Wer die Gesellschaft verändern will, braucht klare Perspektiven. Deshalb erarbeiten wir jedes Jahr eine allgemeine Einschätzung der wirtschaftlichen und politischen Konjunktur in der Schweiz. Diese dient uns als Kompass zur Orientierung in der laufenden politischen Arbeit. Hier veröffentlichen wir das Perspektivendokument 2023, welches von allen Funke-Mitgliedern in der ganzen Schweiz diskutiert und am nationalen Kongress Ende April verabschiedet wurde. Melde dich heute noch bei uns, um diese Perspektiven mit uns zu diskutieren und die Revolution in der Schweiz vorzubereiten!
Das Jahr 2022 war – nach 1973, 2008 und 2020 – ein weiterer Wendepunkt. Die organische Krise hat ein neues Niveau erreicht. Die Nachkriegsperiode war eine historische Ausnahmesituation. Der Kapitalismus erlebte einen zweiten Frühling mit 30 Jahren ununterbrochenem Wachstum. Diese Periode ist schon lange vorbei. 2022 läutet endgültig die neue Periode ein: eine Periode der «Permakrise».
Die Krise des Weltkapitalismus ist heute definitiv in der Schweiz angekommen. Die Inflation und die Lebenshaltungskosten-Krise sind ein flächendeckender Angriff, den die Schweizer Arbeiterklasse in diesem Ausmass seit Jahrzehnten nicht erlebt hat. Der Kollaps der Credit Suisse und die Bankenrettung des Bundesrats brachten den Niedergang des Schweizer Imperialismus deutlich an die Oberfläche. Die bürgerliche Propaganda vom «Sonderfall Schweiz», der «ewigen Schweizer Stabilität» und dass es «in der Schweiz allen gut geht», entspricht immer weniger der Realität der Arbeiterklasse. In der Schweiz sind wir in eine Periode der Vorbereitung der sozialen Explosion eingetreten.
Die 70er-Jahre-Krise war die erste synchrone Krise des Systems seit dem Zweiten Weltkrieg. Das erste Mal brachen die inneren Widersprüche des Kapitalismus erneut an die Oberfläche. Das signalisierte den Eintritt in eine neue Periode, eine Periode der organischen Krise. Eine Reihe von Faktoren und Massnahmen erlaubten dem Kapitalismus, sich wieder zu stabilisieren und die Produktivkräfte weiterzuentwickeln, wenn auch nie mehr auf dem gleichen Niveau. Zu diesen Faktoren gehörte die Globalisierung, als wichtigster Wachstumsmotor, die Integration der Ex-Sowjetunion und Chinas in den Kapitalismus, die Schwächung der Gewerkschaften, kontinuierliche Rücknahme des Sozialstaats, enormer Ausbau der Schulden, Unternehmenssteuersenkungen, expansive Fiskalpolitik u.v.m.
Diese Periode wurde durch die Wirtschaftskrise von 2008 beendet. Mit extremen Fiskal- und geldpolitischen Massnahmen versuchten die Kapitalisten, den vergangenen Aufschwung zu wiederholen. Das war unmöglich. Der Aufschwung nach 2008 war blutleer und spekulativ. Die Ausweitung des Welthandels stagnierte. Corona zerschlug das labile Gleichgewicht 2020. Die herrschende Klasse regierte mit dem erneuten, vielfach multiplizierten Rückgriff auf die immer gleichen Krisenmittel.
Das ist der historische Prozess hinter dem Wendepunkt 2022. Die Bourgeoisie hat die Krise über Jahre und Jahrzehnte hinausgeschoben. Sie hat damit kein einziges Problem gelöst, im Gegenteil. Sie hat alle ihre antizyklischen Massnahmen zum Hinausschieben der Krise verschossen. Und gleichzeitig fordert genau dieses Hinausschieben der Widersprüche heute seinen Preis: Die Krise reproduziert sich in viel grösserem Massstab. Die verschiedenen Krisenfaktoren treten gleichzeitig an die Oberfläche, verschärfen sich gegenseitig und kulminieren in einem perfekten Sturm – und die Bourgeoisie steht ohne Waffen da! Das ist der Wendepunkt 2022. Ein nachhaltiger ökonomischer Aufschwung ist ausgeschlossen. Alle Spannungen nehmen zu. Die Ereignisse und Eskalationen überschlagen sich. Vor uns steht die turbulenteste Periode seit dem Beginn der kapitalistischen Produktionsweise. Der Kapitalismus kennt keinen Ausweg.
Was liegt hinter dieser Sackgasse? Der Kapitalismus ist nicht mehr in der Lage, die Produktivkräfte zu entwickeln. Er hat seine historische Aufgabe erfüllt. Seither ist er eine Bremse für den Fortschritt der Menschheit. Die beiden grundsätzlichen Verhältnisse, unter denen der Kapitalismus wirtschaftet, das Privateigentum an den Produktionsmitteln und der Nationalstaat, sind zu engen Fesseln für die enormen, modernen Produktivkräfte geworden. Das menschliche Potential ist den absurden Spielregeln des Kapitalismus längst entwachsen. Doch solange diese nicht bewusst überwunden und durch ein neues System – ein rational geplantes Wirtschaften – ersetzt werden, sind wir gezwungen, dem Prozess des Verfaulens des Kapitalismus zuzuschauen.
Das System ist völlig unfähig, die grundlegendsten Bedürfnisse der Mehrheit zu befriedigen. Das erweist sich täglich: ob erhöhte Sterberate in unterbesetzten Spitälern, Strommangel in Europa, Rekordzahlen an Toten im Türkisch-Syrischem Erdbebengebiet. Der Kapitalismus tötet und produziert Chaos. Nicht weil die Probleme unlösbar sind, nein! Weil eine kleine Minderheit ihre Privilegien höher gewichtet als das Überleben von neun Zehntel der Weltbevölkerung!
Die aktuelle grundsätzliche Sackgasse des Kapitalismus kann nur auf zwei Arten gelöst werden. Entweder der herrschenden Klasse wird erlaubt, sich an die Macht und all ihre Privilegien zu klammern. Sie hat keine Lösung für die Krise. Sie wird die ganze Gesellschaft mit sich in den Abgrund ziehen. Das bedeutet die Zerstörung der Produktivkräfte und der Kultur der Menschheit – das Versinken in der Barbarei. Die einzige Alternative ist die positive Aufhebung der kapitalistischen Fesseln, des Privateigentums und des Nationalstaates. Dies kann nur durch die internationale sozialistische Revolution durch die Arbeiterklasse vollbracht werden.
Doch die Arbeiterklasse ist heute nicht bereit, die Kapitalisten zu stürzen. Ihr fehlt ein gründliches Verständnis der Situation und der Lösung. Ihr fehlt eine revolutionäre Organisation. Deshalb kann sie die Widersprüche nicht positiv überwinden. Wir sind in eine lange Periode massiver Klassenkämpfe eingetreten – eine Periode der Revolutionen und Konterrevolutionen, deren Ausgang nicht vorbestimmt ist. Unsere Aufgabe ist es, in diesen Kämpfen die Organisation und das Bewusstsein aufzubauen, welches für eine Revolution notwendig ist.
Die Ereignisse der letzten Jahre und im speziellen des letzten Jahres bestätigen auf eindrückliche Weise die gesamte Perspektivenarbeit der IMT. Alle zentralen, über Jahre und Jahrzehnte erarbeiteten Tendenzen haben sich realisiert. Die Inflation, das Ende der Globalisierung und die Verschärfung der imperialistischen Widersprüche in Form von Blockbildung – die wichtigsten Krisenfaktoren, die 2022 an die Oberfläche drangen – sind Paradebeispiele dafür. Für die Schweiz haben die Marxisten über Jahre die Perspektive der kapitalistischen Krise und des Niedergangs des Schweizer Imperialismus entwickelt. Dies hat sich mit der Inflation, dem Einknicken des Bundesrates in der Frage der Neutralität durch die Übernahme der Ukraine-Sanktionen, sowie dem CS-Kollaps komplett bestätigt. Über die zahlreichen Perspektivendiskussionen der letzten Jahre ergibt dies ein schlagender Beweis der Überlegenheit des Marxismus. Es ist die Realität und der konkrete Verlauf der Krise, welche unsere Analyse bestätigen. Es zeigt sich, wie Leo Trotzki es nennt, dass der Marxismus «die Vorzüge der Voraussicht gegenüber dem Erstaunen» gibt.
Die Globalisierung war die wichtigste Stütze des Kapitalismus in letzter Periode. Ihre Verkehrung ins Gegenteil ist die grösste Gefahr für die Stabilität des Systems. Die Globalisierung war der Versuch der Kapitalisten, die engen Grenzen des Nationalstaates zu überbrücken. Eine enorme Ausweitung der internationalen Arbeitsteilung sorgte für eine Steigerung der Produktivität, für Effizienz und tiefe Preise. Doch eine Überbrückung ist keine Überwindung. Der Nationalstaat wurde nicht abgeschafft. Heute stehen Protektionismus, die Rückführung der Produktion in verbündete Länder (sogenanntes «Friendshoring») und Blockbildung im Zentrum. Diese Umkehrung ist keine Folge von Fehlentscheiden, sondern erwächst aus den inneren Zwängen des Systems!
Die Globalisierung musste notwendigerweise zu einer globalen Krise des Kapitalismus führen. Das Wachstum – angetrieben durch die vorübergehende Überbrückung der nationalen Beschränktheit der Märkte, also durch die Ausweitung des Welthandels – musste irgendwann seine Grenzen erreichen. Die Märkte übersättigten sich auf globaler Ebene. Die Globalisierung mündete in eine globale Überproduktionskrise. Das führt zur Verschärfung der Konkurrenz zwischen den grossen Konzernen und Staaten.
Im Krisenfall schaut jede Kapitalistenklasse für sich. Alle versuchen, die interne Krise zu exportieren. Die Zunahme des ökonomischen Nationalismus ist eine notwendige Reaktion der Kapitalisten auf die Krise. Bereits nach 2008 begann der Anteil der Exporte am globalen Bruttoinlandsprodukt zu stagnieren. Corona und dann der Ukraine-Krieg läuteten endgültig das Ende der Periode der Globalisierung ein und den Beginn einer Periode des ökonomischen Nationalismus.
Das ist die Ursache der Zunahme der imperialistischen Spannungen, des aufkommenden Wirtschaftskrieges zwischen der USA und China, dem Säbelrasseln um Taiwan, dem Ukrainekrieg, etc. Gegen aussen müssen Allianzen, Einflussgebiete, Absatzmärkte, Rohstoffquellen und Handelswege abgesichert werden, wenn nötig mit Krieg. Das wird einschneidende Konsequenzen haben, auch für den Schweizer Kapitalismus (siehe Kapitel “Gezeitenwende und Blockbildung”).
Auch das sprunghafte Aufkommen der Inflation ist kein unglücklicher Zufall. Es ist eine direkte Konsequenz der Massnahmen der Kapitalisten. Die Krise 2008 gefährdete das Überleben ihres Systems. Um einen gewaltigen Kollaps zu verhindern, mussten die FreieMarkt-Extremisten jede Orthodoxie über Bord werfen. Staatliche Rettungspakete in Milliardenhöhe wurden geschnürt – von dem Staat, der niemals in die Wirtschaft eingreifen soll! Die entstandenen Schulden konnten auch nach über einem Jahrzehnt aggressiver Sparmassnahmen nicht abgebaut werden. Im Gegenteil: eine extrem lockere Geldpolitik pumpte über sogenanntes «Quantitative Easing» Billionen ins System. Die Zinsen wurden ins Negative gesenkt. Doch in der kapitalistischen Überproduktionskrise blieb das erhoffte Wachstum trotzdem aus. Diese Gelder halfen nicht dem Ausbau der Produktion. Die Investitionen blieben tief. Ein grosser Teil dieses Geldes floss direkt in die Spekulation (Immobilien, Bitcoins und Aktienrückkäufe). Unter anderem deshalb kam es nicht direkt zur Inflation. Es war eine Einladung zur Verschuldung für Staaten, Unternehmen und Private. Das Resultat: Die massive Verschuldung führte zu einer Abhängigkeit von den tiefen Zinsen. Deshalb wurden diese verrückten Massnahmen nicht aufgehoben.
Dann kam 2020: die tiefste und weltweit synchronste Krise des Kapitalismus. Den Kapitalisten blieb nichts anderes übrig, als die gleichen Massnahmen auf eine neue Ebene zu hieven. Die Nationalbanken der USA, der EU und Japan wendeten ein Total von über 6 Billionen Dollar auf. Das prallte auf die Verwerfungen aus Lockdown, verändertem Konsumverhalten und Lieferkettenchaos. Aus einem Inflationsrisiko wurde reale Inflation. Das wurde zuerst geleugnet. Der Ukrainekrieg und seine Konsequenzen beschleunigten sie rasant. Der Krieg war nicht der Auslöser und deshalb würde ein Ende des Krieges die Inflation auch nicht beenden. Protektionismus und Zölle, teurere Lieferketten und häufigere Naturkatastrophen, etc. – all diese kapitalistischen Probleme bleiben bestehen und alle
führen zu höheren Preisen.
