Im vierten Teil der Serie verfolgt Alan Woods die Geschichte des Feudalismus von seinem Aufstieg bis zu seinem unvermeidlichen Untergang im Zeitalter der bürgerlichen Revolutionen. Hier geht es zu Teil 1, Teil 2 und Teil 3. Das englische Original ist auf marxist.com zu finden.
Der Aufstieg des Feudalsystems folgte dem Zusammenbruch Roms und wurde von einem langen Zeitraum kultureller Stagnation im Europa nördlich der Pyrenäen begleitet. Es gab in über tausend Jahren, abgesehen vom Wasserrad und den Windmühlen, keine wirklichen Erfindungen. Eintausend Jahre nach dem Fall Roms verdienten nur die Strassen aus der Römerzeit diesen Namen. Mit anderen Worten, es gab eine vollständige Kulturfinsternis. Das war das Ergebnis des Zusammenbruchs der Produktivkräfte, von denen die Kultur letztlich abhängig ist. Wenn wir von einer absteigenden Linie in der Geschichte sprechen, ist das damit gemeint. Und niemand sollte glauben, dass so etwas nicht wieder geschehen kann.
Die Invasionen der Barbaren, Kriege und Seuchen hatten zur Folge, dass der Fortschritt durch Phasen der Rückentwicklung unterbrochen wurde. Aber schliesslich wurden die chaotischen Zustände, die mit dem Fall Roms einhergingen, durch einen neuen Gleichgewichtszustand ersetzt: den Feudalismus. Der Niedergang des Römischen Reiches verursachte einen abrupten Rückgang des städtischen Lebens im grössten Teil Europas. Die barbarischen Eindringlinge wurden allmählich integriert und im zehnten Jahrhundert begann in Europa langsam ein neues Zeitalter des Aufstiegs.
Diese Aussage hat nur einen relativen Charakter. Die Kultur erreichte vor dem Beginn der Renaissance im 14. und 15 Jahrhundert kein mit der Antike vergleichbares Niveau. Die Bildung und die Wissenschaften waren der Autorität der Kirche untergeordnet. Die Energie der Männer wurde entweder durch ständige Kriege oder mönchische Träume absorbiert, aber allmählich nahm die Talfahrt ein Ende und wurde durch eine lange Periode der Steigung abgelöst.
Die Schliessung der Kommunikationswege führte zu einem Zusammenbruch des Handels. Die Geldwirtschaft wurde untergraben und zunehmend durch den Tauschhandel ersetzt. Anstelle der integrierten internationalen Wirtschaft unter dem römischen Imperium trat die Ausbreitung kleiner isolierter landwirtschaftlicher Gemeinschaften.
Die Grundlage für den Feudalismus wurde schon in der römischen Gesellschaft geschaffen, als die Sklaven befreit und zu Kolonen (Ackerpächtern) wurden, die an den Boden gebunden waren und später zu hörige Bauern wurden. Dieser Prozess, der zu verschiedenen Zeitpunkten ablief und in verschiedenen Ländern verschiedene Formen annahm, wurde durch die Eroberungen der Barbaren beschleunigt. Die germanischen Kriegsherren wurden in den eroberten Gebieten zu Fürsten, und sie boten deren Bewohnern militärischen Schutz und ein gewisses Mass an Sicherheit im Tausch für die Enteignung der Arbeit der Hörigen.
In der frühen Phase des Feudalismus liess die Atomisierung des Adels ziemlich starke Monarchien zu, aber später standen der königlichen Macht starke adelige Landbesitzer gegenüber, die in der Lage waren, diese herauszufordern und zu stürzen. Die Fürsten hatten ihre eigenen feudalen Armeen, die oft gegeneinander, aber auch gegen den König ins Feld zogen.
Das Feudalsystem in Europa war in erster Linie ein dezentralisiertes System. Die Macht des Königs wurde durch die Aristokratie eingeschränkt. Die Zentralmacht war gewöhnlich schwach. Der Schwerpunkt der Macht des Feudalherrn, seine Machtbasis, waren sein Gutshof und sein Grundbesitz. Die Staatsmacht war schwach und es gab keine Bürokratie. Diese Schwäche der Zentralmacht erlaubte später die Unabhängigkeit der Städte (Stadtgründungsurkunden) und das Entstehen der Bourgeoisie als gesonderte Klasse.
