Die Welt brennt, es herrscht Krieg und die Krankenkassenprämien fressen das Familienbudget. Die Wahlen im Oktober werden die Parteistärken nur minimal verändern und keines der Probleme lösen. Was bedeuten sie für die Arbeit von Kommunisten?
Die aktuelle Periode ist gezeichnet von Kriegen, riesigen Waldbränden, Überschwemmungen, Energieknappheit, Wirtschaftseinbrüchen, Flüchtlingsströmen und einer allgemeinen Krise der Lebenshaltungskosten. Die Liste liesse sich unendlich verlängern. Entscheidend sind die Schlussfolgerungen. Erstens: All diese Erscheinungen sind Symptome einer existenziellen Krise dieses Systems. Der Kapitalismus befindet sich im Zerfall und muss überwunden werden. Zweitens: Keine politische Kraft spricht diese Wahrheit aus. Das sind die entscheidenden Probleme unserer Zeit!
Die Wahlen zeigen eindrücklich, wie abgehoben alle Parlamentarier sind. Die Inflation zwingt die Kandidaten zwar, die Probleme der Arbeiterklasse anzusprechen. Doch nur um entweder mit irgendwelchen Details vom wahren Problem abzulenken oder um einen Sündenbock zu finden (Ausländer, Wolf, Gendersprache). Und die Vorschläge der SP sind so bescheiden, dass sie niemanden begeistern. Das Parlament erweist sich als grosse Schwatzbude, mit dem Zweck, die klaffenden Klassengegensätze in der Gesellschaft zu verwischen.
Die grösste Partei ist und bleibt die der Nichtwähler. Seit bald 45 Jahren bleibt mehr als die Hälfte der Stimmberechtigten der Urne fern! Und zwar nicht, weil alle glücklich und zufrieden wären. Oder weil sie zu ungebildet wären, um Wahlzettel auszufüllen. Nein! Weil sie – berechtigterweise – nicht sehen, was die Teilnahme verändern würde. Denn es gibt keine Option auf dem Stimmzettel, die die Interessen der Arbeiterklasse bedingungslos vertritt.
Wir dürfen uns von dieser vermeintlichen Passivität nicht täuschen lassen. Die Wahlen geben ein sehr verzerrtes Bild des politischen Bewusstseins der Arbeiterklasse. Oberflächlich sieht man keine Veränderung. Doch darunter vollziehen sich monumentale Verschiebungen.
Grundsätzlich bestimmt das Sein das Bewusstsein. Es ist ebendieses gesellschaftliche Sein, die täglichen Erfahrungen im Kapitalismus, welche das politische Bewusstsein – und seine Veränderung – bestimmen.
Aktuell erlebt die Arbeiterklasse einen Schockmoment. Durch die Inflation spürt die Mehrheit der Arbeiterklasse die Systemkrise am eigenen Leib. Das war nicht immer so. Aus verschiedenen Gründen war die Schweizer Wirtschaft relativ lange stabil. Doch diese Periode ist vorbei.
Wieso passiert das heute? Der Kapitalismus befindet sich seit Jahrzehnten in einer unüberwindbaren Krise. In den letzten Jahren verstärken sich die zahlreichen Probleme gegenseitig und türmen sich extrem hoch auf. Ein wirtschaftlicher Aufschwung ist kurz- und langfristig ausgeschlossen. Von der Krise ist jedes Land der Welt betroffen. Überall herrschen Rezession und Inflation.
Das bestimmt die Krise auch hierzulande: Das Schicksal des Schweizer Kapitalismus entscheidet sich auf dem Weltmarkt. Der Exportsektor ist entscheidend, doch alle Märkte schwächeln. In den vergangenen Krisen konnte der Exportsektor von Konjunkturpaketen im Ausland profitieren. Der Protektionismus schliesst dies heute aus. Die Rezession steht vor der Tür, Meldungen von Massenentlassungen füllen die Zeitungsspalten. Die Arbeiterklasse bekommt die volle Wucht der Krise ab. Vor uns steht die turbulenteste Periode des Kapitalismus. Eine revolutionäre Periode.
Die Welt verändert sich rasend schnell. Doch die herrschende Klasse macht weiter wie bisher. Sie hat keine andere Möglichkeit. Im Kapitalismus gibt es keine Lösung!
Deshalb sind ihre Vorschläge und Wahlslogans so lächerlich und stehen in keinem Verhältnis zu den Problemen.