Das einzige Instrument der Kapitalisten im Kampf gegen die Inflation ist die Erhöhung der Zinsen, in der Hoffnung, dass eine so provozierte Rezession die Nachfrage senkt. Diese Rezession kommt. 2023 soll laut der IWF-Direktorin wird «2023 schlimmer als 2022»! Die Bürgerlichen behaupten, sie könnten das Ausmass der Rezession in «kontrolliertem» Rahmen halten. Doch erstens kann niemand eine Rezession kontrollieren. Und zweitens wird die Inflation nicht verschwinden. Was sich abzeichnet, ist ein gewisses Absinken der Inflationsrate. In den USA ging sie von 9.1% im Juni auf 6.4% im Januar zurück, in Großbritannien von 9.6% im Oktober auf 8.8% im Januar. Beides ist immer noch hoch! Das wahrscheinlichste Resultat ist “Stagflation” oder gar “Slumpflation” – also hohe Inflation gepaart mit wirtschaftlicher Stagnation und heftigen Kriseneinbrüchen. Die bürgerliche Zwickmühle zwischen Inflation und Zinserhöhungen verdeutlicht die Sackgasse des Kapitalismus und spitzt sie weiter zu. Nach Jahren der Niedrigzinsen sind die Märkte und Staaten regelrecht süchtig nach billigem Geld. Dieses wird nun mit den erhöhten Zinsen ruckartig entzogen. Die Qualen dieses kalten Drogenentzugs sind schrecklich, die Gefahren riesig: Eine grosse Anzahl an Zombie-Firmen könnten in den Ruin getrieben werden. Insbesondere bei den hochverschuldeten Ländern fressen die höheren Zinsen einen gefährlichen Teil der Staatsausgaben (siehe Italien), was irgendwann eine Staatsschuldenkrise
auslösen wird.
Entgegen den empiristischen Erwartungen der Bürgerlichen ging die unmittelbarste Gefahr der Zinserhöhungen von den Finanzmärkten aus. Der Zusammenbruch der Silicon Valley Bank war eine direkte Konsequenz der neuen Zinspolitik. Scheinbar sichere Anlagen wie Staatsanleihen verkehrten sich rasant in hochriskante um. Dies löste eine internationale Bankenkrise aus, deren vorläufiger Höhepunkt der Zusammenbruch der Credit Suisse war. Es bestand (besser: besteht weiterhin) die Gefahr der Ausbreitung in eine weltweite Wirtschaftskrise, was zu einer sofortigen sozialen Explosion in vielen Ländern führen würde. Die Kapitalisten hatten zurecht Angst und waren offensichtlich nicht bereit, die notwendigen Konsequenzen ihrer Massnahmen hinzunehmen. Deshalb wurden die Banken mit erneuten riesigen Staatsgeldern gerettet, die FED verlangsamte zudem noch ihre Zinserhöhungen. Damit wird erneut die Inflation und der Klassenkampf angeheizt. Die herrschende Klasse hat die Wahl zwischen Pest und Cholera, zwischen Inflation und Finanz-, sowie Wirtschaftskrise – und schlussendlich kriegen sie beides. In der heutigen Periode gibt es keine gute Lösung für die Kapitalisten. Alles, was sie machen, führt direkt in die Krise und zu Klassenkampf.
In den 1930er Jahren war es genau die protektionistische Wirtschaftspolitik der europäischen Länder und der USA, welche den Crash von 29 zur Grossen Depression ausweiteten, welche die ganzen 30er-Jahre dominierte. Genauso wie heute viele Regierungen zu Protektionismus greifen, sind auch die Entscheide zu jähen Zinserhöhungen nicht einfach dumme Entscheide. In der heutigen Periode gilt wörtlich, wie Engels Hegel paraphrasiert: «Vernunft wird zu Unvernunft». Die Bedingungen haben sich geändert: Die Krise ist zu tief. Auch die intelligentesten bürgerlichen Politiker – von denen es nur wenige gibt – haben nicht die Mittel, die Krise zu überwinden. Die Inflation befeuert den Klassenkampf und die Aufstände. Doch Zinserhöhungen führen zur Rezession und damit zur Schliessung von Fabriken und zur Erhöhung der Arbeitslosigkeit. Das beruhigt die Situation ebenfalls nicht, im Gegenteil. Im Kapitalismus führen alle Wege in den Ruin.
Wir stehen vor einer Epoche der jahre- und jahrzehntelangen Krisenspirale. Das bedeutet keine ununterbrochene Krise und permanente Rezession. Es wird immer Phasen der Erholungen geben. Aber: «In Perioden des kapitalistischen Niedergangs sind die Krisen von längerer Dauer, während die Aufschwünge flüchtig, oberflächlich und spekulativ sind.» (Trotzki, Weltperspektiven 1921) Die zahlreichen ungelösten Widersprüche schliessen eine Stabilisierung für eine ganze Periode aus. Die völlig verrückten letzten drei Jahre, die Permakrise, das gibt einen ersten Einblick in die neue Normalität; diese Abfolge an Kriseneinbrüchen und Katastrophen, das ist der neue Rhythmus. Die Folge davon sind Jahre und Jahrzehnte an Hammerschlägen auf das Bewusstsein der Massen.
Die herrschende Klasse befindet sich nicht nur in einer wirtschaftlichen, sondern auch in einer sozialen Sackgasse. In unterentwickelten kapitalistischen Ländern knüpft der Klassenkampf erneut an die Welle der Massenbewegungen von 2019 an, insbesondere in Lateinamerika. Diese massiven Aufstände hatten keine grundsätzlichen Probleme der Massen gelöst. Die Pandemie hat die Kämpfe pausiert und die Situation verschlimmert. All das bricht jetzt wieder auf.
In den entwickelten Ländern hat die Inflation eine Welle an Streiks und Arbeitskämpfen ausgelöst, bei denen Grossbritannien die Speerspitze bildet. Dort erreicht der Klassenkampf ein Niveau, das er seit 40 Jahren nicht mehr gekannt hat. Das ist die Tendenz in ganz Europa.
Diese Bewegungen sind Oberflächenphänomene, welche von einer tieferliegenden, grundlegenden Veränderung angestossen werden: Es ist der definitive Bruch mit der prekären Stabilität der Vergangenheit. In vielen Ländern, gerade im Westen, waren das Bewusstsein und der politische Überbau noch geprägt von der Nachkriegszeit. Diese Periode ist zwar schon lange zu Ende. Spätestens nach 2008 haben die Angriffe die angesetzten Reserven abgetragen. In Kombination mit den Erfahrungen der vorigen Periode und den akkumulierten Widersprüchen bedeutet die Inflation einen qualitativen Sprung und hebt die Situation auf eine neue Stufe: Ab jetzt geht es der Arbeiterklasse schonungslos ans Eingemachte. Die herrschende Klasse kann sich seit langem keine neuen Reformen leisten. Doch heute sieht sie sich gezwungen, alle gemachten Konzessionen der letzten 70 Jahren zurückzunehmen. Gleichzeitig kann die Arbeiterklasse keine weitere Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen akzeptieren. Das ist ein fertiges Rezept für intensivere Klassenkämpfe weltweit.
«Eine weit verbreitete Gärung und eine allgemeine Infragestellung der bestehenden Ordnung hat bereits begonnen. Es besteht nicht nur die Möglichkeit, dass es überall zu einer Gegenreaktion der Arbeiter kommt, sondern auch zu einer massiven Reaktion breiter Gesellschaftsschichten gegen den Markt, das kapitalistische System und alle seine Bestandteile.» (Weltperspektive 2023).
Die enorme Unzufriedenheit in der Arbeiterklasse findet keinen bewussten, politischen Ausdruck. Die Führungen ihrer Massenorganisationen sind alle politisch degeneriert und komplett in den bürgerlichen Staat integriert. Was fehlt, ist eine Führung, welche sich konsequent auf den Klassenstandpunkt der Arbeiterklasse stellt. Diese existiert heute nirgends. Es ist unsere Aufgabe, diese Führung aufzubauen, respektive die Vorarbeit zu leisten: die marxistischen Kader auszubilden, welche es ermöglichen, dass der Marxismus in Zukunft zu einer Massenkraft wird.
Alle imperialistischen Blöcke, insbesondere die USA und China, sind gezeichnet von der organischen Krise, die zu internen Widersprüchen und sozialen Spannungen führt. Jede Bourgeoisie will ihre Probleme auf Kosten der Konkurrenten lösen. Deshalb nehmen die imperialistischen Spannungen zu. Das ist keine individuelle Entscheidung. Sondern ein Zwang, der aus Krise und Imperialismus erwächst. Sinnbildlich dafür steht die Kontinuität in der Chinapolitik von Trump und Biden. «Make America Great Again» wurde fallengelassen – nicht so Trumps Protektionismus. Dabei ist es glasklar, dass eine totale Loslösung vom Weltmarkt beim heutigen Stand der internationalen Verflechtungen und Arbeitsteilung eine völlige Utopie wäre. Die gesteigerte Konkurrenz führt zur aggressiven Durchsetzung der eigenen ökonomischen Interessen. Doch das bedeutet die Zunahme der Fragilität der Lieferketten und des Handels. Die Zunahme der imperialistischen Konflikte und der Blockbildung führt zu grösserer Instabilität und verstärkt die Krise.
Die schärfste Zuspitzung zeigt sich im zunehmenden Wirtschaftskrieg zwischen den USA und China. Die USA sind die bei weitem führende imperialistische Weltmacht. Sie haben diese Rolle mit den beiden Weltkriegen von Grossbritannien übernommen. Doch die Kräfteverhältnisse sind dynamisch. Die USA erleben selbst einen relativen Niedergang. Nach dem Zweiten Weltkrieg machte die US-Wirtschaft 50% des Welt-BIP aus (mit nur 6% der Weltbevölkerung). Heute ging dieser Anteil auf 24% zurück. Deshalb sind die USA gezwungen, ihre Vormachtstellung mit allen Mitteln zu verteidigen. Doch der Niedergang zeigt sich auch in der geschwächten Durchsetzungsmacht. Der Weltpolizist ist angeschlagen. Im Irak, in Afghanistan und in Syrien erlebte er Niederlagen. Intern drückt sich das in einer Kriegsmüdigkeit der US-Arbeiterklasse aus, welche direkte militärische Interventionen erschwert. Die US-Innenpolitik ist von extremer Polarisierung, multipler Spaltung der Parteien und einer generellen Krise aller bürgerlichen Institutionen geprägt. Dieser Cocktail zwingt die USA noch mehr, ihre Interessen international aggressiv durchzusetzen. Das zeigt sich im Vorgehen gegen den grössten Konkurrenten China. Sanktionen sollen ihn intern schwächen und seinen technologischen Fortschritt ausbremsen. Eine offensive Bündnispolitik und Drohungen gegen alle, die sich politisch China annähern, sollen den Rivalen extern zurückdrängen. Doch China ist nicht das einzige Opfer. Das enorme Konjunkturpaket «Inflation Reduction Act» (IRA) enthält eine Vielzahl protektionistischer Massnahmen, welche sich z.T. direkt gegen die Konkurrenz aus der EU richtet.
China hat einen kometenhaften Aufstieg hinter sich. Es ist der Workshop of the world. Der Warenexport ist sein wichtigstes Standbein. Das Wachstum nach 2008 basierte auf riesigen keynesianistischen Massnahmen. Doch mit der Rückkehr zum Kapitalismus haben sich enorme kapitalistische Widersprüche aufgebaut. Erstens übersteigt die Gesamtverschuldung das Dreifache des BIP. Zweitens existiert die weltweit grösste Immobilienblase in China. Diese hat bereits zu platzen begonnen! Drittens ist die enorme Exportabhängigkeit während einer Periode weltweiter Krise eine Zeitbombe. Das Wachstum bricht zusammen. Das führt, viertens, zu enormen sozialen Spannungen. Die Jugendarbeitslosigkeit, zunehmende Streikaktivität und die Strassenschlachten in der Foxconn-Fabrik sind Indizien, dass sich eine enorme soziale Explosion vorbereitet. Schlussfolgerung: Der rasante Aufstieg Chinas ist zu Ende! Zu viele, zu scharfe innere Widersprüche existieren im chinesischen Kapitalismus.
Die inneren Widersprüche zwingen China zu einem aggressiveren Imperialismus: Exporte sind eine Frage des Überlebens. China führt eine imperialistische Agenda auf allen Kontinenten. Das Land ist gezwungen, sein Einflussgebiet zu verteidigen, auch gegen die USA. Doch die Amerikaner sind militärisch weit überlegen. Das spitzt sich insbesondere im Pazifik zu. Auch wenn wir eine direkte militärische Konfrontation im Moment ausschliessen (darauf gehen wir in anderen Dokumenten ein), stehen alle Zeichen auf eine Zuspitzung dieses Konfliktes. Das wird weitreichende Konsequenzen für das ganze System und das internationale Gleichgewicht haben.