Die romantische Idealisierung des Mittelalters basiert auf einem Mythos. Es war ein blutiges und von Erschütterungen geprägtes Zeitalter, das durch grosse Grausamkeit und Barbarismus gekennzeichnet war und von Marx und Engels als brutale Zurschaustellung von Stärke beschrieben wurde. Die Kreuzfahrer zeichneten sich durch aussergewöhnliche Boshaftigkeit und Unmenschlichkeit aus. Die deutschen Invasionen in Italien waren nutzlose Manöver. Die letzte Phase des Mittelalters war eine turbulente Zeit, die von ständigen Erschütterungen, Kriegen und Bürgerkriegen geprägt war – genau wie unsere Zeit. In jeder Hinsicht war die alte Ordnung bereits tot. Obwohl sie sich immer noch trotzig auf den Beinen hielt, wurde ihre Existenz nicht länger als etwas Normales angesehen – etwas, das als unvermeidlich akzeptiert wurde.
Hundert Jahre lang führten England und Frankreich einen blutigen Krieg, der grosse Teile Frankreichs in Trümmer legte. Die Schlacht von Azincourt war die letzte und grausamste Schlacht im Mittelalter. Hier standen sich im Kern zwei rivalisierende Systeme auf dem Schlachtfeld gegenüber: Die alte feudale Militärordnung, die auf dem Adel und der Vorstellung von Ritterlichkeit und Dienstbarkeit basierte, traf auf eine Söldnerarmee auf der Grundlage von Lohnarbeit.
Der französische Adel wurde geschwächt und auf beschämende Weise von einer Söldnerarmee, die aus Bürgerlichen bestand, besiegt. In den ersten 90 Minuten wurden 8000 Abkömmlinge der französischen Aristokratie getötet und 1200 gefangen genommen. Am Ende lag nicht nur der gesamte französische Adel blutend am Boden, sondern auch die Feudalordnung selbst. Das hatte bedeutende soziale und politische Auswirkungen. Von diesem Moment an begann die Machtausübung des französischen Adels nachzulassen. Die Engländer wurden durch einen Volksaufstand, der von dem Bauernmädchen Jeanne d’Arc angeführt wurde, aus Frankreich vertrieben. Mitten in den Trümmern ihres Lebens, dem Chaos und dem Blutvergiessen wurde sich das französische Volk seiner nationalen Identität bewusst und handelte entsprechend. Das Bürgertum begann, seine Rechte und eine Verfassung zu fordern und eine neue zentrale Monarchie, die sich auf das Bürgertum und das Volk stützte, fing an, die Zügel der Macht zu ergreifen, indem sie einen Nationalstaat schuf, aus dem das moderne Frankreich schliesslich hervorging.
Wenn ein bestimmtes sozioökonomisches System in die Krise und den Niedergang gerät, widerspiegelt sich das nicht nur in der Stagnation der Produktivkräfte, sondern auf allen Ebenen der Gesellschaft. Der Niedergang des Feudalismus war eine Epoche, in der das intellektuelle Leben tot war oder im Sterben lag. Der Würgegriff der Kirche lähmte alle kulturellen und wissenschaftlichen Initiativen. Die Feudalstruktur basierte auf einer Pyramide, in der Gott und der König an der Spitze einer vielschichtigen Hierarchie standen, in der jedes Teil mit dem anderen durch so genannte Pflichten verknüpft war. In der Theorie „schützten“ die Feudalherren die Bauern, die sie als Gegenleistung mit Nahrungsmitteln und Kleidung versorgten, sie fütterten und ihnen ein Leben in Luxus und Müssiggang erlaubten; die Priester beteten für ihre Seelen; die Ritter verteidigten sie usw.
