das ist höchst ironisch, wenn man bedenkt, welches riesige Waffenarsenal die herrschende Klasse aufgebaut hat: Armeen von schwer bewaffneten Truppen, Polizisten, Gefängnisse und so weiter und so fort. Die herrschende Klasse ist überhaupt nicht gegen Gewalt an sich. In der Tat basiert ihre Herrschaft auf Gewalt in vielen verschiedenen Formen. Die einzige Gewalt, die die herrschende Klasse verabscheut, ist, wenn die armen, unterdrückten und ausgebeuteten Massen versuchen, sich gegen die organisierte Gewalt des bürgerlichen Staates zu wehren. Das heisst, sie ist gegen jede Gewalt, die gegen ihre eigene Klassenherrschaft, Macht und Eigentum gerichtet ist.
Es ist selbstverständlich, dass wir uns nicht prinzipiell für Gewalt aussprechen. Wir sind bereit, jede Möglichkeit zu nutzen, die uns die bürgerliche Demokratie ermöglicht. Aber wir sollten uns keine Illusionen machen. Unter der dünnen Fassade der Demokratie steckt in Wirklichkeit die Diktatur der Banken und der Grosskonzerne.
Während den Menschen gesagt wird, dass sie die Entwicklung des Landes demokratisch durch Wahlen mitbestimmen können, werden in der Realität alle echten Entscheidungen von den Vorständen getroffen. Die Interessen einer kleinen Handvoll Bankiers und Kapitalisten haben viel mehr Gewicht als die Stimmen von Millionen normalen Bürgern. Die wahre Bedeutung der formellen bürgerlichen Demokratie ist folgende: Jeder kann (mehr oder weniger) sagen, was er will, solange das Kapital entscheidet, was wirklich gemacht wird.
Diese Diktatur des Grosskapitals ist normalerweise hinter einer lächelnden Maske verborgen. In kritischen Momenten verrutscht diese Maske der „Demokratie“, um das hässliche Gesicht der Diktatur des Kapitals zu offenbaren. Die Frage ist, ob das Volk das Recht hat gegen diese Diktatur zu kämpfen und sie zu stürzen.
Die Antwort wurde vor langer Zeit gegeben, als das amerikanische Volk mit Waffen in der Hand aufstand, um seine Rechte gegen die Tyrannei der englischen Krone zu verteidigen. Es ist im Zweiten Zusatzartikel der amerikanischen Verfassung verankert, der das Recht des Volkes verteidigt, Waffen als Garantie für die Freiheit zu tragen. Die „Gründungerväter“ unterstützten das Recht des Volkes auf den bewaffneten Aufstand gegen eine tyrannische Regierung. Die New-Hampshire-Verfassung von 1784 hält fest, dass „kein Widerstand gegen willkürliche Macht und Unterdrückung sinnlos, sklavisch und zerstörerisch für das Gute und das Glück der Menschheit ist“.
Jede Revolution in der Geschichte – einschliesslich der amerikanischen Revolution – zeigt die Richtigkeit von Marx Worten, als er schrieb: „Die Gewalt ist der Geburtshelfer jeder alten Gesellschaft, die mit einer neuen schwanger geht.“ Dennoch, in der ersten programmatischen Erklärung des Marxismus, „Die Grundsätze des Kommunismus“, schrieb Engels folgendes:
„16. Frage: Wird die Aufhebung des Privateigentums auf friedlichem Wege möglich sein?
Antwort: Es wäre zu wünschen, dass dies geschehen könnte, und die Kommunisten wären gewiss die letzten, die sich dagegen auflehnen würden. Die Kommunisten wissen zu gut, dass alle Verschwörungen nicht nur nutzlos, sondern sogar schädlich sind. Sie wissen zu gut, dass Revolutionen nicht absichtlich und willkürlich gemacht werden, sondern dass sie überall und zu jeder Zeit die notwendige Folge von Umständen waren, welche von dem Willen und der Leitung einzelner Parteien und ganzer Klassen durchaus unabhängig sind.
Sie sehen aber auch, dass die Entwicklung des Proletariats in fast allen zivilisierten Ländern gewaltsam unterdrückt und dass hierdurch von den Gegnern der Kommunisten auf eine Revolution mit aller Macht hingearbeitet wird. Wird hierdurch das unterdrückte Proletariat zuletzt in eine Revolution hineingejagt, so werden wir Kommunisten dann ebenso gut mit der Tat wie jetzt mit dem Wort die Sache der Proletarier verteidigen.“
Friedrich Engels, Grundsätze des Kommunismus
Sobald die Arbeiterklasse organisiert und mobilisiert wird, um die Gesellschaft zu verändern, kann sie kein Staat, keine Armee oder Polizei stoppen. Das ist eine Tatsache. In neun von zehn Fällen geht jegliche Gewalt, die während einer revolutionären Situation entsteht, von der herrschenden Klasse aus, die verzweifelt an der Macht festhalten will. Daher ist die Gefahr von Gewalt umgekehrt proportional zur Bereitschaft der Arbeiterklasse für einen gesellschaftlichen Wandel zu kämpfen. Wie die alten Römer sagten: Si pacem vis para bellum – wenn du Frieden willst, bereite dich auf den Krieg vor.