Der Ukrainekrieg ist ein Katalysator aller bereits zuvor existierenden Prozesse. Die wirtschaftlichen Kriegsmassnahmen drängten Russland näher zu China und gaben der Blockbildung USA gegen China weiteren Anstoss. Das verstärkte die allgemeine Entwicklung hin zum «Friendshoring», der Absicherung der Lieferketten in verbündete Länder. Der Ukrainekrieg selbst – das ist das Wichtigste – ist ein imperialistischer Krieg, ein Konflikt zwischen den NATO-Mächten (angeführt vom US-Imperialismus) und Russland. Die Absichten der NATO sind, erstens, Russland als militärischen Konkurrenten zu schwächen und zweitens einen Keil zwischen die enge wirtschaftliche Verflechtung zwischen der EU und Russland zu schlagen. Diese Verflechtung gab der EU ökonomische Unabhängigkeit von der USA und einen Konkurrenzvorteil durch billiges Öl und Gas. Beim ersten Ziel zeigt sich eine durchzogene Bilanz. Das zweite Ziel wurde erreicht. Europa musste sich den USA wieder stärker unterordnen.
Das ist ein weiteres Beispiel dafür, dass die EU klar der schwächste der drei führenden imperialistischen Pole darstellt. Die EU-Wirtschaft ist gegenüber den USA und China gleichermassen exponiert. Traditionell ist sie ein Alliierter der USA. Doch das Wachstum kam zunehmend aus dem Export nach China. Aus diesen Gründen wird die EU in diesem Konflikt zwischen den beiden Konkurrenten aufgerieben.
Die grössere externe Konkurrenz verlangt eine einheitliche Antwort aller EU-Länder. Zum Beispiel verlangten die Angriffe des amerikanischen IRA-Pakets eine geeinte Reaktion. Doch das stellt sich als unmöglich heraus. Die EU wird von immer stärkeren zentrifugalen Kräften auseinander gezogen. Sie vereint völlig unterschiedliche Volkswirtschaften mit unterschiedlichen Stärken und Bedürfnissen. In der Krise macht auch hier jede Nation, was sie für sich am besten hält. Die EU ist gezeichnet von internen Alleingängen, Protektionismus und ökonomischem Nationalismus. Das Paradebeispiel war der Brexit. Diese interne Blockade erhöht die ausgelieferte Position gegenüber dem zunehmenden Konflikt zwischen den USA und China. Die deutsche Regierung versucht, den Kurs des Ausbalancierens aufrechtzuerhalten. Das führt zu zunehmenden Konflikten innerhalb der Koalition und grosser Unsicherheit für die Wirtschaft. Doch weder für einzelne Länder noch für die gesamte EU ist es möglich, den objektiven Entwicklungen zu entkommen. Das Resultat: Die EU wird extern zerrieben zwischen den Blöcken und intern von zentrifugalen Kräften durchbohrt. Sie ist klar das schwächstes Glied. Die herrschende Klasse der Schweiz ist noch ausgelieferter: Gegenüber der Zuspitzung zwischen den USA und China, sowie gegenüber der bereits ausgelieferten EU.
Das Erfolgsrezept der Schweizer Bourgeoisie bestand aus einem Produktionsapparat, welcher die beiden Weltkriege intakt überdauert hatte und einer parasitären Position auf dem Weltmarkt. Diese imperialistischen Extraprofite waren die Grundlage für die lange ökonomische, soziale und politische Stabilität.
Der Schweizer Imperialismus ist von drei Eigenheiten gezeichnet: Erstens ist das Schweizer Kapital extrem integriert in den Weltmarkt. Der Aussenhandelsquote beläuft sich auf 71% des BIPs. Die kleine Wirtschaft zählt den zehntgrössten Gesamtbestand an ausländischen Direktinvestitionen aller imperialistischer Länder! Zweitens besteht, wie bei allen «kleinen imperialistischen Mächten», eine völlige Abhängigkeit von den Grossmächten. Der Schweizer Imperialismus war deshalb gezwungen, zwischen den Grossmächten zu manövrieren und sich auf ökonomische Nischen zu spezialisieren. Das setzt zumindest deren passive Zustimmung voraus. Drittens kennt der Schweizer Imperialismus, im Unterschied zu anderen kleinen Imperialismen, keine regionale Spezialisierung. Das Schweizer Kapital hat nicht, wie zum Beispiel Österreich, eine spezifische Ausrichtung auf den Balkan oder wie Schweden auf das Baltikum. Die Schweizer Bourgeoisie hat ihr Handwerk darauf spezialisiert, zwischen allen Blöcken zu lavieren und einseitige Abhängigkeiten zu verhindern. Die Banken verwalten das Privatvermögen raffgieriger Bosse von allen Kontinenten und die Exportwirtschaft sichert ihren Handel durch eine grosse regionale Verteilung ab.
Wie alle herrschenden Klassen ist auch das Schweizer Kapital der organischen Krise und der zunehmenden Konkurrenz schon lange ausgesetzt. Sie hat Anpassungen vorgenommen, die immer zu einer Akzentuierung des Imperialismus und stärkerer Aussetzung gegenüber dem Weltmarkt geführt haben. So konnte sie von der Periode der Globalisierung voll profitieren. Gleiche Handelsregeln für alle (egal ob klein oder gross), erlaubten dem Schweizer Kapital, seine Wirtschaft auf konkurrenzfähige Exporte auszurichten. Diese Anpassungsmassnahmen waren zwischenzeitlich erfolgreich. Doch sie vergrösserten die Abhängigkeit vom Weltkapitalismus, der heute in einer tiefen Krise steckt. Die allgemeine Tendenz geht heute in die Gegenrichtung: zu Protektionismus und ungleichen, bilateralen Beziehungen. Die Bourgeoisie hatte keine andere Wahl: Für die kleine Schweizer Wirtschaft war eine Abkopplung vom Weltmarkt niemals eine Option. In der neuen Periode rächt sich diese Abhängigkeit, denn das Schweizer Kapital hat sich auf Gedeih und Verderb mit ihm vermählt.
Die Krise in den 70er-Jahren wurde von der herrschenden Klasse voll auf die Arbeiterklasse abgeladen. Ausländer und Frauen wurden zu hunderttausenden vom Arbeitsmarkt ausgestossen. Die Inflation schulterte die Kosten der gesamten Arbeiterklasse auf. Darauf folgte eine kurzfristige Stabilisierung, welche bereits Ende der 80er wieder aufbrach. Bis dahin hatte die Bourgeoisie keine grösseren Anpassungen des Regimes unternommen. Erst in den 90ern war sie zu einer starken Reaktion gezwungen. Wir sind im letztjährigen Perspektivendokument näher auf diese eingegangen.
Ihr folgenschwerstes Merkmal war die starke (Kapital-)Konzentration auf die Exportwirtschaft und international konkurrenzfähigen Grosskonzerne. Gerade die parasitärsten Sektoren rückten ins Zentrum: Pharma, Banken, Versicherungen, Holdings und Rohstoffhandel. Plus die Exportindustrie. Vor 20 Jahren machten die Exporte von Gütern und Dienstleistungen 51% des BIPs aus. Heute sind es mehr als zwei von drei Franken der Wertschöpfung. Die Konsequenz ist klar: eine enorme Abhängigkeit gegenüber der Weltwirtschaft!
Das Schweizer Kapital spezialisiert sich auf einige wenige, extrem profitable Bereiche. Spitzenreiter ist die Pharmaindustrie. Über die Hälfte der Exporte geht auf diesen einen Sektor zurück (gemessen am Wert). Und er rühmt sich, für mehr als ein Drittel des gesamten BIP-Wachstums der letzten zehn Jahren verantwortlich zu sein. Von diesen Konzernen sind nämlich grosse Teile der Gesamtwirtschaft abhängig (Zulieferer, Reinigung etc.) und damit auch viele Arbeitsplätze. Diese Kapitalkonzentration erhöht das Risiko, welches vom Protektionismus ausgeht. Bricht ihnen einer ihrer Exportmärkte wegen protektionistischen Massnahmen weg, bedeutet dies einen überproportionalen Schlag für Schweizer Wirtschaft!
Die Konzentration auf extrem profitable und parasitäre Sektoren bedeutet nicht, dass die Schweiz immun ist gegen die allgemeine Stagnation der kapitalistischen Produktionsweise. Das Wachstum des BIP pro Kopf kannte schon vor 2020 eine rückläufige Tendenz. Der Rückgang war viel stärker als bei den Konkurrenten Deutschland und Frankreich (siehe Grafik). Das bedeutet, dass der Grossteil der Kapitalisten nicht den Produktionsapparat modernisiert, sondern einfach mehr Arbeitskraft ausbeutet. Die Kapitalisten investieren nicht aus Spass, sondern in Absicht auf Profite. In einer weltweiten organischen Überproduktionskrise wird nicht investiert, weil Investitionen nicht profitabel wären, weil niemand die zusätzlich produzierten Waren kaufen würde. So zeigt sich auch in der Schweiz die allgemeine Tendenz der Stagnation der Produktivkräfte und damit der Stagnation der gesamten Zivilisation.
Der Zusammenbruch der Credit Suisse widerspiegelt den langen Prozess des Niedergangs des Schweizer Imperialismus und wird diesen weiter befeuern. Es ist ein schicksalsträchtiges Ereignis, vergleichbar mit der Ablehnung des EWR-Beitritts 1992, dem Ende des Bankgeheimnisses 2011 und dem Ende des stabilen Frankenkurses 2015. Doch seine Bedeutung, sowie die wirtschaftlichen, politischen und sozialen Konsequenzen davon werden ungleich grösser sein, weil dieses Ereignis auf eine neue Situation prallt: auf die zugespitzte Krise des Schweizer Kapitalismus.
Hunderttausende fragen sich: Wie konnte es so weit kommen? Wie ist es möglich, dass eine der weltgrössten Banken auf einen Schlag nicht mehr überlebensfähig ist? Das Missmanagement der Manager ist keine Erklärung. Die Ursache liegt im Kontext: In der organischen Krise des Kapitalismus und der sich verschärfenden Konkurrenz – auch im Bankensektor. Die Krise im Bankensektor muss im Kontext der langen Kurve der kapitalistischen Entwicklung seit den 70er-Jahren verstanden werden. Hier nahm die Konkurrenz speziell in den 80ern zu, begonnen mit den Deregulierungen im US-Bankensystem. Die Schweizer Banken reagieren darauf mit einer Flucht nach Vorne: Zahlreiche Banken fusionierten zu den zwei Grossbanken UBS und CS. Die CS stieg 1978 bei der Investmentbank First Boston ein und trat damit in den Konkurrenzkampf auf dem US-Markt.
Die materielle Basis für diese Offensive liegt in der speziellen Nische der Schweizer Banken: dem Bankgeheimnis in der Vermögensverwaltung. Diese staatlich geschützte Nische gab den Banken das Kapital für dieses Vorpreschen und erlaubte das Bestehen gegen die ganz grosse Konkurrenz durch die US Banken. Beide Schweizer Grossbanken gingen grosse Risiken ein. Die UBS bezahlte dies 2008 teuer. Sie verspekulierte sich im Sub-Prime-Geschäft und musste vom Staat gerettet werden. Die US-Konkurrenz (über den US-Staat) nutzte diesen Moment der Schwäche für eine Offensive gegen das Bankgeheimnis. 2011 musste die Schweiz die Niederlage eingestehen. Das widerspiegelte bereits die wahre Position des Schweizer Imperialismus im internationalen Kräfteverhältnis. Mit dem Ende des Bankgeheimnis brach die historische Grundlage für den Schweizer Finanzplatz weg!
Die CS-Führung agierte seither repräsentativ für die Schweizer Bourgeoisie. Sie will und kann die wahre Position der Schwäche – unter Gefahr des Unterganges – nicht akzeptieren. Die CS-Führung machte weiter wie bisher und drang noch weiter ins Investment Banking, sowie andere spekulative Geschäfte vor. Doch ihre Praxis hatte ihre materielle Basis mit dem Verlust des Bankgeheimnis bereits komplett verloren! Das kam nun, durch die Vertiefung der organischen Krise, «plötzlich» zum Vorschein, zuerst mit den zahlreichen Skandalen, schlussendlich mit dem Kollaps der historischen Grossbank. Im neuen Kontext glaubte niemand mehr an das Überleben dieser Bank. Dafür bezahlt die Arbeiterklasse heute die Zeche!
Während der rabiaten CS-Rettung stand die herrschende Klasse unter dem Druck des weltweiten Finanzkapitals, eine Bankenkrise um jeden Preis abzuwenden. Der Schweizer herrschenden Klasse ging es darum, den Schweizer Finanzplatz zu retten. Um das sicherzustellen, brach der Bundesrat so ziemlich alle geltenden Gesetze und versprach finanzielle Garantien, welche die Höhe der gesamten bestehenden Staatsschulden übertrafen. Das beweist in erster Linie die wahre Position des Finanzkapitals im Kapitalismus – als Nervenzentrum der gesamten Finanzflüsse. Die Banken haben die Macht. Die Rettung der CS war die Rettung der Macht und der Herrschaft der Banken über die gesamte Gesellschaft. Der Staat und der Bundesrat erwiesen sich erneut als ihre Instrumente.