Dieses System bestand eine lange Zeit. In Europa währte es eintausend Jahre, von Mitte des fünften bis zu Mitte des 15. Jahrhunderts. Aber spätestens im 13. Jahrhundert erreichte der Feudalismus in England und anderen Ländern seine Grenzen. Das Bevölkerungswachstum belastete das gesamte System. Knappes Land musste kultiviert werden und grosse Teile der Bevölkerung mussten sich am Rande des Vegetierens auf kleinen Landflächen ihren Lebensunterhalt mühsam verdienen. Es war eine Situation “am Rande des Chaos”, in der das gesamte schlecht fundierte Bauwerk durch einen ausreichend starken Schock zum Zusammensturz gebracht werden konnte. Und welcher Schock hätte grösser sein können als dieser? Die Verwüstung durch den Schwarzen Tod, der zwischen einem Drittel und der Hälfte der Bevölkerung Europas tötete, diente dazu, die Ungerechtigkeit, das Elend, die Ignoranz und die spirituelle Dunkelheit des 14. Jahrhunderts deutlich vor Augen zu führen.
Es wird heute allgemein akzeptiert, dass der Schwarze Tod eine wichtige Rolle bei der Untergrabung des Feudalismus spielte. Das trifft besonders auf England zu. Nachdem die Pest bereits die Hälfte der europäischen Bevölkerung getötet hatte, griff sie im Sommer 1348 auf England über. Die Pest breitete sich landeinwärts auf die Dörfer der ländlichen Gebiete Englands aus und raffte dabei die Bevölkerung hin. Ganze Familien und manchmal ganze Dörfer wurden ausgelöscht. Wie auf dem europäischen Festland kam auch hier die Hälfte der Bevölkerung ums Leben. Diejenigen, denen es gelang zu überleben, fanden sich oft im Besitz eines ziemlich grossen Landbesitzes wieder. Eine neue Klasse reicher Bauern wurde so geschaffen.
Der enorme Verlust an Menschenleben führte zu einem extremen Arbeitskräftemangel. Es gab einfach nicht genug Arbeitskräfte, welche die Ernte einbrachten oder Handwerker, welche die notwendigen Tätigkeiten ausführen konnten. Dies schuf die Grundlage für eine tiefgreifende soziale Transformation. Die Bauern wurden sich ihrer Stärke bewusst und forderten höhere Löhne und geringere Pachtgebühren, und setzten sich auch durch. Wenn der Feudalherr sich weigerte, die Forderungen zu erfüllen, konnten sie ihn verlassen und zu einem anderen Herren gehen, der bereit war, diese umzusetzen. Manche Dörfer wurden gänzlich verlassen.
Die alten Fesseln wurden zuerst gelockert und dann gelöst. Als die Bauern das Joch der Feudalverpflichtungen abwarfen, strömten viele von ihnen in die Städte, um dort ihr Glück zu suchen. Das führte wiederum zu einer weiteren Entwicklung der Städte und brachte den Aufstieg der Bourgeoisie voran. 1349 verabschiedete König Edward III das wahrscheinlich erste Gesetz zur Lohnpolitik, das Statut der Arbeiter. Dieses verfügte, dass die Löhne auf dem alten Niveau bleiben mussten. Aber das Gesetz war von Anbeginn eine Totgeburt. Die Gesetze von Angebot und Nachfrage waren bereits stärker als jedes königliche Dekret. Überall entstand ein neuer rebellischer Geist. Die alte Autorität war bereits untergraben und diskreditiert. Das ganze verrottete Bauwerk wankte und war kurz vor dem Zusammenbruch. Ein guter Stoss, so schien es, würde es erledigen. In Frankreich kam es zu einer Reihe von Bauernaufständen, den Jacqueries. Noch schwerwiegender waren die Bauernaufstände in England 1381, als die Rebellen London zeitweise besetzten und den König in ihre Gewalt brachten. Aber letzten Endes konnten die Erhebungen nicht erfolgreich sein.
Diese Aufstände waren einfach eine unausgereifte Vorwegnahme der bürgerlichen Revolution zu einem Zeitpunkt, an dem die Bedingungen noch nicht vollständig ausgereift waren. Sie waren ein Ausdruck der Sackgasse des Feudalismus und der tiefen Unzufriedenheit der Massen. Aber sie konnten keinen Ausweg aufzeigen. Als Folge überlebte das Feudalsystem, obwohl es sich wesentlich verändert hatte, für eine Zeit und trug dabei alle Symptome einer kranken und zum Niedergang verdammten sozialen Ordnung.