Die Inflation hat verschiedene Gründe und wird so schnell nicht wieder verschwinden. Sie nur ein Symptom der Krankheit dieses Systems. Das einzige Heilmittel der herrschenden Klasse besteht darin, die gesamten Kosten der Arbeiterklasse aufzubürden. Krisenpolitik ist Klassenkampf: Die grossen Schweizer Unternehmen machen enorme Profite – während die Arbeiterklasse ausgepresst wird.
Es sind diesen – neuen – Bedingungen der Arbeiterklasse (Miet- und Strompreise sowie Krankenkassenprämien werden weiter steigen!), die unweigerlich zu einer steigenden Radikalisierung von breiten Schichten führen werden. Dieser Prozess hat begonnen (siehe Kasten), doch er steht erst am Anfang. Schaut man die Umfragen vor den Wahlen genauer an, ergibt sich genau dieses Bild.
Ein Umfrage von Pro Futuris ergab, dass 91 % der Bevölkerung ziemlich oder sehr an Politik interessiert sind. Doch den Parlamentariern vertrauen sie nicht: 50 % glauben nicht, «dass die Politik die grossen Probleme wirklich lösen kann». Knapp 60 % geben an, dass die Politik im Sack der Lobbyisten, der Reichen und der Wirtschaft ist! Das zeigt: Die Lohnabhängigen lehnen den Status Quo und seine Vertreter ab!
Das ist auch die Grundlage für die bereits ältere Krise der Parteien. Die Kapitalisten haben keine einheitliche Interessenvertretung im Parlament. Der unaufhaltbare Aufstieg der SVP ist vorbei. Die Kapitalistenvertreter sind in verschiedene, etwa gleich grosse Fraktionen aufgeteilt. Ihre Einzelinteressen führen oft dazu, dass sie sich gegenseitig ihre Projekte blockieren, was die Krise noch verstärkt.
All das zeigt: Die Langeweile dieser Wahlen ergibt einen falschen Eindruck der Stabilität und Zufriedenheit. In Wahrheit sind die Kapitalisten mit einer enorm instabilen Situation konfrontiert. Die Wut und der Frust in der Arbeiterklasse nehmen zu, weil sie für die Krise zur Kasse gebeten werden. Die Stärke der Rechten und ihrer Sündenbockpolitik beruht auf der Schwäche der Linken. Die Bürgerlichen lösen kein einziges Problem. Der Unmut wird sich unter der Oberfläche weiter anstauen, weil er keinen klassenbewussten Ausdruck findet. Das wird irgendwann zu einer sozialen Explosion führen.
Gerade in einer Situation der Krise werden alle bürgerlichen Parteien als Lakaien des Kapitals entblösst. Millionen Lohnabhängige werden dazu gedrängt, ihre alten Gewissheiten und Ideen in Frage zu stellen. Sie beobachten das politische Geschehen, suchen nach Auswegen für ihre Probleme und prüfen alle Erklärungen und Vorschläge.
Die Schweizer Arbeiterklasse hätte eine traditionelle Partei – die SP. Doch diese ist heute weit davon entfernt, die Interessen der Arbeiterklasse konsequent zu verteidigen. Während sich der tiefe Graben, welcher die Gesellschaft durchzieht, immer weiter öffnet und die Klassengrenzen klar ersichtlich auftreten, ist es das erklärte Ziel der SP, die «zweitstärkste Partei zu bleiben».
Die Arbeiterklasse ist jedoch die grosse Mehrheit der Gesellschaft! Sie hat gemeinsame Interessen. Ein Programm, welches konsequent ihre Interessen gegen die der Kapitalisten verteidigt, könnte eine Mehrheit der ganzen Gesellschaft hinter sich scharen. Das müsste der Anspruch der Partei der Arbeiterklasse sein, weil es notwendig und möglich ist. Der erste Slogan müsste sein: Wir bezahlen eure Krise nicht! Lasst die Bosse bezahlen! Hinter so einem Programm könnte die gesamte Arbeiterklasse, also auch die Nichtwähler, die ohne Wahlrecht und die Jugend organisiert und im Kampf vereint werden.