Das dramatische Ende der CS illustriert die Sackgasse des Schweizer Kapitals. Eine direkte staatliche Rettung wie 2008 mit der UBS wäre politisch ein enormer Katalysator für den sozialen Unmut gewesen. Deshalb erklärt der Bundesrätin Keller-Sutter so laut wie möglich, dass es eine „business solution“ sei und keine Bankenrettung – auch wenn es genau das ist. Zweitens war die Zwangsfusion mit der UBS die einzige nationale Lösung, im Gegensatz zu einer Übernahme durch die Amerikaner (Blackrock) oder die Saudis. Die unabhängige Position des Schweizer Bankenplatzes konnte zumindest vorerst aufrechterhalten werden. Drittens wird damit ein weiteres Anti-Krisenmittel aufgebraucht: Die nächste Bankenkrise kommt bestimmt, die neue Mega-Bank wird mittendrin stehen. Dann gibt es keine zweite UBS für eine neue, sogenannte «business solution». Die Verstaatlichung auf kapitalistischer Grundlage ist dann die einzige Lösung und das bedeutet die Verstaatlichung der Verluste! Die neue UBS ist dreimal so gross wie die alte CS. Die Staatsschulden würden explodieren, was den ganzen Staat und die ganze Wirtschaft in die Krise hineinziehen würde. Die kapitalistische Lösung entblösst sich erneut als die Vorbereitung einer noch grösseren Krise.
Das Ende der CS ist ein weiterer Nagel im Sarg des Schweizer Bankenplatzes. Innerhalb eines Wochenendes haben der Bankenplatz, die hochgelobte Rechtssicherheit und der Wirtschaftsstandort Schweiz massiv an Ansehen und Stabilität eingebüsst. Der Zusammenbruch dieses zentralen Pfeilers der Schweizer Wirtschaft ist ein Ausdruck und Beschleuniger des allgemeinen Niedergangs des Schweizer Imperialismus. Dieser hat nicht mit dem CS-Kollaps begonnen, sondern zieht sich bereits länger hin. Neu ist, dass er immer weniger im Verborgenen bleibt. Seine Krise drückt sich heute am helllichten Tag aus. Sie beweist vor aller Augen: Die Schweiz ist kein Sonderfall, sondern ein Land in der Krise, das der tiefen, weltweiten Krise schutzlos ausgeliefert ist.
Die grundlegende Sackgasse ist nicht dieser oder jener Strategieentscheid der Kapitalisten. Grundlegend sind die fundamentale Umkehr der Tendenzen des Weltkapitalismus, die kontinuierliche Zunahme der Konkurrenz und der Spannungen auf dem Weltmarkt. Diese Tendenzen laufen den fundamentalen Pfeilern des Schweizer Kapitalismus direkt zuwider! Die Schweiz wird in der zunehmenden Konkurrenz immer mehr aufgerieben. Alle Faktoren, welche früher für Stabilität sorgten, kehren sich heute ins Gegenteil um und untergraben kontinuierlich das Fundament des Schweizer Imperialismus.
Die Stabilität nach den 90ern war das Produkt der starken Internationalisierung der Wertschöpfungsketten. Zuerst durch die Integration des Schweizer Kapitals in die EU. Die EU wurde zum grössten Handelspartner und absorbiert mehr als die Hälfte der Exporte. Nach dem Einbruch von 2008 gab es eine schnelle Stabilisierung, weil das Schweizer Kapital von den Konjunkturpaketen und danach vom Exportboom in Deutschland profitieren konnte. Die gleichzeitige Stagnation im EU-Markt wurde durch den forcierten Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen mit den USA und mit Asien/China kompensiert. Das Manövrieren in den Handelsbeziehungen erlaubt auch der Schweiz, die Krise zu «exportieren». Die Kompensation von stagnierenden Märkten durch Wachsende erlaubte die Exporte zu stabilisieren. Der Preis ist die ökonomische Abhängigkeit von diesen Blöcken. Knapp 80% der Exporte gehen in die drei Märkte EU, USA und China. Alle drei stehen im Zentrum der zunehmenden Blockbildung und des Handelskriegs. Die Strategie der Schweizer Bourgeoisie ging solange gut, wie es gesamthaft noch Wachstum und offene Handelsbeziehungen gab. Das Verschwinden beider Bedingungen durchzieht die Beziehungen zu allen drei wichtigsten Handelspartnern.
Die EU ist mit 55% der Exporte der mit Abstand wichtigste Handelspartner. Kurzfristig wird diese Beziehung von der tiefen Rezession, insbesondere in Deutschland (allein 17% der Exporte), geprägt sein. Doch die Probleme Deutschlands – und der EU – sind nicht kurzfristiger Natur. Beide stehen vor tiefen strukturellen Herausforderungen. Über die letzte Periode geschaut, importierte die Schweiz nach 2008 aus Deutschland die Stabilität. Nach 2022 wird sie die Krise importieren. Dazu kommt die Blockade in der Beziehung zur EU. Der Streit ums Rahmenabkommen ist unlösbar. Langfristig ist klar die EU am längeren Hebel. Erstens ist das Schweizer Kapital zu einem extremen Grad in den EUWirtschaftsraum integriert und deshalb abhängig. Zweitens ist die Abhängigkeit der Schweiz von der EU grösser als umgekehrt. Im Moment lässt die EU die Schweiz in Ruhe, weil sie zahlreiche dringendere Probleme hat. Sie machen eine einfache Rechnung: Im Moment würde eine Eskalation der EU mehr schaden als helfen. Morgen muss das nicht mehr stimmen. Die allgemeine Tendenz geht klar in Richtung mehr Konflikte und volles Ausnutzen ungleicher bilateraler Beziehungen. Die EU wird der Schweiz keine Geschenke machen. Sie kann schnell vielen Schweizer Wirtschaftsbereichen stark schaden. Entschiedenen Massnahmen ist die Schweizer herrschende Klasse hilflos ausgeliefert. Sichere Verbündete in der EU hat sie keine.
Die USA sind der zweitwichtigste Handelspartner und ein wachsender Absatzmarkt. Auch der US-Kapitalismus steht vor einem harten Einbruch. Vor allem ist er Haupttreiber des Protektionismus. Das zielt zuerst gegen China, aber auch gegen die EU. Die Schweiz ist dabei meist «nur» Kollateralschaden. Doch auch fürs Schweizer Kapital bedeuten die Handelshemmnisse oder der Aufbau von Werken in den USA zusätzliche Kosten. Der Frontalangriff aufs Bankgeheimnis bewies, dass die USA immer weniger Rücksicht auf Schweizer Extrawürste nehmen. In der Frage der Sanktionen gegen Russland wurde deutlich, dass die Schweiz dem Druck aus den USA gar nichts entgegenzusetzen hatte und bedingungslos eingeknickt ist.
China war in der letzten Periode eine wichtige Stütze der Schweizer Wirtschaft. Der Handel hat sich in 20 Jahren fast verfünffacht. Heute ist es der drittwichtigste Exportmarkt. Diese Entwicklung wird nicht im gleichen Ausmass weitergehen. Über China hängen die Damoklesschwerter, erstens des sich abkühlenden Wachstums. Zweitens nimmt der Druck aus den USA zu. Spräche die USA Sanktionen in Sektoren aus, in denen das Schweizer Kapital aktiv ist, wäre der Druck, diese Sanktionen zu übernehmen, enorm. Bei den Sanktionen gegen chinesische Microchip-Produzenten zeigte die USA keine Scham, Drittländer, welche die Maschinen lieferten, hart unter Druck zu setzen. Die betroffenen Niederlanden knickten sofort ein, niederländische Ingenieure wurden über Nacht abgezogen. Wie würden die Schweizer Kapitalisten reagieren? Bezüglich den Handelspartnern gibt es eine klare Hierarchie: Die Exporte in die USA machen das 3- Fache der Exporte nach China aus. Die Direktinvestitionen das 10-fache der Investitionen in China. Insgesamt ist die Rechnung einfach gemacht: Die Schweizer herrschende Klasse wird sich zunehmend den Interessen des US-Kapitals unterordnen müssen. Doch nicht alle Kapitalisten haben die gleiche Ausrichtung. Ein Rückzug aus dem chinesischen Markt würde nicht konfliktfrei passieren! Gewisse Kapitalfraktionen haben substantielle Investitionen in China. Diese würden sie nicht ohne Widerstand opfern. Das ist ein explosiver Konfliktherd innerhalb der herrschenden Klasse.
Das Schweizer Kapital ist auf Freihandel angewiesen. Ihre traditionelle internationale Position, die Neutralität, ist der politische Ausdruck dieser ökonomischen Ausrichtung. Historisch erlaubte diese Politik das Lavieren zwischen den Blöcken und den Handel mit allen. Doch es war eine Politik aus einer Zeit, in der es die Nischen noch gab und die verschiedenen Mächte gegenüber der Schweiz jeweils ein Auge zudrücken, weil die Profite stimmten. Diese objektive Situation ist verschwunden und damit die Grundlage dieser Politik. Das Schweizer Kapital ist umso mehr gezwungen, zu lavieren und die Konsequenzen hinauszuzögern. Doch das gleicht immer mehr einem Kampf gegen Windmühlen. Blockbildung und Protektionismus sind objektive Tendenzen, welche aus den inneren Widersprüchen des Kapitalismus im Niedergang erwachsen. Die Schweizer Bourgeoise kann sich diesen objektiven Entwicklungen unmöglich entziehen. Sie ist ihnen ausgeliefert!
Der Ausbruch des Krieges in der Ukraine bewies dies eindrücklich. Nach wenigen Tagen musste der Bundesrat auf Druck der USA und der EU einknicken. Seither hat er sich fest im Lager des westlichen Imperialismus positioniert. Dabei ist Russland ein verhältnismässig unwichtiger Handelspartner: Nummer 23. China ist Nummer Drei! Die gleichen Sanktionen gegenüber China würden die Schweizer Wirtschaft sofort in eine tiefe Krise stürzen.
Der Schweizer Imperialismus ist klein und durch die hohe Exportquote extrem verbunden mit der Weltwirtschaft. Deshalb ist es für das Schweizer Kapital unmöglich, sich den Tendenzen auf dem Weltmarkt zu entziehen. Im grössten, sich zuspitzenden Konflikt unserer Zeit – USA vs. China –, ist sie völlig ausgeliefert. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis das Schweizer Kapital unter Druck kommt, politisch und wirtschaftlich Position zu beziehen – mit den USA und dem Westen, gegen China. Das werden sie tun müssen, selbst gegen die eigenen wirtschaftlichen Interessen! Mit katastrophalen Konsequenzen.
Die Zukunft ist auch für die Schweiz gezeichnet von höherer Konkurrenz, Blockbildung, reduziertem Spielraum, wegbrechenden Märkten, sowie den spezifischen Problemen, welche diese Situation provoziert: Inflation, hohe Energiekosten, fragile Lieferketten. Deshalb gilt auch in der Schweiz die Perspektive einer Periode der schnellen Abfolge von Krisen, Einbrüchen und Schocks, von schwachen und künstlichen Erholungen und langfristiger Stagnation. Wegen ihrer relativen ökonomischen und politischen Schwäche kann die Schweizer herrschende Klasse nichts dagegen tun. In dieser Sackgasse bleibt den Kapitalisten nur ein Mittel, um die Konkurrenzfähigkeit wieder zu verbessern: Angriffe auf die Arbeiterklasse.
In der Vergangenheit basierte die Stabilität des Schweizer Regimes auf dem Nachkriegsaufschwung und den Extraprofiten aus dem Ausland. Der gesamte Kuchen wuchs, es gab also die Möglichkeit, mehr zu verteilen. Das war die materielle Grundlage für die Verbesserungen. Nur auf dieser Grundlage konnten die Sozialpartnerschaft und die Klassenkompromisse im Parlament die Lebensbedingungen verbessern. Darauf fusste die soziale Stabilität.
Dreissig Jahre Aufschwung haben einen bleibenden Eindruck im Bewusstsein hinterlassen. Das Bewusstsein ist eine sehr konservative Sache. Noch lange besteht Hoffnung auf eine Rückkehr zu den guten alten Zeiten. Doch diese Illusionen haben keine materielle Basis mehr. Die Bourgeoisie ist seit langem gezwungen, alle Errungenschaften langsam wieder zurückzunehmen. Die Speckschicht, welche in der langen Aufschwungsperiode angesetzt wurde, wird abgetragen. Das bildet die Grundlage dafür, dass alle Illusionen und konservativen Faktoren kontinuierlich abgetragen werden.
Die Errungenschaften der Nachkriegszeit müssen wir relativieren. Der Schweizer Sozialstaat wirkte nie als soziales Auffangnetz. Die letzten 30 Jahre waren von Sparmassnahmen und Privatisierungen in allen öffentlichen Diensten geprägt. Durch den Föderalismus waren die Kapitalisten nicht zu einzelnen grossen Konterreformen gezwungen. Deshalb kam es nie zu landesweiten Abwehrkämpfen, wie man sie z.B. aus Frankreich kennt. Die Bourgeoisie beherrscht virtuos die «Salamitaktik»: viele, kleine Kürzungen, zerstückelt nach Kantonen, nach hunderten einzelner Kassen und Versicherungen (Pensions- Renten-, IV-), dafür unablässig, jedes Jahr! Der Widerstand wurde minimiert. Das Wenige, was es in der Schweiz an Sozialstaat gab, wurde ausgehöhlt.
