Sämtliche Wirtschaftsexperten sind aus dem Häuschen: Die lang ersehnte wirtschaftliche Erholung ist endlich da. Doch wir dürfen uns von den bürgerlichen Champagnerkorken nicht täuschen lassen.
Der internationale Währungsfonds sagt für die nächsten beiden Jahre ein Wachstum von 6% bzw. 4.4% voraus. Damit wird das Vor-Corona-Niveau wird in absehbarer Zeit wieder erreicht sein. Für uns MarxistInnen kommt diese wirtschaftliche Erholung keineswegs überraschend. Es gibt keine «finale Krise» des Kapitalismus. Das kapitalistische System wird sich immer wieder aufrappeln können, solange es nicht bewusst gestürzt wird.
Doch die grosse Frage ist, wie nachhaltig die Erholung sein wird. Wir dürfen nicht jeder konjunkturellen Schwankung blindlings hinterherrennen, so wie es die bürgerlichen Ökonomen tun. Sondern wir müssen verstehen, in welchem Kontext diese Erholung stattfindet.
Im Dezember 2019 schrieben wir: «So gut wie alles könnte eine wirtschaftliche Panik auslösen: eine Erhöhung der Zinssätze in den USA, der Brexit, ein Konflikt mit Russland, eine Zuspitzung des Handelskriegs zwischen den USA und China, ein Krieg im Nahen Osten, der zu steigenden Ölpreisen führen würde, oder sogar einfach nur ein besonders dummer Tweet aus dem Weißen Haus.»
Die Liste wäre fast beliebig verlängerbar gewesen mit weiteren Brandherden wie Verschuldung, Finanzblasen oder möglichen Staatsbankrotten. Schlussendlich war es das Coronavirus, das die tiefste Wirtschaftskrise seit 300 Jahren auslöste. Nun hat die wirtschaftliche Erholung eingesetzt. Doch alle diese genannten Brandherde lodern weiter vor sich hin. Corona hat für weiteres Holz oder sogar Öl gesorgt: Die private und staatliche Verschuldung ist in nie dagewesene Höhen geschnellt; viele Lieferketten sind zerbrochen; der Handelskrieg zwischen China und den USA ist sich am zuspitzen; zahlreiche Regierungen weltweit haben wegen ihrer Pandemiepolitik an Unterstützung verloren; aufständische oder gar revolutionäre Massenbewegungen auf allen Kontinenten; usw.
Das ist der allgemeine Zustand des Kapitalismus, in welchem die aktuelle Erholung stattfindet. Leo Trotzki erklärte den Zusammenhang zwischen konjunkturellen Schwankungen und dem allgemeinen Niedergang des Systems folgendermassen: «In Perioden des kapitalistischen Niedergangs sind die Krisen von längerem Charakter, während die Booms flüchtig, oberflächlich und spekulativ sind.»
Es ist ausgeschlossen, dass die aktuelle Erholung ausreichend stark ist, um die Probleme des Kapitalismus zu lösen. Dafür sprechen nicht nur die grossen Brandherde. Sondern auch die schwachen Motoren des Aufschwungs.
Ein wichtiger Motor sind die sogenannten «Nachholeffekte». Während der Pandemie konnten gewisse (kleine) Teile der Bevölkerung und gewisse Firmen Geld sparen. Dieses zusätzliche Geld wird nun ausgegeben, was den wirtschaftlichen Aufschwung antreibt. Doch solche Nachholeffekte sind von begrenzter Dauer: Nimmt ein Kind sein über Wochen angespartes Geld zum Kiosk, hat es danach einen Sack voll Süssigkeiten, aber keine Ersparnisse mehr. Der Konsum normalisiert sich.
Der zweite grosse Motor sind die historisch grossen Summen an Hilfsgelder, welche die Staaten in die Wirtschaft pumpen. Doch sogar diese Geldberge sind unzureichend: In Italien beispielsweise wurde ein Rettungspaket von sagenhaften 250 Milliarden Euro gesprochen. Das Ziel ist es, in 5 Jahren 750‘000 neue Arbeitsplätze zu schaffen. Doch schon nur in der Pandemie wurden 1.5 Millionen Jobs zerstört. Die Arbeitslosenquote in Italien liegt bei circa 10%. Es gibt kein Rettungspaket, das gross genug ist, um die tiefen Probleme des Kapitalismus zu beheben.