Die SP glaubt, dass ihnen (gemeinsam mit den Grünen) ein Viertel der Sitze erlaubt, Zugeständnisse von den Kapitalisten zu erringen. Das ist eine absurde Illusion. Dieser Reformismus glaubt, dass die Kapitalisten zur Einsicht gebracht werden können, dass die Arbeiter Verbesserungen verdient haben. Dieser Glaube entstand in der Boomphase der Nachkriegszeit: Fette Profite für alle Kapitalisten erlaubten einige Verbesserungen für die Arbeiter. Diese Zeit ist vorbei! Die Wirtschaft ist in der Krise und die Konkurrenz spitzt sich zu. Genfer SP-Urgestein und Mietervertreter C. Sommaruga erklärt dies beispielhaft an den Angriffen der Immobilienhaie: Die SP hätte «wichtige Vorstösse zugunsten der Mietenden eingereicht (…). Die Parlamentsmehrheit hat keine Rücksicht auf die Mieter*innen genommen und sämtliche Vorstösse abgelehnt.» Erklärung: «Heute geben die Immobilieninvestoren den Ton an. Ihr einziges Ziel ist es, die Renditen zu maximieren.» Trotz der Zuspitzung der sozialen Situation hält SP-Co-Präsident Wermuth an der genau gleichen Strategie fest: «Wir haben grosse Baustellen – die Mieten, die Krankenkassenprämien oder die Gleichstellungspolitik. (…) und dafür werden wir versuchen, im Parlament und im Bundesrat stärker zu werden.»
Der Reformismus ist schon lange gescheitert. Das ist der Grund, warum die SP seit den 80ern massiv an Unterstützung in der Arbeiterklasse verloren hat. Heute befinden wir uns in der tiefsten Krise des Kapitalismus. Wegen der krassen Angriffe auf die Arbeiterklasse würde jede ernsthafte sozialistische Partei auf ein offenes Ohr und enthusiastische Unterstützung bei den Lohnabhängigen stossen. Doch die SP ist bereits zufrieden mit dem Erhalt ihres prozentualen Wähleranteils!
Verbesserungen sind nur mit grossen Kämpfen möglich. Die Lohnabhängigen müssen die Kapitalisten mit Mobilisierungen auf der Strasse und der Organisation im Betrieb zu Konzessionen zwingen. Doch dafür brauchen sie eine Organisation, welche die wahre Situation der Arbeiterklasse anerkennt und die notwendigen Schlussfolgerungen zieht. Die Arbeiterklasse braucht heute massive Verbesserungen der Lebensbedingungen (Gesundheit, Rente, Wohnraum). Doch das ist den Interessen des Kapitals komplett entgegengesetzt. Und wenn der Kapitalismus uns kein gutes Leben erlaubt und den Arbeitern das Genick bricht, dann müssen wir mit dem Kapitalismus brechen! Die nötigen Verbesserungen, um der Arbeiterklasse eine lebenswerte Zukunft zu ermöglichen, setzen voraus, dass die reichen Schmarotzer enteignet werden. Die gesamte Parlaments- und Kampagnenarbeit der SP müsste auf diese Tatsache und diese Ziele ausgerichtet sein.
Würde die SP das Ertrinken der Arbeiterfamilien unter den Krankenkassenprämien und der Küstenregionen unter dem steigenden Meeresspiegel nicht nur als «Baustellen» bezeichnen, sondern die Schuldigen wirklich benennen (die Kapitalisten), die entsprechenden Schlussfolgerung klar aufzeigen (Enteignung) und den Weg dazu weisen (Massenmobilisierung und Organisation auf einem Klassenprogramm), wäre es vorbei mit der isolierten Verzweiflung und dem stillen Faust-im-Sack-machen. Die Arbeiterklasse wäre heute zum Kampf bereit!
Die Arbeiterklasse braucht eine eigene Partei, weil sie ohne völlig der kapitalistischen Krise ausgeliefert ist. Sie besitzt die Macht, das System zu überwinden, weil sie heute schon allen Wert erarbeitet. Doch diese Macht bleibt ein reines Potenzial, solange sich die Arbeiterklasse dessen nicht bewusst ist und sich nicht organisiert.
Die Krise wird die Lohnabhängigen zur Offensive zwingen. Unweigerlich werden lokale und grössere Kämpfe in den Betrieben ausbrechen. Das wird das Bewusstsein anheizen, weil so mit der Passivität gebrochen wird. Doch das löst noch nicht die Frage der Partei. Ihr Fehlen ist die entscheidende Bremse für den Klassenkampf!