Gleichzeitig wurde eine Politik der Senkung von Gewinn-, Erbschafts- und Vermögenssteuern für Reiche forciert – bei gleichzeitiger Erhöhung der Kopfsteuern, Gebühren und der Mehrwertsteuer. Sprich: Die Mehrheit liefert dem Staat mehr ab und bekommt weniger zurück. Diese Gebühren frassen einen Grossteil der mickrigen Lohnerhöhungen der letzten Jahre weg – wo es solche gab. Eine Berechnung des Gewerkschaftsbundes beschreibt die Situation vieler Lohnabhängiger heute: «Ein Viertel aller Berufstätigen mit einer Lehre verdient weniger als 5’000 Franken im Monat (bei einer Vollzeitstelle). Darunter Bäcker, Verkäufer, aber auch Hochbauzeichner. Real sind die Löhne in dieser Gruppe zwischen 2016 und 2020 sogar gesunken. (…) Konkret heisst das, dass rund 500’000 Berufstätige einen Lohn von weniger als 4’500 Franken pro Monat haben (bei Vollzeit)». Ein Grossteil der Arbeiterklasse erlebte eine Stagnation oder sogar eine Senkung der Löhne.
Die am weitesten verbreitete Erfahrung dieser Veränderung drückt sich im Stress aus. Die CSS-Gesundheitsstudie 2022 stellt fest, dass die Schweizer den beruflichen Stress als ihre wichtigste Gesundheitsbelastung angeben. Mehr als ein Viertel der 36- bis 56-Jährigen gibt an, schon mal ein Burnout gehabt zu haben. Stress und Burnout sind eine Volkskrankheit, weil in den letzten Jahren in allen Sektoren die Arbeit intensiviert wurde.
Im Pflegesektor trifft das besonders zu. Der Pflegealltag ist seit Jahrzehnten gezeichnet von der Intensivierung der Arbeit durch Personalabbau, Sparmassnahmen und mehr Patienten. Das Resultat: Jeden Monat verlassen 300 Pflegende ihren Beruf. Wer nicht aussteigt, wird krank. Laut Unia war schon mehr als ein Drittel der Pflegenden über einen Monat lang wegen der Arbeit krankgeschrieben. Die Burnout-Rate und stressbedingte Krankheiten vergrössern den Personalmangel, machen die Schichtplanung noch unregelmässiger und verhindern regelmässige Freitage. Das erhöht den Stress und damit die Ausfälle. Der dritte Coronawinter (und erste grosse Grippewinter) brachte die Spitäler an den Rand des Kollapses. Zahlreiche Abteilungen mussten geschlossen und Patienten (insbesondere Kinder) in andere Kantone gebracht werden. Es herrscht ein enormer Mangel an Personal: 10’000 Fachkräfte werden gesucht. In den nächsten 12 Jahren werden 35’000 zusätzliche Stellen besetzt werden müssen. Der Kapitalismus wird trotz Ausbildungsoffensive, die erst 2024 einsetzt, völlig unfähig sein, diese Nachfrage zu decken. Dabei ist offensichtlich, wo der Hebel angesetzt werden müsste: bei den Arbeitsbedingungen. Doch das kostet. Und die Kapitalisten müssen die Kosten weiter senken. Deshalb gibt es für die Pflegenden keine Möglichkeit, diesem Teufelskreis zu entkommen – ausser sie beginnen zu kämpfen.
In anderen Sektoren ist die Situation nicht besser: in der Kinderbetreuung, dem Bildungssektor, der Sozialarbeit, etc. Der gesamte öffentliche Dienst wurde genauso zusammengespart, wie die Pflege und überall kennt man die gleichen Probleme: Kürzungen, Unterbesetzung, Einstellungsstopp und zunehmende Arbeit und Belastung. Auch die Konsequenzen sind die gleichen: ähnliche Burnout- und Turn-over-Raten. Bei den seltenen Streiks und an jeder Demo gegen Sparmassnahmen erklären die Angestellten immer das gleiche: Die neueste Verschlechterung hätte das Fass nur zum Überlaufen gebracht. Ausschlaggebend seien die unhaltbaren Bedingungen durch die kontinuierlichen Angriffe der vorherigen Zeit. Der gesamte öffentliche Dienst ist ein Pulverfass.
Im Privatsektor ist es nicht anders. Die Kapitalisten brauchen alle bekannten Tricks, um die Löhne zu drücken und die Ausbeutung zu erhöhen. Die Uhrenbarone senkten zum Beispiel nach der Frankenaufwertung von 2015 den Medianlohn von einem Jahr aufs andere um knapp 5%! Neben der weit verbreiteten Verwendung der Temporärarbeit nutzen die Kapitalisten in der letzten Periode im grossen Stil die Verfügbarkeit von Grenzgängern, um den Preis der Arbeitskraft zu drücken. In der Uhrenindustrie machen Grenzgänger über ein Drittel der Belegschaft aus. In Genf sind 70% der Pflegerinnen Grenzgängerinnen, im Schweizer Durchschnitt über ein Drittel.
Der Prozess der konstanten Senkung der Lebensbedingungen der Arbeiterklasse widerspiegelt sich im Vertrauensverlust gegenüber den gutschweizerischen Traditionen und den bürgerlichen Institutionen. Diese Traditionen, wie die «Kompromisskultur» oder die «Konkordanz» im Bundesrat sind konservative Faktoren. Sie existieren, um die nackten Klassenwidersprüche zu überdecken. Auch die Schweizer Demokratie ist nur die stabilste Form der Diktatur des Kapitals. Weil die «Demokratie» der Mehrheit nichts zu bieten hat, sinkt das Vertrauen. Ein Gradmesser ist die abnehmende Wahlbeteiligung seit 100 Jahren. Seit 1975 hat sie nie mehr die 50%-Marke erreicht. Auf Kantonsebene nimmt die Wahlbeteiligung seit den 80ern ab, während gleichzeitig die Beteiligung bei Abstimmungen zunimmt. Von einer Depolitisierung zu reden ist leeres Politologengeschwätz. Die Leute sind auf der Suche nach Lösungen. Doch die Parteien bieten keine! Bei gewissen Abstimmungen nimmt die Beteiligung sogar sprunghaft zu: Bei der Pflege-Initiative (und dem Pandemiegesetz) war sie so hoch wie seit der Abstimmung zum EWR-Beitritt 1992 nicht mehr.
Das Wichtigste für uns sind nicht die Zahlen, sondern die zugrunde liegende Tendenz. In der vergangenen Periode haben sich die Lebensbedingungen der Arbeiterklasse merklich verschlechtert, auch wenn dieser Prozess nicht auf den ersten Blick erkennbar war. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen wurden über eine längere Periode von allen Seiten angegriffen. Viele gehen bereits heute auf dem Zahnfleisch. Die kapitalistische Krisenpolitik hat die sozialen Reserven kontinuierlich abgetragen. Alle Illusionen werden durch tägliche Erfahrung zermalmt. Der wahre Zustand der ökonomischen Sackgasse kommt langsam im Bewusstsein der Massen an. Gegenüber den bürgerlichen Institutionen herrschen eine grosse Gleichgültigkeit und sinkendes Vertrauen. Die Faktoren, welche das Bewusstsein zurückgehalten haben, wurden abgetragen.
In Momenten des Schocks und der Zuspitzung des Klassenkampfes kommt der wahre Zustand an die Oberfläche. Das Bewusstsein macht einen Sprung. Es reagiert zwar verzögert auf die Veränderungen. Doch die grossen, geschichtlichen Ereignisse – wie Pandemie, Krise und Inflation – sind das Einzige, was das Bewusstsein auf Massenebene radikal verändert. Die Arbeiterklasse lernt nicht aus Büchern, sondern aus den Erfahrungen ihres Lebens. Solche historischen Ereignisse multiplizieren sich heute. Wieso? Wie bei den tektonischen Plattenverschiebungen treten an der Bruchlinie besonders viele Erdbeben auf. Heute befinden wir uns auf einer historischen Bruchlinie. Die Weltgeschehnisse beschleunigen sich und prasseln auf das Bewusstsein ein. Dieses holt sprunghaft mit der wahren Situation auf!
2019 hatten wir die Krise vorausgesagt. Doch die Mehrheit der Leute bekam nur die offizielle Erklärung zu hören: Die Pandemie sei eine absolute Ausnahme. Die Krise geschehe nur wegen dem Virus. Danach stünden die Wilden Zwanziger an. Nachholeffekte würden einen Megaaufschwung provozieren. Doch der kam nie. Die Pandemie wurde abgelöst durch Inflation, Krieg, Energiekrise, eine neue Rezession, und auch in der Schweiz von einer «cost of living crisis» (Lebenshaltungskosten-Krise). Zuerst glaubten viele noch an eine Rückkehr zur alten Normalität. Heute realisieren sie immer mehr: Die Ausnahmesituation selbst wird zur neuen Normalität. Willkommen im Leben in der Permakrise!
Ein Zustand der Verunsicherung – Was kommt als nächstes? – und der Ernüchterung macht sich breit: Die grossen ideologischen Versprechen der Vergangenheit entsprechen schlicht nicht der Lebensrealität der arbeitenden Menschen. Die kontinuierliche Krise schafft die Grundlage für ein massenhaftes Infragestellen der alten Gewissheiten, Ideen und Illusionen. Dieser Prozess hat bereits begonnen und wird über Jahre weitergehen.
Die Zeit der Pandemie gab uns eine Vorschau auf zukünftige Veränderungen. Die Krise schuf eine Ausnahmesituation. Sie gab uns für eine kurze Periode einen Einblick in die Prozesse unter der Oberfläche. Die Veränderung des Bewusstseins der letzten Jahre wurde sichtbar. Das Vertrauen der Massen in die Institutionen sackte ab: Von Juni auf Oktober 2020 brach der Anteil an Personen mit grossem und sehr grossem Vertrauen in den Bundesrat schlagartig ein: von 66% auf 37%! Unter den Berufsschülern – dem grössten Teil der Jugend – geben 20% an, dass ihr Vertrauen in den Bundesrat während der Pandemie stark abgenommen hat (in die Medien 20%, Politiker 16%). Solche Sprünge im Bewusstsein werden in Zukunft vermehrt vorkommen.
Die Erfahrungen aus den letzten drei Jahren und die objektive Krisenentwicklung der nächsten Jahre und Jahrzehnte drängen der Arbeiterklasse eine Reihe wichtiger Erkenntnisse auf: dass die Schweiz überhaupt kein Sonderfall ist, dass die Stabilität nicht ewig währt, dass der Staat das Instrument der Verteidigung der Profitinteressen ist, und dass der Kampf niemandem abdelegiert werden kann. Es gibt keinen Erlöser. Die Arbeiterklasse kann sich nur selbst befreien.
Die Inflation ist diesbezüglich nochmals ein neuer Wendepunkt. Diverse einzelne Angriffe sind an sich nichts Neues. Das Neue an der Schweizer Lebenshaltungskosten-Krise ist ihr Zusammenfallen und ihr Aufprallen auf die Situation aus der letzten Phase. So ist das Ganze mehr als die Summe seiner Teile. Das schnelle Aufkommen der Inflation und der Lebenshaltungskosten-Krise führten zu einer neuen Qualität in der objektiven Situation. Das beschleunigt den Prozess der Veränderungen des Bewusstseins.
2022 lag die Inflation offiziell bei 2.8%. Bei den Gütern des täglichen Bedarfs macht sie (je nach Berechnungsart) bis zu 8% aus. Für die Arbeiterklasse ist die Inflation hoch! Auch der starke Schweizerfranken hilft da nichts. Für viele ist es das erste Mal in ihrem Leben, dass alles teurer wird. Die Lohnerhöhungen kompensieren das bei weitem nicht! Nominal sind sie im Durchschnitt um ca. 1% gestiegen. Das bedeutet fast 2% Reallohnsenkung für alle nach offiziellen Zahlen! Das ist das zweite Jahr mit Reallohnverlust in Folge – und die grösste kollektive Reallohnsenkung seit 40 Jahren!
Dazu kommen die gestiegenen Energiepreise. Im Schnitt sind sie um 27% gestiegen. Für den Durchschnittshaushalt bedeutet das 260 Franken Mehrausgaben pro Jahr. Dagegen gibt es keinerlei öffentliche Abfederung: keine Preisdeckelung, keine Hilfszahlungen. Ausser für die Energieunternehmen: Der Axpo wird eine Notkredit von 4 Milliarden Franken ausgebreitet – ohne wirkliche politische Bedingungen.
Die Krankenkassenprämien steigen rekordmässig an: um 6.6% im Durchschnitt. Arbeiterfamilien geben 12-15% des Lohnes für Prämien aus. Auch mit der höchsten Franchise bezahlen sie über 1’000 Franken pro Monat. Das ist ein riesiger finanzieller Druck. Jede zwanzigste Person lebt in einem Haushalt mit einem Zahlungsrückstand auf die Prämien. Und am Schluss kriegt man überhaupt nichts dafür: der Grossteil wählt hohe Franchisen – bezahlt also jeden Arztbesuch nochmals selbst. Die vom Parlament beschlossene Erhöhung der Prämienverbilligung reicht bei weitem nicht, um die Prämienerhöhung abzufedern.