Das Gefühl, dass das Ende der Welt nahe ist, ist typisch für jede historische Periode, in der ein bestimmtes sozioökonomisches System in die Phase des unumkehrbaren Niedergangs eintritt. Das war der Zeitraum, in dem sich eine grosse Anzahl blossfüssiger und in Lumpen gekleideter Männer auf die Strassen begab, die sich selbst auspeitschten, bis sie bluteten. Die Flagellanten-Sekten erwarteten das Ende der Welt, dessen Kommen sie stündlich erwarteten.
Am Ende trat nicht das Ende der Welt ein, sondern nur das Ende des Feudalismus, und es kam nicht Jesu Wiederkunft, sondern nur das kapitalistische System. Aber man konnte nicht erwarten, dass sie das verstanden. Eins war allen klar: Die alte Welt befand sich in einem Zustand des schnellen und unabänderlichen Zerfalls. Menschen wurden durch die widersprüchlichen Tendenzen innerlich zerrissen. Ihr Glaube wurde erschüttert, und sie wurden in einer kalten, inhumanen, feindlichen und unverständlichen Welt orientierungslos dahingetrieben.
Als alle alten Gewissheiten über Bord geworfen worden waren, war es, als ob der Dreh- und Angelpunkt der Welt entfernt worden wäre. Das Ergebnis war eine beängstigende Unruhe und Ungewissheit. Spätestens Mitte des 15. Jahrhunderts begann das alte Glaubenssystem ins Wanken zu geraten. Die Leute orientierten sich nicht länger auf die Kirche, um Erlösung, Hilfe und Trost zu erhalten. Stattdessen kam es zu religiösen Streitigkeiten, die in vielfältiger Form auftraten und als Tarnung für eine soziale und politische Opposition dienten. Bauern widersetzten sich den alten Gesetzen und Vorschriften, forderten Bewegungsfreiheit und setzten diese durch, indem sie ohne Genehmigung in die Städte zogen. Zeitgenössische Chroniken berichten von die Verärgerung der Gebieter über den Widerwillen der Arbeiter, Befehle anzunehmen. Es gab sogar einige Streiks.
Inmitten der Dunkelheit regten sich neue Kräfte, welche die Geburt einer neuen Macht und einer neuen Zivilisation ankündigten, die im Schoss der alten Gesellschaft allmählich heranwuchs. Der Aufstieg des Handels und der Städte brachte eine neue aufstrebende Klasse mit sich, die Bourgeoisie, die mit der herrschenden feudalen Klasse, dem Adel und der Kirche, um Positionen und Macht kämpfte. Die Geburt einer neuen Gesellschaft kündigte sich in der Kunst und Literatur an, wo im Lauf der nächsten hundert Jahre neue Strömungen auftraten.
Eigentlich war die alte Ordnung schon gestorben, aber sie hielt sich noch trotzig auf den Beinen, obwohl ihre Existenz nicht länger als etwas Normales angesehen wurde, etwas, das als unvermeidlich akzeptiert wurde. Die allgemeine Vorstellung (oder vielmehr das Gefühl), dass das Ende der Welt herannahte, war nicht vollkommen falsch. Es war nur nicht das Ende der Welt, sondern das Ende des Feudalsystems.
Der Aufstieg der Städte, jener kapitalistischen Inseln im Meer des Feudalismus, untergrub allmählich die alte Ordnung. Die neue Geldwirtschaft, die an den Rändern der Gesellschaft auftrat, nagte an den Fundamenten der Feudalwirtschaft. Die alten feudalen Einschränkungen wurden jetzt zu untragbaren Zumutungen und unerträglichen Hindernissen für den Fortschritt. Sie mussten zerschmettert werden, und sie wurden zerschmettert. Aber der Sieg der Bourgeoisie kam nicht mit einem Mal. Viel Zeit musste vergehen, um den endgültigen Sieg über die alte Ordnung zu erringen. Nur allmählich tauchte wieder ein neuer Lebensfunke in den Städten auf.
Die langsame Erholung des Handels führte zum Aufstieg der Bourgeoisie und zu einer Belebung der Städte, vor allem in Flandern, Holland und Norditalien. Neue Ideen tauchten auf. Nach dem Fall Konstantinopels vor den Türken (1453) entstand ein neues Interesse an den Ideen und der Kunst der klassischen Antike. Neue Kunstformen traten in Italien und den Niederlanden in Erscheinung. Boccaccios „Dekamerone“ kann als erster moderner Roman angesehen werden. In England sind die Schriften von Chaucer voller Leben und Farbe und widerspiegeln einen neuen Geist in der Kunst. Die Renaissance machte ihre ersten vorsichtigen Schritte. Allmählich entstand aus dem Chaos eine neue Ordnung.