Zwar können so rapide Wirtschaftsaufschwünge künstlich kreiert werden. Doch gleichzeitig werden die nächsten Probleme vorbereitet: Die globalen Schulden stiegen während der Pandemie nochmals um knapp 10% und belaufen sich aktuell auf unglaubliche 355% des Welt-BIPs. Die Höhe der Schulden entspricht also dem Wert, der in dreieinhalb Jahren in der weltweiten Produktion geschaffen wird. Ein solch instabiles Konstrukt muss irgendwann einstürzen, was die Gefahr von Inflation, Bankenkrisen und Staatsbankrotten birgt.
Die Regierungen und Kapitalisten wissen, dass die hohe Verschuldung ein wahnwitziges Unternehmen ist. Doch sie haben keine Wahl. Ohne die riesigen Rettungspakete wäre die Wirtschaft dem Abgrund geweiht und die Arbeitslosigkeit würde explodieren. Aufstände und Revolutionen würden provoziert. Dies muss die herrschende Klasse noch viel dringender verhindern als grosse Schuldenberge. Die wirtschaftliche Erholung – möge sie noch so künstlich und oberflächlich sein – ist eine politische und soziale Notwendigkeit für die Kapitalistenklasse.
Ein weiterer wichtiger Faktor ist der ungleiche Charakter der Erholung. Bereits im Coronajahr stieg die Zahl der akut Hungerleidenden um unglaubliche 82% in den 79 Ländern mit Welternährungsprogrammen der UNO. Diese unmenschliche Entwicklung geht jetzt weiter. Während sich die reichsten Länder nun im Wirtschaftsaufschwung befinden, verschlimmert sich die Misere in den armen Ländern nochmals massiv. Dies schafft die Bedingungen für Kriege und Bürgerkriege. Kapitalismus, Armut und riesige Ungleichheiten gehen zwingendermassen Hand in Hand.
Auch zwischen den reichsten Ländern ist die Erholung ungleich. China kam als erstes und bestes aus der Krise heraus. Die anderen imperialistischen Staaten versuchen aggressiv aufzuholen. In Krisenzeiten muss jedes Land zunehmend für sich selbst schauen. Diese Tatsache steckt hinter dem Aufstieg des Protektionismus, der bereits vor Corona einsetzte und nun beschleunigt wurde. Der Handelskrieg zwischen China und den USA stellt dabei das Herzstück dieser Entwicklung dar. Die Folge davon werden Stellvertreterkriege sowie ein negativer Effekt auf die globale Wirtschaft sein, was zig Millionen von Existenzen weltweit bedroht.
Doch die grösste Ungleichheit in der kapitalistischen Erholung besteht zwischen Kapitalisten und der Arbeiterklasse. Im Coronajahr gab es fast 500 neue Milliardäre – so viele wie nie zuvor. Auch der Wirtschaftsaufschwung wird einigen Kapitalisten neue Geldberge bescheren. Dies erklärt zu einem grossen Teil den Enthusiasmus der bürgerlichen Experten. Doch die Arbeiterklasse – die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung – wird kaum etwas von der wirtschaftlichen Erholung spüren. Dies ist die wahre Bedeutung dieses oberflächlichen, künstlichen und ungleichen Aufschwungs.
Für die allermeisten ArbeiterInnen bedeutet die wirtschaftliche Erholung im besten Fall eine Rückkehr zu den Lebensbedingungen vor Corona. Doch sie alle haben die Erfahrung von eineinhalb Jahren Ängste und Verzicht im Namen «der Wirtschaft» (des Profits) gemacht. Dies kommt obendrauf auf zehn Jahre Krise nach 2008, die für die meisten Lohnabhängige sinkende oder stagnierende Lebensbedingungen bedeuteten.
Wenn die herrschende Klasse nun also pompös den Wirtschaftsaufschwung bejubelt, kann dies Empörung und Kampfeslust in der Arbeiterklasse provozieren. Die Lohnabhängigen und die Jugend wollen zurückhaben, was ihnen in den letzten Monaten und Jahren genommen wurde. Sie wollen ein Stück vom angekündigten Erholungs-Kuchen. Doch die Kapitalisten werden ihnen ausser ein paar Krümel nichts anbieten. Die Arbeiterklasse wird immer mehr die Schlussfolgerung ziehen, dass sie für ihre Interessen kämpfen muss. Es wird zunehmend zu harten Streiks und radikalen Massenbewegungen kommen. Sie alle suchen einen Ausweg aus dem kaputten Status quo.
Die nüchterne Analyse und die politische Praxis sind keinesfalls voneinander getrennt. Wer mit diesen Perspektiven der Erholung und des Klassenkampfes einverstanden ist, muss heute die revolutionäre Organisation aufbauen.
Dersu Heri für die Redaktion
19.07.2021
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