Für die Kapitalisten ist klar: die Renten müssen gekürzt werden. Im vergangenen Jahr waren die Frauen dran. Ihr Rentenalter wurde auf 65 Jahre angehoben. Doch das war nur die Vorbereitung für den nächsten Angriff: Rentenalter 67 für alle. Dazu wurde die asoziale Mehrwertsteuer angehoben. Und die nächste BVG-Reform steht an: Die Reduktion des Umwandlungssatzes (Teil des Guthabens, das jährlich ausbezahlt wird) von 6.8% auf 6.0% ist bereits festgesetzt. Das bedeutet eine Rentensenkung in der zweiten Säule.
Die Mehrheit der Arbeiterklasse ist Mieter. Auch hier wird’s teurer. 2022 sind die Mieten im Durchschnitt bereits um 2.8% gestiegen. In Graubünden um 6%, in Zürich um 6,2%! Die Immobilienbesitzer wälzen Zinserhöhungen und Inflation auf die Mieter ab. Geht man von einer erneuten Erhöhung des Referenzzinses im laufenden Jahr aus, dürfen die Mieten legal bis Ende Jahr erneut um 8% erhöht werden!
Diese Aufzählung macht das Ausmass dieser Lebenshaltungskosten-Krise deutlich. Es beweist, dass wir in neuer Periode angekommen sind. Die Zunahme der Energiekosten allein wird bis Ende Winter 80’000 Personen in die Armut abrutschen lassen – 1% der Schweizer Bevölkerung. Caritas vermeldet 33% mehr Einkäufe in ihren subventionierten Läden. Die Armut breitet sich auch in der Schweiz aus.
Auf Jahrzehnte der Salamitaktik-Angriffe folgt die Lebenshaltungskosten-Krise. Ein breitflächiger, materieller Angriff auf die gesamte Arbeiterklasse kommt obendrauf. Die letzten Monate ergeben einen Angriff, der in diesem Ausmass der Schweizer Arbeiterklasse seit vier Jahrzehnten nicht mehr bekannt war. In einer Umfrage vom Mai ergab, dass sich in der Schweiz 89% der Bevölkerung Sorgen über die Inflation machen. Die Klassenfrage stellt sich auf sehr direkte Art und Weise: Die Preise gehen rauf, die Löhne nicht. Der ganzen Arbeiterklasse wird im Alltag hart vor Augen geführt, dass sie weniger Geld zum Leben hat. Und dass die mickrigen Lohnerhöhungen ein Hohn sind. Es wird offensichtlich, wer profitiert und wer verliert. Im Generationenbarometer für 2022 steht der Graben zwischen Arm und Reich an oberster Stelle der Sorgen der Bevölkerung. 70% geben an, er sei der wichtigste gesellschaftliche Bruch. Die Klassenfrage fräst sich objektiv ihren Weg. Sie kommt zunehmend offen auf den Tisch.
Das ist das Resultat einer Mischung aus der Erfahrung des Wegbrechens der angestammten Sicherheit und Stabilität in der Schweiz, den jahrzehntelangen Verschlechterungen, des Durchlebens der Krise des Systems, und jetzt des neuen, massiven Knotenpunktes. Das ist kein kurzfristiger Knick, sondern Ausdruck der objektiven Sackgasse des Kapitalismus. Es gibt kein Zurück. Wir stehen erst am Anfang der neuen Periode. Die Verschärfung und die Angriffe werden weiter zunehmen. Das spitzt auch die soziale Stimmung zu. Der weitere Verlauf der Krise wird den Einfluss aufs Bewusstsein noch verstärken. Die Leute sehen und fühlen schon heute, dass die Welt nicht mehr in Ordnung ist, dass die Gesellschaft verrückt geworden ist. Doch sie können es nicht verstehen oder erklären.
Dass dieser Prozess und der weit verbreitete Unmut heute keinen klaren politischen Ausdruck finden, ist kein Argument dafür, dass sie nicht existieren! Wir müssen uns davor hüten, die Temperatur des Bewusstseins nur an der Anzahl Streiks und der Grösse der Demos abzumessen. Die Bürgerlichen sind unfähig, die wirklichen Prozesse in der Gesellschaft zu verstehen, weil sie hoffnungslose Empiriker sind. Sie berufen sich ständig auf die «Fakten», sind aber unfähig, die Prozesse unter der Oberfläche zu erkennen. In der gegenwärtigen Situation kann eine vernünftige Erkenntnis nur durch die Methode des dialektischen Denkens erreicht werden: durch die Methode des Marxismus. Diese verschafft uns einen kolossalen Vorteil, der uns von allen anderen Tendenzen in der Gesellschaft abhebt. In der Tat ist sie das Einzige, was uns das Recht gibt, als eine separate und eigenständige Tendenz in der Arbeiterbewegung zu existieren.
Die objektiven Bedingungen der kapitalistischen Krise machen es für die Arbeiterklasse zu einer absoluten Notwendigkeit, gegen das Kapital in den Kampf zu treten, um ihren Lebensstandard und ihre Zukunft zu verteidigen. Das Potenzial dafür ist riesig. Unter den Hammerschlägen der Ereignisse beginnt die Arbeiterklasse, ihre alten Illusionen abzulegen und das System immer klarer als das zu sehen, was es ist: ein System der Ausbeuter, beherrscht von einer kleinen Elite, die uns gegen die Wand fährt. Alle objektiven Bedingungen sind da für eine massive Bewegung der Arbeiterklasse und eine rapide Entwicklung des Klassenbewusstseins. Doch dieser Prozess wird gehemmt durch die völlige Abwesenheit einer revolutionären Partei der Arbeiterklasse.
Das Bewusstsein der Massen der Arbeiterklasse entwickelt sich – wie erklärt – auf der Grundlage objektiver Entwicklungen, angetrieben durch die Erfahrungen grosser Ereignisse, Schocks und scharfen Wendungen. Eine Partei kann kein Bewusstsein aus dem Nichts erschaffen. Sie kann diesen objektiven Prozess durch ihre Positionen und ihre Ideen nur entweder beschleunigen oder bremsen. Sie beschleunigt ihn, wenn sie den Klassengegensatz klar herausstreicht, das Bewusstsein der Arbeiterklasse in ihre eigene Kraft stärkt und sie damit in ihrem aktiven Kampf ermutigt. Sie bremst ihn, wenn sie die Klassenlinien verhüllt und die Arbeiterklasse damit verwirrt, spaltet, ihr illusorisches Gefühl der Ohnmacht stärkt und in die Passivität drängt.
An solchen Hammerschlägen hat es in den letzten drei Jahren definitiv nicht gemangelt. Doch die existierenden traditionellen Massenorganisationen der Arbeiterklasse – die SP und die Gewerkschaften – haben in jeder einzelnen relevanten Frage eine Position vertreten, die die Entwicklung des Klassenbewusstseins gebremst hat. Statt das Abstreifen der Illusionen zu fördern, verhindert der Reformismus der Führungen dieser Organisationen systematisch einen klaren und bewussten Ausdruck der Klasseninteressen.
Im Frühjahr 2020 schlug die Pandemie wie ein Blitz ein. Die Arbeiterklasse wurde völlig aus ihrer Alltagsroutine gerissen. Viele haben sich zum ersten Mal grundlegende Fragen über die Gesellschaft gestellt. Während einer kurzen Zeit lag der Klassencharakter der Regierung so offen da wie nie seit dem Zweiten Weltkrieg: Die bürgerliche Pandemiepolitik hat systematisch die Profite über die Gesundheit gestellt. Eine Arbeiterorganisation hätte genau das aufzeigen müssen: Das ist eine Regierung der Kapitalisten. Sie kümmert sich nicht um die Gesundheit und das Leben der Arbeiterklasse. Die Arbeiterklasse selbst muss die Kontrolle über die Pandemie-Bekämpfung übernehmen. Stattdessen übernahm SP Bundesrat Berset die volle Verantwortung für die Krisenpolitik des Kapitals, inklusive aller Lügen und lebensverachtenden Massnahmen. Während der Bundesrat jeden Wunsch der Patrons umsetze und die Arbeiter als schutzloses Kanonenfutter den Kapitalisten auslieferte, stellte sich die SP im Namen der Solidarität voll hinter die Regierung. Das wäre eine grosse Möglichkeit gewesen, die Fragen und den Unmut der Arbeiterklasse auf den grundlegend menschenfeindlichen Charakter der Kapitalherrschaft zu lenken. Stattdessen verschleierten sie den Klassengegensatz und schürten die Illusion einer Einheit von Arbeiter und Kapitalisten.
Die Klimakrise bedroht heute die ganze Menschheit. Egal was die Zyniker behaupten: das ist klar im Bewusstsein der Arbeiterklasse angekommen und es gibt einen Willen, das Problem zu lösen. Mit dem CO2-Gesetz, über das im Juni 2021 abgestimmt wurde, wollten die kapitalistischen Politiker die Arbeiterklasse durch höhere Gebühren für (ohnehin lächerlich unzureichende) Klimamassnahmen zahlen lassen. Eine Arbeiterorganisation hätte genau das aufzeigen müssen: Sie wollen uns bezahlen lassen, während diejenigen, die tatsächlich für den Klimawandel verantwortlich sind, fein raus sind: Die Kapitalisten und ihr profitgetriebenes System. Stattdessen haben SP, Grüne (und die Mehrheit des Klimastreiks) die Vorlage unterstützt und alle, die dagegen waren, als «Komplizen der Erdöllobby» gebrandmarkt. Das wäre eine Möglichkeit gewesen, der Arbeiterklasse aufzuzeigen, dass die Kapitalisten und ihre Regierung kein Interesse am Kampf gegen Klimawandel haben und dass wir die Enteignung und die demokratische Arbeiterkontrolle der Banken und Konzerne brauchen, um einen grossflächigen ökologischen Umbau der Wirtschaft zu finanzieren. So hingegen wurde die Arbeiterklasse gespalten und ein Teil von ihr direkt in die demagogischen Hände der SVP getrieben.
Die russische Invasion in die Ukraine im Februar 2022 war ein weiterer heftiger Schock, der das Bewusstsein der gesamten Arbeiterklasse in der Schweiz aufgewirbelt hat. Es gab eine offene Suche nach Antworten und eine enorme Ablehnung des Krieges. Eine Arbeiterorganisation hätte aufzeigen müssen: Das ist ein imperialistischer Krieg. Beide Seiten kümmern sich nicht um das Schicksal der lohnabhängigen Bevölkerung, beide Seiten sind reaktionär. Dieser Krieg ist ein Produkt der globalen Krise des Kapitalismus. Für Frieden und gegen diesen Krieg kämpfen heisst, hier in der Schweiz gegen unsere eigene Kapitalistenklasse zu kämpfen. Ihr Handeln hält dieses System aufrecht, das die Bedingungen für solche Kriege schafft. Stattdessen schrie die SP am lautesten für die Übernahme der EU-Sanktionen gegen Russland und stellte sich damit direkt ins Lager des NATO-Imperialismus. Das wäre eine grosse Möglichkeit gewesen, die gesunde Ablehnung des Krieges in die korrekte Bahn des Klassenkampfes zu leiten. So hingegen wurde der Klassengegensatz in der Schweiz verschleiert, die Arbeiterklasse entlang von Nationalitäten gespalten und die Arbeiterklasse hoffnungslos verwirrt.
Im September 2022 kam ein harter Angriff auf die Arbeiterklasse zur Volksabstimmung: die AHV-Reform zur Erhöhung des Frauenrentenalters und der Mehrwertsteuer. Eine Arbeiterorganisation hätte genau das aufzeigen müssen: Das ist ein Angriff auf die gesamte Arbeiterklasse, um die Krise der Kapitalisten auf die Arbeiterklasse abzuladen. Stattdessen gab die SP bereits im Vorfeld die Schuld den unsolidarischen Männern und spiegelte mit ihrer Identitätspolitik die bürgerliche Spaltung von Mann versus Frau. Hätten die SP und die Gewerkschaften die Vorlage als Angriff auf die gesamte Klasse bekämpft, wäre gegen die sexistische Spaltung der Arbeiterklasse vorgegangen und das gemeinsame Klassenbewusstsein gestärkt worden. So hingegen wurde die Klasse entlang der Geschlechter gespalten und die Konterreform siegte.
All diese Ereignisse sind Hammerschläge, die das Bewusstsein aufwirbeln. Sie stellen die Arbeiterklasse vor die Frage, warum diese Dinge passieren und wie man gewisse Probleme löst. In all diesen Fragen – Pandemie, Klimawandel, Krieg, Angriffe auf den Lebensstandard und Frauenunterdrückung – gibt es in der Arbeiterklasse einen gesunden Kern der Ablehnung dieser Übel des Kapitalismus und damit ein grosses Potenzial. Trifft die Arbeiterklasse während solcher Ereignisse auf Ideen, die ihren Bedürfnissen und ihrer objektiven Position entsprechen, kann dem Klassenbewusstsein aktiv zu grossen Sprüngen verholfen werden. An jedem dieser Punkte haben wir Marxisten eine klare Klassenposition vertreten und eine Alternative zur bürgerlichen Krisenpolitik aufgezeigt.