Im 14. Jahrhundert hatte sich der Kapitalismus in Europa etabliert. Die Niederlande wurden die Produktionsstätte Europas, und der Handel florierte entlang des Rheins. Die Städte Norditaliens, die den Handelsverkehr mit Byzanz und dem Osten eröffneten, wurden zu einer Lokomotive für das wirtschaftliche Wachstum und den Handel. Etwa vom 5. bis zum 12. Jahrhundert bestand Europa aus voneinander isolierten Ökonomien. Das änderte sich. Die Entdeckung Amerikas, die Umschiffung des Kaps und die allgemeine Ausweitung des Handels gaben nicht nur der Schaffung von Wohlstand, sondern auch der Entwicklung des menschlichen Denkens einen frischen Impuls. Unter solchen Bedingungen war die alte intellektuelle Stagnation nicht länger möglich. Den Konservativen und Reaktionären wurde der Boden unter den Füssen weggezogen, wie Marx und Engels es im Kommunistischen Manifest erklärten:
„Die Entdeckung Amerikas, die Umschiffung Afrikas schufen der aufkommenden Bourgeoisie ein neues Terrain. Der ostindische und chinesische Markt, die Kolonisierung von Amerika, der Austausch mit den Kolonien, die Vermehrung der Tauschmittel und der Waren überhaupt gaben dem Handel, der Schiffahrt, der Industrie einen nie gekannten Aufschwung und damit dem revolutionären Element in der zerfallenden feudalen Gesellschaft eine rasche Entwicklung.“ (MEW, Bd. 4, S. 463)
Es ist kein Zufall, dass der Aufstieg der Bourgeoisie in Italien, Holland, England und später in Frankreich von einer aussergewöhnlichen Blütezeit der Kultur, der Kunst und Wissenschaft begleitet wurde. Die Revolution ist, wie Trotzki einst sagte, immer die treibende Kraft in der Geschichte gewesen. In den Ländern, in denen die bürgerliche Revolution im 17. und 18. Jahrhundert triumphierte, wurde die Entwicklung der Produktivkräfte durch eine gleichzeitig stattfindende Entwicklung der Wissenschaft und der Philosophie, welche die ideologische Vorherrschaft der Kirche für immer untergrub, ergänzt. Im Zeitalter des Aufstiegs der Bourgeoisie, als der Kapitalismus noch eine progressive Kraft in der Geschichte darstellte, mussten die ersten Ideologen dieser Klasse einen schweren Kampf gegen die ideologischen Bastionen des Feudalismus, angefangen bei der katholischen Kirche, führen. Lange bevor sie die Macht der feudalen Grundherren zerstörte, musste die Bourgeoisie die philosophischen und religiösen Schutzmauern einreissen, die errichtet worden waren, um das Feudalsystem rundum die Kirche und deren militanten Arm, die Inquisition, zu schützen. Diese Revolution wurde durch die Revolte Martin Luthers gegen die Autorität der Kirche antizipiert.
Während des 14. und 15. Jahrhunderts fand in Deutschland eine Bewegung weg von einer gänzlich agrarischen Wirtschaft hin zu einer neuen sozialen Ordnung statt, die mit der traditionellen feudalen Hierarchie in Konflikt geriet. Luthers Angriffe auf die römisch-katholische Kirche dienten als Funke, um die Revolution zu entfachen. Die Bürger und niedrigen Adeligen versuchten, mit der Macht der Kirche zu brechen, den Klauen Roms zu entkommen und sich nicht zuletzt durch die Beschlagnahme des Kirchenbesitzes zu bereichern.
Aber in den Tiefen der Feudalgesellschaft regten sich noch grundlegendere Gewalten. Als Luthers Appelle gegen den Klerus und seine Anschauungen über die christliche Freiheit die Ohren der deutschen Bauern erreichten, wurden diese zu einem Motor der unterdrückten Wut der Massen, die lange die Unterdrückung durch die Feudalherren stillschweigend ertragen hatten. Nun erhoben sie sich, um sich an ihren Unterdrückern zu rächen.
