Vor einigen Wochen haben ich und einige Genossen die Diskussionsveranstaltung «Rap und Kapitalismus» besucht. Die Positionen auf der Bühne hätten klarer nicht sein können. Staiger (Ex-Labelchef) und der Soziologe Seeliger, die die Diskussion dominierten, waren sich einig. Rap vermittelt dir all die netten kapitalistischen Tugenden, die Regeln des Dschungels – Egoismus und Gier; Streben nach Geld und Immobilien auf der einen Seite, Rücksichtslosigkeit gegenüber Menschen auf der anderen Seite. Rap ist ein Transmissionsriemen für die Ideologie der Herrschenden in die Köpfe der Jungen.

Das mag ein Körnchen Wahrheit haben. Der Rap, geboren nach der Krise der 70er, ist ein Kind des senilen Zerfalls des Kapitalismus. Er kannte gewissermassen nie etwas anderes als diese verrottete Gesellschaftsordnung. Die tiefe Krise dieser Gesellschaft vergiftet alles, auch Kunst und Kultur.

Aber ist das alles?

Die besten Beiträge kamen nicht vom Podium, sondern waren Fragen aus dem Publikum. Ein «junger Kurde» (so stellt er sich vor) brachte das Unbehagen mit der haarsträubenden Einseitigkeit der Diskussion zum Ausdruck, als er sinngemäss sagte: «Der Rapper Haftbefehl hat mir als Jugendlicher aus einer armen Migrantenfamilie aus der Seele gesprochen wie niemand sonst.»

Nehmen wir das Beispiel Haftbefehl, einer der berühmtesten Rapper Deutschlands. Die Frage ist einfach: Ist es wirklich die Glorifizierung der Gesetze des Dschungels, wodurch der Rapper Haftbefehl diesem und zehntausenden anderen Jugendlichen aus der Seele gesprochen hat?

Ich habe in den letzten Wochen einige Alben von Haftbefehl wieder durchgehört. Die Sache ist keineswegs so klar, wie die «Experten» dieser Kunstform sagen. Ich hörte nicht bloss die plumpe Verherrlichung der bestehenden Verhältnisse, sondern viel eher das Gegenteil. Alles, was sich unter der Oberfläche des schönen demokratischen Kapitalismus versteckt, wird hier ungeschönt auf den Tisch geknallt – Depression, Drogenkonsum, Gewalt, Verfall:

«Steine im Maul, Akho, Crack im Mund, mehr als Zähne
Verlor’ne Seel’n, versorg‘ die Szene, Frankfurt ist Cehennem [Hölle auf arabisch]»

(1999, Pt. 5)

Ich hörte auch keineswegs nur unternehmerische Herzlosigkeit, sondern immer wieder die Stimme der Armen und Unterdrückten, ihre Wut, ihre Perspektivlosigkeit, ihr Leid und ihre Depressionen:

«Die Strasse mein Lehrer, die Schule für ’n Arsch
Dass Papa ging, war sehr hart, ich verfluche diesen Tag
Meine Jugend zerbrach wie ein Glas, ich war damals vierzehn Jahre alt
Die Strasse nahm mich in den Arm und ließ nie wieder los
, warum bin ich nur geboren? Sag mal, yallah»

Und es gibt Stellen («Depressionen im Ghetto», «Parallelen»), die sehr klar machen, wo die wahren Linien in der Gesellschaft verlaufen, gegen wen sich unsere Wut richten sollte, wer für unser Elend verantwortlich ist und von wem wir sicher keine Hilfe erwarten können:

«Drogenkonsum steigt, während der Mindestlohn sinkt, Kinder am Koksen
wohin mit der Jugend? Sie hat den Faden verloren (…)

Choya, verkehrte Welt, Islam-Hass, RTL
Menschliche Werte zähl’n nicht, sondern nur ob er glänzt, der Mercedes Benz (…)

Kanaken in Deutschland, ich bin nur Sohn meines Vaters
Von Grund auf enttäuscht, fick Vater Staat, ich schiess‘ auf den Adler (…)

Depression’n im Ghetto
Vergiss SOS, es kommt eh keine Rettung»

Heisst das, dass jedes Lied oder Album von Haftbefehl oder jeder Rapsong im Radio gute Kunst darstellt, oder den Kapitalismus kritisiert? Nein. Aber Trotzki hat einmal folgendes bemerkt:

«Ganz allgemein gesagt, drückt der Mensch in der Kunst sein Verlangen nach einem harmonischen und erfüllten Leben aus, d.h. den kostbaren Gütern, deren ihn die Klassengesellschaft beraubt. Deswegen enthält jedes echte Kunstwerk immer einen Protest gegen die Wirklichkeit, sei er nun bewusst oder unbewusst, aktiv oder passiv, optimistisch oder pessimistisch.»

Kunst und Revolution

Dieses Element der Rebellion und des Protestes gegen die bestehenden Verhältnisse gibt es in vielen Liedern von Haftbefehl und bei vielen berühmten Rapkünstlern. In diesem Sinn sind es echte Kunstwerke, und sicher nicht plumpe kapitalistische Propaganda. «Experten», die das nicht hören, sind, wenn nicht auf beiden, so zumindest auf einem Ohr taub.