Doch die Tatsache, dass wir noch eine kleine Propagandaorganisation mit sehr beschränkter Reichweite sind, bedeutet für die Massen der Arbeiterklasse die komplette Abwesenheit eines unabhängigen Klassenstandpunktes. Die einzigen Ideen, die die Arbeiterklasse antrifft, sind die offen bürgerlichen Ideen der Kapitalisten und die kleinbürgerlichen Ideen der «linken» Organisationen. Der Reformismus hat keine kohärenten Antworten auf die Fragen, die von der objektiven Situation aufgeworfen werden. Deshalb wird bei jeder dieser öffentlichen Diskussionen der Klärungsprozess von neuem verlangsamt. Die Klassenlinien werden immer wieder überdeckt. Als Resultat ist die Bewusstseinsentwicklung gezwungen, halb-unterirdisch, teils apolitisch und teils extrem verwirrt zu verlaufen.
Auf diesen ganzen Unmut und Verunsicherung kommt jetzt noch der sprunghafte Anstieg der Lebenskosten. Der Arbeiterklasse wird offen vor Augen geführt: Wir müssen für die Krise zahlen. Die Klassenfrage wird schlagartig in den Vordergrund gerückt. Das zeigt sich anhand der wichtigsten politischen Fragen von parteiunabhängigen Stimmbürgern. Bei ihnen stehen «Gesundheitsfragen und Krankenkassenprämien (34%) zuoberst, gefolgt von der Umwelt (33%), der Teuerung (32%), der Altersvorsorge (31%)». Diese gesamte Situation wäre der idealste Boden für das Aufblühen einer wirklichen Arbeiterpartei: Der Kapitalismus ist in der Sackgasse; der Klassengegensatz bricht immer offener auf; die Arbeiterklasse verliert ihr Vertrauen in die Herrschenden. Jede Partei, die sich in dieser Situation konsequent auf den Standpunkt der Arbeiterklasse und gegen die kapitalistische Elite stellt, würde rasant wachsen und neue Schichten ins aktive politische Leben ziehen.
Doch in haargenau dieser Situation – in der grössten Krise des Kapitalismus! – ist die historische Partei der Schweizer Arbeiterklasse, die SP, weiter im jahrzehntelangen Niedergang. Bei den eidgenössischen Wahlen im Herbst gilt für sie ein Halten der Wählerstärke bereits als Erfolg. Das ist die Strafe für die Abkehr von einer Klassenpolitik und die Integration in den bürgerlichen Staat. Die Krise des Kapitalismus ist die Krise des Reformismus. Der Reformismus hat der Arbeiterklasse in der Krise nichts zu bieten: Weil er nicht bereit ist, mit den Kapitalisten zu brechen und sich auf die Mobilisierung der Arbeiterklasse zu stützen, kann er keine Alternative zur bürgerlichen Krisenpolitik aufzeigen. Als Antwort auf die Lebenshaltungskosten-Krise stellen die reformistischen Führungen der Gewerkschaften Lohnforderungen, die unter der tatsächlichen Inflation liegen. Die SP lanciert zwei Volksinitiativen und fordert eine staatliche Einmalzahlung von 260 Franken für jeden. Das ist nicht nur völlig unzureichend. Es bremst vor allem die Möglichkeit eines wirklichen Kampfes gegen alle Angriffe aus, in dem die Arbeiterklasse durch Appelle an den bürgerlichen Staat in die Passivität gedrängt wird.
Eine Arbeiterpartei bräuchte heute ein klares Programm gegen die gesamte Krise des Kapitalismus. Sie würde zuallererst klarmachen: Wir Arbeiter bezahlen eure Krise des Kapitalismus nicht! Wir brauchen den vereinten Kampf gegen jede Verschlechterung, wir brauchen massive Investitionen in kostenlose Gesundheitsversorgung, Wohnraum, Bildung, Kinderbetreuung, Umwelt etc. Doch statt – wie die Reformisten – der entscheidenden Frage einfach auszuweichen: wer bezahlt für all das? würde sie klar aufzeigen: Die Arbeiterklasse hat durch ihre tagtägliche Arbeit einen unglaublichen gesellschaftlichen Reichtum geschaffen, mit dem sich locker all unsere grundlegendsten Bedürfnisse befriedigen lassen würden. Doch dieser Reichtum befindet sich im Eigentum der Kapitalisten und dient heute nur der weiteren privaten Anhäufung ihrer Profite. Es braucht die Enteignung der Banken und Konzerne, um diese Ausgaben finanzieren zu können.
Eine solche konsequente Klassenposition wäre heute nicht nur objektiv notwendig für die Arbeiterklasse. Sie würde an der Stimmung immer grösserer Schichten der Massen anknüpfen. Eine Massenpartei mit einem solchen Programm wäre eine riesige Inspiration für Hunderttausende Arbeiter und Jugendliche in der Schweiz. Sie würde ganze Schichten der Arbeiterklasse begeistern und in den aktiven Kampf ziehen. Weil sie eine Perspektive aufzeigt, für die es sich lohnt, zu kämpfen!
Die Abwesenheit einer marxistischen Führung und der kleinbürgerliche oder offen liberale Kurs der Führung der existierenden Massenorganisationen bedeuten, dass die Arbeiterklasse in ihrem Klärungsprozess behindert und gelähmt wird. Der allgemeine, objektive Prozess drückt jedoch unaufhaltsam in eine klare Richtung: Verlust des Vertrauens in die herrschende Klasse und die Erkenntnis, dass der Kampf der einzige Weg ist. Die reformistischen Massenorganisationen können diesen Prozess nicht aufhalten. Sie sind nur eine relative Bremse. Wie Trotzki sagte: «die Gesetze der Geschichte sind mächtiger als die bürokratischen Apparate.» Weil ein politischer Ausdruck des Unmutes durch die bestehenden Organisationen blockiert wird, staut er sich unter der Oberfläche an. Findet sich kein Ausdruck, wird er irgendwann in eine soziale Explosion umschlagen. Wir sind in die Periode der Vorbereitung einer solchen Explosion eingetreten.
Weil die Bourgeoisie gezwungen ist, breitere Angriffe zu fahren, wird der Kampfplatz erweitert. Früher wurden jeweils nur einzelne Segmente der Arbeiterklasse angegriffen und die Kämpfe blieben immer isoliert. Heute sehen breite Schichten, wie ihr Lebensstandard zerrinnt wie Sand. Leicht entzündliches Material sammelt sich zur Genüge an. Irgendwann springt der Funke. Darin müssen wir absolutes Vertrauen haben. Die Schweiz ist kein Sonderfall. Wie in den anderen Ländern werden auch hier Arbeitskämpfe kommen. Die Angriffe, insbesondere die Inflation, betreffen alle. Die Radikalisierung beschränkt sich nicht auf die prekärsten Schichten. Sie betrifft alle, auch Besserbezahlte. Das zeigten die Piloten und die Bauarbeiter. Wir können nicht voraussehen, wann diese Kämpfe kommen.
Sicher ist, dass sie kommen werden.
In der VPOD-Zeitung der Romandie endet jeder zweite Artikel mit der Schlussfolgerung, dass es so nicht weiterginge, dass Verbesserungen dringend notwendig sind und dass sonst bald Kampfmassnahmen ergriffen werden. Diese Erkenntnis breitet sich aus. Die ersten, welche in den Kampf gezogen sind, waren die Angestellten des öffentlichen Verkehrs in Genf (TPG). Sie bewiesen: Nur wer kämpft kann gewinnen! Einen Tag lang blockierten sie das gesamte Netz. An der abendlichen Vollversammlung setzten kämpferische Busfahrer spontan die Verlängerung des Streiks um einen zweiten Tag durch. Darauf war die Geschäftsleitung der TPG nicht vorbereitet gewesen. Sie lenkte sofort ein und erfüllte bereits am Mittag die Forderung nach 1.2% Lohnindexierung. Das ist ein Teilsieg, weil es immer noch unter der Inflation liegt. Errungen wurde er durch die mutige Verlängerung des Streiks. Die Situation bei der TPG ist kein Einzelfall. Die gleichen Bedingungen und der gleiche Unmut existieren überall. Doch nicht überall führen sie zum Kampf. Die Belegschaft der TPG hat Erfahrung mit Streiks. Und die kämpferischen Busfahrer setzten den zweiten Streiktag gegen ihre Gewerkschaft durch! Heute ist dieses Selbstvertrauen bei den meisten Arbeitern noch nicht gross genug. Das wird sich ändern.
Die Rolle der Führung, also der Gewerkschaften, wäre es, dieses Selbstvertrauen aufzubauen. Sie müssen die Arbeiter auf die Kämpfe vorbereiten. Dazu muss aufgezeigt werden, welche Schritte zur Streikvorbereitung und zur erfolgreichen Durchführung notwendig sind. Dazu gehört, die Gegner und ihre Interessen klar zu benennen. Illusorische Appelle an Exekutivpolitiker oder den Streikenden «Verhandlungsbereitschaft» vorzugaukeln, wo nur Feindseligkeit existiert, lehren die Streikenden nicht, ihre Kraft einzuschätzen. Gewerkschaftssekretäre, welche den heutigen Kontext nicht verstehen und kein Vertrauen in die Arbeiterklasse haben, lassen die Streikenden jedes Mal ins Messer laufen. Sekretäre, welche den Streikenden Selbstvertrauen geben, ermöglichen Streiks, wo sonst nur stille Verzweiflung existiert.
Das zeigte sich erneut im Waadtland. Der Frust über den tiefen Teuerungsausgleich – und die Arbeitsbedingungen generell – führte zur grössten Bewegung des Waadtländer Öffentlichen Dienstes seit 15 Jahren. Dass der Frust zum Streik führte, dafür war die offensive Herangehensweise der lokalen VPOD-Sektion entscheidend. Es ist kein Zufall, dass der gleiche Gewerkschaftssekretär wie beim CHUV-Streik vor zwei Jahren eine wichtige Rolle spielte. Das beweist: Die Führung kann einen entscheidenden Unterschied machen! Mit der Eskalation des Streiks treten neue Sektoren in den Kampf. Viele von ihnen haben noch nie gestreikt. An den Demos bilden sie die kämpferischsten Blocks.
Die Erfahrungen aus den kommenden Streiks und Kämpfen sind eine wichtige Etappe im Bewusstseinsprozess der Arbeiterklasse. Ökonomische Kämpfe werden klar als Klasse geführt. Die Erfahrungen werden als Katalysator für die politischen Schlussfolgerungen dienen. Die ersten Risse des Vertrauens in den Status Quo werden sich ausbreiten und dieses zusammenbrechen lassen. In den Kämpfen wird ein starker Druck von unten auf die Gewerkschaften entstehen. Diese Organisationen werden durchgeschüttelt und sich in diesem Prozess verändern. Der Kampf der Arbeiterklasse wird früher oder später einen politischen Ausdruck brauchen. Es ist unmöglich, die Probleme der Arbeiterklasse auf der Betriebsebene zu lösen. Die Krise ist zu tief.
Der Zusammenbruch der Stabilität und erste grosse Eskalationen kamen überall schneller als erwartet: in Grossbritannien, den USA, etc. Niemand hatte das so schnell erwartet. Zusätzlich ist die Schweiz umringt von Explosivität: Deutschland, Frankreich, Italien und Österreich sind alles politische Pulverfässer und mit instabilen Regierungen. Eine Eskalation in diesen Ländern hat das Potential, den politischen Prozess in der Schweiz erheblich zu beschleunigen. Die Schweizer Arbeiterklasse und insbesondere die Jugend beobachten die Kämpfe in Frankreich und Deutschland sehr aufmerksam. Die massive Bewegung gegen die Rentenreform in Frankreich ist ein erstes Beispiel, und viele weitere werden folgen. Ähnliche Kämpfe werden unweigerlich auch in die Schweiz kommen, und die bewussteren Arbeiter werden von der weiter fortgeschrittenen Situation und den Lehren profitieren, die die Massen und der linke Flügel der Arbeiterführungen bereits gezogen haben: Die Sackgasse des Reformismus, der Gewerkschaftsführungen und der linken Parteien zeigt der Arbeiterklasse immer mehr die Notwendigkeit, das System als Ganzes abzulehnen.
Die herrschende Klasse versucht so weiterzuregieren wie bisher. Sie haben weder die Erfahrung noch die Werkzeuge für die neue Situation. Es existiert kein starker Bundesstaat, keine starke Exekutive, keine verlässliche bürgerliche Partei und keine erprobten, krisensicheren Politiker. Die Situation verspricht grosse Schocks, frontale Zusammenstösse und eine Zuspitzung des Klassenkampfes.