Nach dem Beginn des Bauernkrieges 1524 weitete er sich 1525 auf die deutschen Regionen im Heiligen Römischen Reich aus, bis er 1526 niedergeschlagen wurde. Was danach geschah, hat sich in der nachfolgenden Geschichte oft wiederholt. Als Luther mit den Folgen seiner revolutionären Ideen konfrontiert wurde, musste er Partei ergreifen, und er schloss sich den Bürgern, dem Adel und den Fürsten bei der Niederschlagung der Bauern an. In der Person von Thomas Müntzer fanden die Bauern einen besseren Führer. Während Luther den friedlichen Widerstand predigte, griff Thomas Müntzer die Priesterschaft in leidenschaftlichen Predigten an und forderte die Menschen auf, sich mit Waffen in der Hand zu erheben. Wie Luther zitierte er die Bibel, um seine Handlungen zu rechtfertigen: „Sagte nicht Christus ‚Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert‘?“ Der radikalste Flügel der Bewegung waren die Wiedertäufer, die schon begannen, das Privateigentum in Frage zu stellen und den primitiven Kommunismus der frühen Christen als Vorbild wählten, wie er in der Apostelgeschichte beschrieben wird. Müntzer hielt daran fest, dass die Bibel nicht unfehlbar sei und der Heilige Geist Wege habe, durch die Gabe der Vernunft direkt zu kommunizieren. Luther war entsetzt und schrieb das berüchtigte Pamphlet „Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern“. Der Aufstand wurde mit unbeschreiblich barbarischen Mitteln niedergeschlagen und Deutschland um Jahrhunderte zurückgeworfen. Aber die Welle der bürgerlichen Revolten, die sich im Aufstieg des Protestantismus widerspiegelten, war jetzt nicht mehr aufzuhalten.
Die Länder, in denen die reaktionären Vertreter der Feudalordnung den Embryo der neuen Gesellschaft vor der Geburt unterdrückten, waren zum Albtraum eines langen Zeitraums der Degeneration, des Niedergangs und des Zerfalls verurteilt. Spanien ist in dieser Hinsicht das anschaulichste Beispiel.
Die erste bürgerliche Revolution fand in Form eines nationalen Aufstands der Niederlande gegen die Unterdrückungsherrschaft durch das katholische Spanien statt. Um den Aufstand siegreich zu beenden, stützten sich die wohlhabenden niederländischen Bürger auf die Besitzlosen, jene mutigen Desperados, die man hauptsächlich aus den ärmsten Schichten der Gesellschaft rekrutierte. Die Schlagtruppen der niederländischen Revolution wurden von ihren Feinden verächtlich als Seebettler bezeichnet.
Diese Beschreibung ist nicht vollständig falsch. Es handelte sich um arme Handwerker, Arbeiter, Fischer, Obdachlose und enteignete Menschen, die sämtlich als Abschaum der Gesellschaft betrachtet wurden, aber durch den calvinistischen Fanatismus angefeuert, fügten sie den Armeen des mächtigen Spaniens eine Niederlage nach der anderen zu. Damit wurde die Grundlage für den Aufstieg der Niederländischen Republik und einem modernen, wohlhabenden Hollands geschaffen.
Die nächste Episode in der bürgerlichen Revolution war sogar noch bedeutender und hatte weitreichendere Folgen. Die Englische Revolution im 17. Jahrhundert nahm die Form eines Bürgerkrieges an. Sie äusserte sich als Doppelmacht: der königlichen Macht, gestützt auf die privilegierten Klassen oder die oberen Kreise dieser Klassen, die Aristokraten und Bischöfe, die in Oxford beheimatet waren, standen die Bourgeoisie, die kleinen Landbesitzer und die plebejischen Massen, die in der Londoner Gegend ansässig waren, gegenüber. Die Englische Revolution war erst erfolgreich, als Oliver Cromwell, der sich auf die radikalsten Kräfte stützte, d. h. die bewaffneten Plebejer, die Bourgeoisie beiseite fegte und einen revolutionären Krieg gegen die Royalisten führte. Als Folge davon wurde der König gefangen genommen und hingerichtet. Der Konflikt endete mit der Säuberung des Parlaments und der Diktatur Cromwells. Die unteren Ränge der Armee unter der Führung der Levellers – dem extrem linken Flügel der Revolution – versuchten die Revolution weiterzuführen und stellten das Privateigentum in Frage, wurden aber von Cromwell vernichtend geschlagen. Der Grund für diese Niederlage liegt in den objektiven Bedingungen dieser Zeit. Die Industrie war noch nicht bis zu einem Punkt entwickelt, dass sie die Grundlage für den Sozialismus schaffen konnte.