Das heisst jedoch nicht, dass wir zerstreute Gewalttaten von Gruppen oder Einzelpersonen, wie sinnlose Krawalle, Einschlagen von Fensterscheiben, Brandstiftung usw. befürworten. Solche Dinge spiegeln manchmal die echte Wut und Frustration der Menschen, insbesondere der arbeitslosen und entrechteten Jugend, wider angesichts der schieren Ungerechtigkeit der Klassengesellschaft. Aber diese Art von Handlungen erreichen nichts Positives. Sie entfremden lediglich die breiteren Schichten der Arbeiterklasse und geben der herrschenden Klasse einen Vorwand, die volle Macht des Staates freizusetzen, um gegen die Protestbewegung im Allgemeinen vorzugehen.
Es gibt eine Kraft in der Gesellschaft, die viel stärker ist als selbst der mächtigste Staat oder die mächtigste Armee: Das ist die Macht der Arbeiterklasse, sobald sie organisiert und mobilisiert wird, um die Gesellschaft zu verändern. Kein Rad dreht sich, kein Telefon klingelt, keine Glühbirne leuchtet ohne die Erlaubnis der Arbeiterklasse! Sobald diese enorme Kraft mobilisiert wird, kann keine Kraft auf der Erde sie stoppen.
Es gibt mächtige Gewerkschaftsorganisationen, die mehr als fähig wären, den Kapitalismus zu stürzen, wenn die Millionen von Arbeitern, die sie repräsentieren, zu diesem Zweck mobilisiert werden. Das Problem reduziert sich erneut auf das der Führung der Arbeiterklasse und ihrer Organisationen.
Die Führung der Massenorganisationen, angefangen bei den Gewerkschaften, ist überall in einem beklagenswerten Zustand. Es eröffnet sich ein Ausblick nicht nur auf grosse Schlachten, sondern auch auf Niederlagen der Arbeiterklasse als Folge schlechter Führung. Es ist verständlich, dass einige jungen Leute angewidert von der Rolle der gegenwärtigen Führung sind und anarchistische Ideen als Lösung sehen.
In den meisten Fällen kennen jedoch diejenigen, die sich selbst als Anarchisten bezeichnen, weder die Theorien noch die Geschichte des Anarchismus. Ihr Anarchismus ist überhaupt kein Anarchismus, sondern eine gesunde Reaktion gegen Bürokratie und Reformismus. Wenn sie sagen: „Wir sind gegen die Politik!“, meinen sie: „Wir sind gegen die bestehende Politik, die nicht die Interessen der einfachen Menschen repräsentiert!“ Wenn sie sagen: „Wir brauchen keine Parteien und Führer!“ Meinen sie: „Wir brauchen die derzeitigen politischen Parteien und Führer nicht, die von der Gesellschaft weit entfernt sind und nur ihre eigenen Interessen und die reichen Leute verteidigen, welche sie unterstützen.“
Dieser „Anarchismus“ ist in Wirklichkeit nur die äussere Hülle eines unreifen Bolschewismus, des revolutionären Marxismus. Das sind aufrichtige junge Menschen, die die Gesellschaft von ganzem Herzen verändern wollen. Viele von ihnen werden die Grenzen anarchistischer Ideen und Methoden verstehen und nach einer effektiveren revolutionären Alternative suchen. Das Fehlen einer geeigneten Führung und eines klaren Aktionsprogramms wird bereits von einer zunehmenden Anzahl von Aktivisten in der Occupy-Bewegung wahrgenommen.
Durch schmerzhafte Erfahrung beginnt die neue Generation von Arbeitern und Jugendlichen, die Natur der vor ihnen liegenden Probleme zu verstehen, und allmählich die Notwendigkeit radikaler Lösungen zu begreifen. Die besten Kräfte beginnen zu erkennen, dass der einzige Weg aus der Sackgasse der revolutionäre Umbau der kompletten Gesellschaft von oben nach unten ist.
Es wird nicht einfach sein, das zu erreichen; aber nichts, was sich im Leben lohnt, ist jemals leicht. Der erste und wichtigste Schritt ist Nein zu sagen: Nein zur bestehenden Gesellschaft, ihrer Institutionen, Werte und Moral. In vielerlei Hinsicht ist das der einfachste Schritt. Es ist nicht schwierig etwas abzulehnen und zu protestieren. Aber es ist ebenfalls notwendig konkret zu sagen, was getan werden muss.