Dass die Regierung ein 250 Milliarden schweres Bankenrettungspaket schnürt, während sie gleichzeitig das Frauenrentenalter erhöht, zum Angriff auf die Renten ansetzt und einen regelrechten Abnutzungskrieg gegen die Pflegenden führt, resultiert unweigerlich in einer Entblössung der Klassennatur des Bundesrates. Ihre objektive Rolle in der Verwaltung der Gesamtinteressen des Kapitals wird entlarvt. Sein Bild als Vertreter des Allgemeininteresses verliert an Glaubwürdigkeit. Und zwar genau zu der Zeit, in der die herrschende Klasse eine härtere Gangart einschlagen muss. Ihre politischen Vertreter müssen härtere Angriffe durchsetzen und auch bei heftigem Widerstand weniger Konzessionen
machen. Doch genau das beschleunigt die Entblössung der objektiven Klassenlinien in der Gesellschaft. Die Schweiz ist ökonomisch keine Insel. Und sie ist auch politisch kein Sonderfall. Der allgemeine Vertrauensverlust, nicht nur in die Regierung, sondern ins gesamte System, macht schnelle Sprünge. Die kommenden Kämpfe werden härter. Nicht nur durch die härteren Angriffe, auch weil die Arbeiterklasse härter antwortet – weil sie beginnt, den Klassenkampf bewusst aus der eigenen Klassenposition zu sehen.
Wir stehen erst ganz am Anfang dieses Prozesses. Entscheidend ist, erstens, sich im Klaren zu sein, dass er begonnen hat. Und zweitens, dass wir die Richtung des Prozesses klar sehen. Sie ist weltweit die gleiche. Die Wut und die Radikalisierung nehmen zu. Überall werden das Potential und die Kampfkraft ausgebremst und blockiert, insbesondere durch das Fehlen einer revolutionären Partei. Das ist jedoch keine absolute Bremse: im Untergrund wird die Spannung grösser und staut sich an. Sie wird explodieren, wenn niemand es erwartet.
Die Jugend ist die Speerspitze der Revolution. Das zeigt sich heute weltweit. Ob im Iran, in Myanmar, Peru oder den USA: In jeder Massenbewegung kämpfen die Jüngsten an vorderster Front und riskieren ihr Leben. Was hebt sie von den älteren Schichten der Arbeiterklasse ab? Wie bei allen ist ihr Alltag bestimmt von einem System, welches über ihren Köpfen völlig zusammenbricht. Doch was sie vom Rest unterscheidet, ist, dass sie nur diese verrückte Welt kennen – nichts anderes. Sie haben nie einen Aufschwung erlebt. Sie kennen die Periode nicht, in welcher es jeder Generation stetig besser ging. Deshalb haben sie kaum Illusionen in den Kapitalismus. Ihre Lebensperspektive besteht aus 50 Jahren endlosem Hamsterrad. Täglich acht Stunden hirnlose, anstrengende Betätigung, um den mickrigen Lohn der Krankenkasse und dem Steueramt in den Rachen zu werfen. Wer Kinder hat, darf den gesamten Lohn für deren Betreuung ausgeben. Das Leben der Jugend ist eine einzige Permakrise.
Auf Social Media können sie die Zunahme von Krieg, Klimakatastrophen, Armut und Gewalt ohne Filter mitverfolgen. Doch im Alltag, in Schule und Betrieb, geht das gleiche Programm weiter, als gäbe es diese erschütternden Krisen nicht. Die vorherrschenden Erklärungen und Rechtfertigungen vom Staat, den Medien und den Chefs widersprechen komplett ihren täglichen Erfahrungen. Die Jugend empfindet das Leben im Kapitalismus als einengend, übergriffig und diskriminierend.
Dieser Perspektiven- und Illusionsverlust hat zwei Seiten. Weil die Jugend nicht in einem politischen Vakuum existiert – und heute keine von den Ideen der Herrschenden unabhängige Theorie besitzt – sind sie dem bürgerlichen Pessimismus alternativlos ausgesetzt. Die weit verbreitetsten Einstellungen sind Fatalismus und «Doomerism». Wut staut sich zwar an. Doch ohne klaren politischen Ausdruck wird sie überschattet von einem dunklen Nebel, der sich in den Gemütern einer ganzen Generation breitmacht: Ein beklemmendes Gefühl der allgemeinen Ohnmacht. Ein Drittel der 18- bis 30.-Jährigen gibt «fehlende Perspektiven» als gesundheitsbelastenden Faktor an. Nur «Essverhalten» und «Beruflicher Stress» erreicht in dieser Altersgruppe einen höheren Wert. Die «fehlenden Perspektiven» führen dazu, dass die Schweizer Jugend eine Epidemie an Depressionen und psychischen Krankheiten erlebt. 2021 mussten junge Frauen erstmals öfter wegen psychischer Störungen hospitalisiert werden, als wegen Verletzungen! Bei den 10- bis 14- Jährigen betraf dies eins von hundert Mädchen. Sozialismus oder Barbarei heisst in der Jugend Kampf oder Verzweiflung. Die Frage ist nicht mehr Kapitalismus oder Sozialismus, sondern Sozialismus oder Doomerism.
Die andere Seite dieser Situation ist das enorme Potential für revolutionäre Ideen. Eine wachsende Schicht ist auf der Suche nach Ideen, welche die ausweglose Situation wirklich erklären können und einen Ausweg bieten. Sie versteht, dass man dafür die allgemeinen Zusammenhänge verstehen muss. Deshalb interessiert sie sich für die grossen, gesamthaften Antworten. Auch die Jugend hat einen qualitativen Sprung erlebt. 2019 glaubte im Klimastreik nur eine kleine Minderheit, dass der Kapitalismus für das Klimaproblem verantwortlich war. Heute ist «Antikapitalismus» eine weit verbreitete Einstellung in der Jugend. Das «Aufbrauchen der Reserven der Nachkriegszeit» bedeutet hier, dass Begriffe wie Revolution und Kommunismus nicht mehr abschrecken, sondern in breiten Schichten auf Interesse stossen. Eine gewisse Schicht ist nicht mehr nur unbewusst auf der Suche nach Marxismus, sondern ganz bewusst. In Spanien entsteht unter dem Namen «Movimento Socialista» eine Massenbewegung in der Jugend, welche ganz bewusst mit den herrschenden kapitalistischen Institutionen und insbesondere der Klassenkollaboration der Reformisten gebrochen hat. Hinter ihrem Frontbanner mit der Aufschrift «Die Rache der Arbeiterklasse ist die sozialistische Revolution» marschierten mehrmals 7000 Jugendliche im Baskenland. Der Prozess der Ablösung von alten Ideen kennt in der Schweiz noch nicht das gleiche Ausmass. Doch die Richtung der Radikalisierung ist die gleiche. Und bei einer kleinen Schicht erreicht sie auch hier diese Tiefe. Es ist unsere Pflicht, genau diese Elemente vom Marxismus zu überzeugen.
Trotzki beobachtete wiederholt den gleichen Prozess in der Jugend. 1930 beschrieb er, im Bezug zu Spanien: «Wenn die Bourgeoisie bewusst und beharrlich sich weigert, die Lösung der Aufgaben zu übernehmen, die sich aus der Krise der bürgerlichen Gesellschaft ergeben, und wenn sich das Proletariat noch nicht darauf vorbereitet erweist, diese Aufgabe zu übernehmen, dann tritt nicht selten die Studentenschaft auf den Schauplatz. Während der Entwicklung der ersten russischen Revolution (1905) beobachteten wir diese Erscheinung mehr als einmal, und wir haben stets ihre symptomatische Bedeutung herausgestellt. Die revolutionäre oder halb revolutionäre Aktivität der Studentenschaft bedeutet, dass die bürgerliche Gesellschaft eine sehr tiefe Krise durchmacht.» Das gleiche gilt auch heute: Die tiefe Jugendradikalisierung ist ein Vorzeichen für die grossen Bewusstseinssprünge in der ganzen Arbeiterklasse. Um das Potential in der Situation auszunutzen, braucht es eine revolutionäre Partei!
Die Offenheit der Jugend gegenüber revolutionären Ideen steht im krassen Gegensatz zum «marxistischen Angebot»! Weil die Kräfte des Marxismus aus verschiedenen Gründen zurückgeworfen wurden, befinden sie sich in einer kleinen Minderheit. Das sagt nichts über die Macht dieser Ideen aus. Nichts ist so mächtig, wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist. Marx und Engels waren ihr Leben lang in einer Minderheit. Das gleiche galt für Lenin, Trotzki und Ted Grant. Und für die Marxisten in der Schweiz. Die IMT hat den genuinen Marxismus über Jahrzehnte verteidigt, aufbewahrt und durch ihre Texte und Perspektiven aufbereitet, damit er für die heutige Epoche existiert. Heute wendet sich das Blatt. Die Radikalisierung in der Jugend betrifft breite Schichten. Vor uns eröffnet sich die reale Chance, den Marxismus aus der Isolation zu befreien. Wenn sich diese Schicht die marxistischen Ideen aneignet und ihrem Wut und ihrer Verzweiflung einen wissenschaftlich-sozialistischen Ausdruck gibt, bereitet sie dem Marxismus den Weg zu breiteren Schichten der Arbeiterklasse.
Es ist das Verständnis des Marxismus, das uns heute zu den einzigen optimistischen Menschen macht. Unsere Methode verhilft uns, erstens, zu einem wirklichen Verständnis der Sackgasse, in der Bourgeoisie steckt. Und zweitens zum Wissen, dass die Arbeiterklasse die Fähigkeit hat, den Kapitalismus zu stürzen und den Sozialismus aufzubauen. Was ihr fehlt, ist das volle Verständnis der eigenen Macht und Aufgabe.
Die erste politische Schlacht, um den Marxismus zu einer Massenkraft zu machen, muss in der Jugend geführt werden. Die aktuelle Linke ist unfähig, das enorme Potential der Jugend zu realisieren, weil ihre Ideen, im Gegensatz zum Marxismus, keinen Ausweg bieten. In diesen Organisationen existieren alle erdenklichen verwirrten Ideen: Wachstumskritik, Anarchismus, Maoismus, alle Schattierungen der Identitätspolitik, Symbolpolitik und diverse andere kleinbürgerliche Ideen. Um die Jugend mit einer schlagkräftigen politischen Waffe auszustatten, führen wir in dieser Schicht einen philosophischen Kampf gegen alle klassenfremden Ideen.
Dabei hilft uns, dass die geschichtlichen Ereignisse alle Organisationen, Gruppierungen und politischen Strömungen austesten. Der Ausbruch des Ukrainekrieges war so ein Test. Alle linken Strömungen, ausser der marxistischen, sind an dieser Herausforderung gescheitert und entblössten ihre Schwächen genau dann, wenn die Arbeiterklasse und die Jugend sich auf sie hätten verlassen können müssen. Das gesamte linke Spektrum, inklusive aller linksradikalen Grüppchen, knickten unter dem Druck der herrschenden Klasse ein – welche wiederum vor dem US-Imperialismus eingeknickt war. Nur wer eine eigene philosophische Methode – unabhängig von bürgerlichen und kleinbürgerlichen Weltanschauungen – hat, kann diesem Druck widerstehen. Nur die marxistische Tendenz verteidigte konsequent einen internationalistischen, proletarischen Standpunkt. Die besten Jugendlichen beobachten die Positionen der verschiedenen Organisationen und Bewegungen. Sie ziehen Schlussfolgerungen aus den Grenzen und Widersprüchen der Politik ihrer Führungen. Diese Erfahrung führt einen wachsenden Teil zu korrekten Schlussfolgerungen und damit näher zum Marxismus.
Die Radikalisierung in der Jugend ist der Vorbote eines Prozesses der breiten Radikalisierung der Arbeiterklasse. In den kommenden Kämpfen wird eine neue, unverbrauchte Schicht der Arbeiterklasse in den Kampf ziehen. Darauf müssen wir uns vorbereiten. Wir müssen die fortgeschrittenste Schicht der Jugend auf die Arbeiterklasse orientieren und eine Organisation aufbauen, welche sich die Verankerung in der Klasse erkämpft, um in die kommenden Kämpfe einzugreifen.
Die Zeit hat begonnen, in der die Marxisten nicht mehr gegen den Strom schwimmen. Unsere dringendste Aufgabe ist der Aufbau einer marxistischen Kaderorganisation. Doch wir müssen einen Sinn für Proportionen bewahren. Wir können nicht die Massenpartei ersetzen, die heute nötig wäre. Wir dürfen unsere bescheidenen Kräfte nicht überschätzen! Unsere volle Konzentration gilt der Schicht in der Jugend, welche heute schnell mutige Schlussfolgerungen zieht. Um mit ihnen in Kontakt zu bleiben und sie zu überzeugen, müssen wir bereits schnell genug schwimmen. Das bedeutet: Um in dieser Schicht für die Vorherrschaft des Marxismus kämpfen zu können, müssen wir uns die marxistische Theorie wirklich aneignen und uns zu marxistischen Kadern ausbilden. Wir haben das Ziel, bis zum Ausbruch der ersten grossen Welle an Klassenkämpfen eine Organisation von 500 Revolutionären aufgebaut zu haben. Hilf uns mit in diesem Rennen gegen die Zeit!
Kongress der Funke, verabschiedet im April 2023
Kunst & Kultur — von Sylvain Bertrand, Genf — 14. 10. 2024
Arbeiterbewegung — von Martin Kohler, Bern — 10. 10. 2024
Nah-Ost — von Revolutionäre Kommunistische Internationale (RKI) — 09. 10. 2024