Die Annahme der AHV-Reform ist eine harte Niederlage. Die Lebensbedingungen der gesamten Arbeiterklasse, speziell der Frauen, verschlechtern sich weiter. Die vielen «Ja»-Stimmen von Männern zeigen vor allem eines: Die Arbeiterklasse braucht konsequente Klassenpolitik gegen die spalterische bürgerliche Krisenpolitik.
Die AHV-Reform ist Tatsache. Sowohl die Erhöhung des Frauenrentenalters (50,6 %) als auch die Erhöhung der Mehrwertsteuer (55,1 %) wurden an der Urne angenommen. Wer verliert? Die Arbeiterklasse, speziell die Frauen. Das Leben wird mit der höheren Mehrwertsteuer noch teurer für alle, der Reallohn sinkt. Frauen müssen ein Jahr länger arbeiten und bekommen ein Jahr weniger AHV-Rente. Und das war nur der Türöffner: Jetzt pochen die Bürgerlichen auf ein höheres Rentenalter für alle. Wer gewinnt? Die Kapitalistenklasse. Je tiefer unsere Löhne und Renten, desto mehr Kapital und Aussicht auf Profit für Pensionskassen und das ganze Finanzkapital.
Die Bürgerlichen haben sich mit ihrer spalterischen Salami-Angriffstaktik durchgesetzt: zuerst die Frauen angreifen, danach die Arbeiterklasse als ganze. Knapp drei Viertel der Männer hat für die Erhöhung des Frauenrentenalters gestimmt. Genau das haben sich die Bürgerlichen erhofft.
Aber die jetzige Reform reicht den Kapitalisten nicht. Die zugespitzte Konkurrenz in der Krise zwingt sie, auf allen Fronten mehr aus der Arbeiterklasse herauszupressen. In der Altersvorsorge stehen die allgemeine Erhöhung des Rentenalters auf 67 Jahre und weniger Rente aus der 2. Säule bereits in der Pipeline. Hier von «Gleichberechtigung» (FDP-Präsident Burkart) zu reden, ist pure Heuchelei.
Die objektive Wahrheit ist: Diese Reform nützt einer handvoll Grossaktionären im Finanzsektor, den fetten Kapitalisten. Sie schadet der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung, den Lohnabhängigen. Wie konnte die Reform also durchkommen? 47,8% gaben keine Stimme ab. Warum wurde ein grosser Teil der Stimmberechtigten gar nicht mobilisiert? Und warum stimmte von den Mobilisierten eine Mehrheit für ein schlechteres Leben – also gegen ihr objektives Interesse?
In erster Linie, weil die Arbeiterklasse massiv unter Druck stand, einer AHV-Sanierung zuzustimmen. Die Bürgerlichen versuchen seit Jahren, diese Reform durchzudrücken. Mit dem Hauptargument, die Renten seien für die Zukunft nicht mehr gesichert. Das will offensichtlich niemand.
Aber ab hier wird es eine Klassenfrage: Wer bezahlt für eine Reform der Altersvorsorge? Innerhalb der bürgerlichen Logik gibt es keine andere Möglichkeit, als dass die Arbeiterklasse mehr bezahlt. «Entweder ihr akzeptiert jetzt Verschlechterungen, oder ihr habt bald keine AHV mehr» – das ist ein riesiger Druck.
Die einzige Waffe gegen diesen Druck ist die Logik des Klassenkampfes. Die Arbeiterklasse hat einen gesellschaftlichen Reichtum erschaffen, der heute allen ein Leben ohne Mangel und mit deutlich tieferer Arbeitszeit (und damit: niedrigerem Rentenalter!) erlauben würde.
Während sie unseren Lebensstandard angreifen, stopfen sich die Kapitalisten weiter die Taschen voll mit Geld, das die Lohnabhängigen durch ihre harte Arbeit erwirtschaftet haben. Letztes Jahr wurden alleine die 300 reichsten Schweizer um 115 Milliarden reicher! Es gibt keine objektive Notwendigkeit, mit unseren Löhnen oder einem längeren Arbeitsleben für die Sicherung unseres Lebensstandards zu zahlen.
Die Kapitalisten müssen zahlen, alles andere ist keine Option. Sind die Kapitalisten nicht bereit, für die Sicherung unseres Lebensstandards eine Reduktion ihrer Profite zu akzeptieren? Dann sind wir nicht mehr bereit, die Existenz der Kapitalisten zu akzeptieren. Wollen sie nicht zahlen, dann fordern wir die Verstaatlichung der Banken und Grosskonzerne zur Finanzierung der Renten.
Das ist die einzige Alternative gegen die Erpressungs-Argumente der Bürgerlichen. Doch diese Alternative hat in den letzten Monaten und Jahren schmerzlich gefehlt. Ohne klare Perspektive, ohne programmatische Alternative, knickte ein Teil der Arbeiterklasse nun an der Urne gegenüber dem Reformdruck der Bürgerlichen ein.