Das Proletariat befand sich in einem embryonalen Entwicklungsstadium. Die Levellers selbst vertraten die unteren Gruppen des Kleinbürgertums und waren deshalb, trotz ihres Heldenmuts, nicht in der Lage, ihren eigenen, individuellen historischen Weg zu ebnen. Nach Cromwells Tod schloss die Bourgeoisie einen Kompromiss mit Charles II, der es ihr ermöglichte, die reale Macht zu besitzen, aber dabei die Monarchie als Bollwerk gegen zukünftige Revolutionen gegen das Privateigentum zu erhalten.
Die Amerikanische Revolution, welche die Form eines Krieges für die nationale Unabhängigkeit annahm, war nur in dem Masse erfolgreich, als dass sie die Masse der armen Bauern einbezog, die einen erfolgreichen Guerillakrieg gegen König George von England führten.
Die Französische Revolution von 1789-1793 fand auf einem weitaus höheren Niveau als die Englische Revolution statt. Sie war eine der grössten Ereignisse in der menschlichen Geschichte. Sogar heute ist sie noch eine endlose Quelle der Inspiration. Während Cromwell unter dem Banner der Religion kämpfte, erhob die französische Bourgeoisie die Flagge der Vernunft. Schon bevor sie die gewaltigen Mauern der Bastille zum Einsturz brachte, hatte sie die unsichtbaren, aber nicht weniger gewaltigen, Mauern der Kirche und der Religion zu Fall gebracht.
In jeder Phase war die aktive Beteiligung der Massen die treibende Kraft, welche die Französische Revolution vorantrieb und alle Hindernisse aus dem Weg räumte. Und als die aktive Beteiligung der Massen zurückging, kam die Revolution zum Halten und ging in die entgegengesetzte Richtung. Das führte direkt in die Reaktion, zuerst als thermidorische und später als bonapartistische Variante.
Die Gegner der Französischen Revolution versuchen immer wieder, diese mit Vorwürfen von Gewalt und Blutvergiessen in ein schlechtes Licht zu rücken. In Wirklichkeit ist die Gewalt der Massen immer eine Reaktion auf die Gewalt der alten herrschenden Klasse. Die Ursprünge des Terrors müssen als Reaktion der Revolution auf die Androhung der gewaltsamen Überwältigung sowohl durch innere als auch durch äussere Feinde gesucht werden. Die revolutionäre Diktatur war das Ergebnis eines revolutionären Krieges und nur eine Ausdrucksform des letzteren. Unter der Herrschaft Robespierres und der Jakobiner brachten die halbproletarischen Sansculotten die Revolution zu einem erfolgreichen Abschluss. Tatsächlich trieben die Massen ihre Führer an, weiter zu gehen, als sie eigentlich beabsichtigt hatten. Die Revolution hatte objektiv einen bürgerlich-demokratischen Charakter, weil die Entwicklung der Produktivkräfte noch nicht einen Punkt erreicht hatte, an dem die Frage nach dem Sozialismus gestellt werden konnte.