Dies verdeutlicht die Notwendigkeit der Klarheit von Ideen, Programm und Taktik. Fehler in der Theorie führen unausweichlich zu Fehlern in der Praxis. Das ist keine akademische Übung. Der Klassenkampf ist kein Spiel und die Geschichte ist voll von Beispielen, wie das Fehlen von politischer Klarheit die schlimmsten Konsequenzen hatte. Spanien in den 1930er ist ein Paradebeispiel.
Die ersten Etappen der Revolution werden unausweichlich von Naivität und allen möglichen Illusionen begleitet. Jedoch werden solche Illusionen von den Ereignissen zerstört. Die Bewegung wird durch das Abtesten von Optionen voranschreiten. Sie braucht Zeit, um zu lernen. Wenn eine marxistische Partei mit Verankerungen in den Massen und einer politischen Autorität bereits existieren würde, wäre der Lernprozess ohne jeden Zweifel kürzer und es würde weniger Niederlagen und Rückschläge geben. Doch so eine Partei existiert noch nicht. Sie muss im Laufe der Ereignisse aufgebaut werden.
Verwirrungen, das Fehlen eines Programms und eine niemals endende Diskussion ist kein Ersatz für eine konkrete Praxis. Wenn die Occupy-Bewegung erfolgreich sein will, muss sie mit klaren Ideen und einem konsequenten revolutionären Programm ausgerüstet werden. Dies kann nur der Marxismus bieten. Die Arbeiter und Studenten haben gigantischen Einfallsreichtum und Initiative gezeigt. Alles hängt nun von der Fähigkeit der revolutionärsten Teile der Arbeiterklasse und der Jugend ab, alle notwendigen Schlussfolgerungen zu ziehen. Bewaffnet mit einem ernsthaften sozialistischen revolutionären Programm werden sie unbesiegbar sein.
Stimmt es wirklich, dass es keine Alternative zum Kapitalismus gibt? Nein, das stimmt nicht! Die Alternative ist ein System, das auf der Produktion für die Bedürfnisse der Vielen basiert und nicht auf den Profiten der Wenigen; ein System, das das wirtschaftliche Chaos und die Anarchie durch harmonische Planung ersetzt; das die Herrschaft einer Minderheit wohlhabender Parasiten durch die Herrschaft der Mehrheit ersetzt, die den gesamten Reichtum der Gesellschaft erzeugen. Diese Alternative heisst Sozialismus.
Echter Sozialismus hat nichts mit der bürokratischen und totalitären Karikatur gemein, die es im stalinistischen Russland gab. Es ist eine echte Demokratie, die auf dem Besitz, der Kontrolle und der Verwaltung der zentralen Hebel der Produktivkräfte durch die Arbeiterklasse beruht.
Manche halten es für utopisch, dass die Menschheit ihr eigenes Schicksal in die Hand nehmen und die Gesellschaft auf der Grundlage eines demokratischen Produktionsplans führen kann. Die Notwendigkeit einer sozialistischen Planwirtschaft ist jedoch keine Erfindung von Marx oder irgendeinem anderen Denker. Sie entspringt der objektiven Notwendigkeit. Das Potential für den internationalen Sozialismus ergibt sich aus den gegenwärtigen Bedingungen des Kapitalismus selbst. Alles, was es braucht, ist, dass die Arbeiterklasse, die die Mehrheit ist, die Kontrolle über die Gesellschaft übernimmt, die Banken und riesigen Monopole enteignet und das riesige unausgeschöpfte Produktionspotenzial nutzt, um mit der Lösung der Probleme, vor denen wir stehen, zu beginnen.
Damit die Menschheit ihr volles Potenzial frei entfalten kann, müssen Industrie, Landwirtschaft, Wissenschaft und Technologie von den erstickenden Fesseln des Kapitalismus befreit werden. Sobald die Produktivkräfte von diesen erdrückenden Beschränkungen befreit sind, wäre die Gesellschaft in der Lage, alle menschlichen Bedürfnisse sofort zu befriedigen und den Weg für einen gigantischen Sprung für die menschliche Entwicklung vorzubereiten.
Wir laden alle diejenigen ein, die daran interessiert sind, die Gesellschaft zu verändern, mit uns zu diskutieren, unsere Differenzen zu klären und die Nützlichkeit von Ideen und Programmen in der Praxis des Klassenkampfes abzutesten. Nur so können wir der vorherrschenden Verwirrung ein Ende setzen und die ideologische Klarheit und den organisatorischen Zusammenhalt erreichen, die notwendig sind, um unseren endgültigen Sieg zu erringen.
Nordamerika — von Alan Woods, marxist.com — 27. 11. 2024
Europa — von Emanuel Tomaselli, RKI Österreich — 16. 11. 2024
Berichte & Rezensionen — von Die Redaktion — 15. 11. 2024
Nordamerika — von der Redaktion — 13. 11. 2024