Über Jahre hat die Arbeiterklasse einen Angriff auf die Renten nach dem anderen an der Urne abgewehrt. Und die Arbeiterklasse wäre bereit, diesen Kampf gegen die Kapitalisten auch im Betrieb und auf der Strasse aufzunehmen. Das beweisen erste Streiks und historisch hohe Lohnforderungen in allen Branchen als Reaktion auf die Inflation und die jahrzehntelangen Angriffe. Am Willen der Arbeiterklasse, ihren Lebensstandard zu verteidigen, liegt es nicht. Es ist eine Frage der Führung der Arbeiterbewegung und deren Ideen und Methoden.
Die SP, die historische Partei der Arbeiterklasse in der Schweiz, hat, anders als 2017, korrekterweise das Referendum gegen die AHV-Reform ergriffen. Sie hat versucht, den bürgerlichen Angriff abzuwehren. Aber sie ist gescheitert und das ist kein Zufall. Wir müssen klar sein: Die reformistischen Methoden der SP-Führung sind völlig unfähig, solche Angriffe tatsächlich zurückzuschlagen.
Die SP argumentierte, dass eine Rentenaltererhöhung für Frauen einfach «ungerecht» sei, weil Frauen noch immer überall benachteiligt würden. Und dass die Männer jetzt solidarisch sein müssen. Ohne zu erklären, wieso – wieso es ein Angriff auf die ganze Klasse ist. So spiegelte das Argument nur den Spaltungsversuch der Bürgerlichen: Frauen gegen Männer, statt Einheit der Klasse gegen die Kapitalisten. Die Mehrwertsteuererhöhung war nie im Fokus.
Entsprechend blieb der Kampf der SP-Führung gelinde gesagt halbherzig und konnte nicht stärker mobilisieren. Die Wurzel dafür ist politisch: Die SP-Führung akzeptiert grundsätzlich den kapitalistischen Rahmen. Deshalb ist sie seit Jahren unfähig, den bürgerlichen Angriffen etwas entgegenzuhalten und eine Perspektive des Kampfes aufzuzeigen. Im Gegenteil: Der sogenannte «linke Pragmatismus» führt immer wieder dazu, dass die SP Angriffe auf die Arbeiterklasse «als kleineres Übel» mitträgt, so wie bei der STAF 2019. Und auch dieses Mal liess sie es zu, dass ihr SP-Bundesrat Berset den AHV-Angriff mittrug, während die Partei ihn bekämpfte. Statt einer klarer Klassen- und Oppositionspolitik führt dieser als «Realpolitik» getarnte Reformismus nur zu Verwirrung und Demoralisierung in der Arbeiterklasse.
Nur ein klarer Klassenstandpunkt kann ArbeiterInnen unabhängig vom Geschlecht gegen solche Angriffe vereinen. Eine Arbeiterpartei hätte als allererstes die Aufgabe gehabt, die Konterreform als das zu entlarven, was sie ist: Ein Angriff auf die ganze Arbeiterklasse. Die Frauen wurden einmal mehr besonders hart angegriffen. Aber die Arbeiterklasse als ganze hat kein Interesse daran, dass Frauen länger arbeiten. Jede Erhöhung des Rentenalters, jede Erhöhung der Mehrwertsteuer ist eine Verschlechterung unserer Lebensbedingungen. Ein Angriff auf die einen ist ein Angriff auf uns alle.
Eine Arbeiterpartei hätte zweitens aufgezeigt, dass die Arbeiterklasse ihr objektives Interesse nur geeint verteidigen kann: «Wir bezahlen eure Krise nicht, gegen alle Angriffe auf unsere Lebensbedingungen. Kein Rappen weniger, keine Minute mehr arbeiten!».
Von diesem Standpunkt aus hätte der Kampf vom bürgerlich-institutionellen Terrain auf das Terrain der Arbeiterklasse verschoben werden müssen: auf die Strasse und in die Betriebe. Mit einem Aufruf zu einer nationalen Grossdemonstration hätten Frauen und Männer, jung und alt, rund um dieses Programm vereint werden können. Dort hätte die Führung dazu aufrufen müssen, dieses Programm in alle Betriebe zu tragen und sich politisch und gewerkschaftlich zu organisieren. Hier liegt die Macht der Arbeiterklasse. So wäre für eine grosse Mehrheit der Klasse deutlich geworden, dass dieser Angriff uns allen schadet. Denn der objektive Interessengegensatz in der Gesellschaft ist nicht Frauen gegen «alte, weisse reiche Männer» (SP-Nationalrätin Funiciello), sondern Arbeiterklasse (aller Geschlechter, Nationalitäten, Hautfarben etc) gegen Kapitalistenklasse.
Mit Reformismus und Identitätspolitik lassen sich die Angriffe auf die Arbeiterklasse nicht abwehren. Sie schaden unserem Kampf, jenem der Frauen und Männer der Arbeiterklasse.
Brechen wir nicht mit diesem Reformismus, werden wir auch in Zukunft verlieren. Wir MarxistInnen werden weiter dafür kämpfen, dass sich die Ideen des Marxismus in der Arbeiterbewegung durchsetzen: Ideen, die die Einheit der Klasse aufzeigen und die Notwendigkeit betonen, bedingungslos mit den Bürgerlichen und ihrem System zu brechen.
Dario Dietsche, VPOD Fribourg
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