Die Lösung dieser historischen Frage ist die wichtigste Aufgabe unserer Generation. Doch wir können heute weder die SP ersetzen, noch die revolutionäre Partei einfach ausrufen. Das wäre völlig illusorisch. Eine kommunistische Massenpartei wird durch die Kämpfe der Klasse anwachsen. Doch das bedeutet nicht, dass wir passiv bleiben! Wir brauchen einen Sinn für Proportionen. Heute müssen wir die Grundlage für eine zukünftige Partei legen. Wir müssen ihr Rückgrat aufbauen – die erste Generation an Kadern ausbilden, welche dann in den kommenden Kämpfen den Marxismus verteidigen und zu einer Massenkraft werden lassen.
Unsere Arbeit muss auf dieses Ziel ausgerichtet sein. Dafür müssen wir diese historischen Prozesse verstehen, die wir erleben. Nur wer eine korrekte Analyse hat, kann seine Rolle und seine Aufgaben einordnen. Nur mit einer wissenschaftlichen Methode, nur mit dem Marxismus, kann man wirklich einen Unterschied machen und einen ersten Einfluss auf den Lauf der Geschichte haben.
Was ist heute der allgemeine Prozess? Wir stehen am Beginn einer jahrzehntelangen Krise. Immer breitere Schichten der Arbeiterklasse werden durch die Umstände gezwungen, sich zu wehren. Sie erwachen politisch und suchen nach Alternativen, nach einem Weg aus der historischen Sackgasse des Kapitalismus. Schneller als wir es uns vorstellen, werden grössere Schichten offen für den Marxismus, weil er als einziger einen Ausweg aufzeigt.
Zu diesem Zeitpunkt wird die entscheidende Frage sein, ob der Marxismus als reale Kraft wirklich anzutreffen ist. Dafür müssen wir eine marxistische Organisation aufgebaut haben, welche genug Marxisten für diese Aufgabe, und eine erste Verankerung in den wichtigsten Betrieben umfasst. Nur so können wir, beginnend mit den aktivsten Schichten, die Arbeiterklasse von diesen Ideen überzeugen.
Es wäre völlig falsch, auf diesen Moment zu warten. Das ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Die verschiedenen Schichten reagieren unterschiedlich schnell. In der Jugend und der jüngeren Arbeiterklasse gibt es bereits ein neues Bewusstsein. Die Erfahrungen der letzten paar Jahre haben Zehntausende dazu gebracht, bewusst mit dem Kapitalismus zu brechen. Viele identifizieren sich heute mit dem Kommunismus. Sie sind isoliert, haben keine Organisation und keine wissenschaftliche politische Weltanschauung. Doch sie suchen nach einer Erklärung, wie man wirklich in die Geschichte eingreifen kann. Wer der Revolution helfen will, der muss jetzt alles geben, um diese Schicht an Kommunisten zu finden, zu organisieren und als Revolutionäre auszubilden.
Schlussendlich wird der Grossteil der Organisierungsarbeit von dieser Schicht – von euch – selbst gemacht. Aber diese Arbeit braucht ein stabiles Fundament, sonst ist es leerer Aktivismus. Die Grundlage sind die Ideen des Marxismus. Doch im Studierzimmer bringen sie uns nicht weiter. Wir müssen den Marxismus in der Praxis erlernen. Die Ideen müssen wir verstehen, damit sie die Organisierungsarbeit der Kommunisten anleiten und wir sie gleich einer neuen Schicht weitergeben können!
Wir haben die einmalige Chance, den Marxismus aus seiner jahrzehntelangen Isolation zu befreien und der Arbeiterklasse ihre schärfste Waffe zurückzugeben. Das Menschenmaterial – die Kommunisten – existieren. Genauso die notwendigen Ideen. Unsere Herausforderung ist es, diese zwei zusammenzubringen und daraus so schnell wie möglich eine Kampforganisation zu schmieden, welche einen ersten Einfluss auf den Klassenkampf haben kann. Wer dabei mithilft, hat ab Tag eins einen ersten, kleinen, aber entscheidenden Einfluss auf den weiteren Verlauf der Geschichte.
Europa — von Emanuel Tomaselli, RKI Österreich — 16. 11. 2024
Berichte & Rezensionen — von Die Redaktion — 15. 11. 2024
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Europa — von Jack Halinski-Fitzpatrick, marxist.com — 11. 11. 2024