An einem bestimmten Punkt erreichte der Prozess seine Grenzen und ging in die entgegengesetzte Richtung. Robespierre und seine Fraktion schlugen den linken Flügel nieder und wurden dann selbst beseitigt. Die thermidorischen Reaktionäre in Frankreich jagten und unterdrückten die Jakobiner, während die Massen, die von den Jahren der Verausgabung und Opferbereitschaft erschöpft waren, in Passivität und Gleichgültigkeit verfielen. Das Pendel schlug jetzt scharf nach rechts, aber das Ancien Régime wurde nicht wieder errichtet. Die grundlegenden sozioökonomischen Errungenschaften der Revolution blieben bestehen. Die Macht des Landadels war gebrochen. Dem niederträchtigen und korrupten Direktorium folgte die genauso niederträchtige und korrupte persönliche Diktatur von Bonaparte. Die französische Bourgeoisie hatte Angst vor den Jakobinern und den Sansculotten mit ihren egalitären und gleichmachenden Tendenzen. Aber noch mehr Angst hatte sie vor der Bedrohung durch eine royalistische Konterrevolution, die ihr die Macht entreissen und die Zeit auf vor 1789 zurücksetzten würde. Die Kriege gingen weiter, und es gab immer noch interne Aufstände durch Reaktionäre. Der einzige Ausweg war die Wiedereinführung einer Diktatur, aber eine in Form einer Militärherrschaft. Die Bourgeoisie suchte nach einem Retter und fand ihn in der Person von Napoleon Bonaparte.
Mit der Niederlage Napoleons in der Schlacht von Waterloo wurde die letzte flackernde Glut, die vom revolutionären Frankreich angezündet worden war, gelöscht. Ein langes, graues Zeitalter fiel wie eine dicke Schicht Staub auf Europa herab. Die Kräfte der triumphierenden Reaktion schienen fest im Sattel zu sitzen. Doch es war genau das – ein Schein. Unter der Oberfläche grub der Maulwurf der Revolution fleissig das Fundament für eine neue Revolution.
Der Sieg des Kapitalismus in Europa legte den Grundstein für einen kolossalen Aufschwung in der Industrie und stärkte damit die Klasse, die dazu bestimmt ist, den Kapitalismus zu stürzen und in ein neues Stadium der sozialen Entwicklung – den Sozialismus – zu führen. Marx und Engels schrieben im Kommunistischen Manifest:
„Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus. Alle Mächte des alten Europa haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet, der Papst und der Zar, Metternich und Guizot, französische Radikale und deutsche Polizisten.“ (MEW, Bd. 4, S. 461)
Diese Sätze beschreiben das reaktionäre System, das vom Wiener Kongress nach der Niederlage Napoleons 1815 errichtet wurde. Es beabsichtigte, das Risiko einer Revolution für immer auszuschliessen und das Gespenst der Französischen Revolution ein für alle Mal zu verbannen. Die brutale Diktatur der „Mächte des alten Europas“ schien für immer zu dauern. Aber früher oder später würden sich die Dinge in ihr Gegenteil verändern. Unter der Oberfläche der Reaktion reiften allmählich neue Kräfte heran und eine neue revolutionäre Klasse, das Proletariat, streckte die Glieder.
Die Konterrevolution wurde durch eine neue revolutionäre Welle, die 1848 über Europa hinwegfegte, gestürzt. Diese Revolutionen wurden unter dem Banner der Demokratie geführt, dem gleichen Banner, das 1789 über den Barrikaden von Paris gehisst worden war. Aber überall war nicht die feige, reaktionäre Bourgeoisie die führende Kraft, sondern es waren die direkten Nachkommen der französischen Sansculotten – die Arbeiterklasse, die ein neues revolutionäres Ideal, das Ideal vom Kommunismus, auf ihre Fahnen eingraviert hatte.
Die Revolutionen von 1848-1849 wurden durch die Feigheit und den Verrat der Bourgeoisie und ihrer liberalen Repräsentanten besiegt. Die Reaktion herrschte weiter bis 1871, als das heldenhafte französische Proletariat in der Pariser Kommune den Himmel stürmte, und als die Arbeiterklasse zum ersten Mal in der Geschichte den alten bürgerlichen Staat stürzte und begann eine neue Art Staat zu schaffen – einen Arbeiterstaat. Diese glorreiche Episode dauerte nur einige Monate und wurde schliesslich in Blut ertränkt. Aber sie hinterliess ein bleibendes Erbe und schuf die Grundlage für die Russische Revolution von 1917.
Alan Woods, London, 8. Juli 2015
Einführung in den historischen Materialismus – Teil 1
Einführung in den historischen Materialismus – Teil 2
Einführung in den historischen Materialismus – Teil 3
Kunst & Kultur — von Sylvain Bertrand, Genf — 14. 10. 2024
Arbeiterbewegung — von Martin Kohler, Bern — 10. 10. 2024
Nah-Ost — von Revolutionäre Kommunistische Internationale (RKI) — 09. 10. 2024