Tommy Vercetti ist bekannt für Rap mit Tiefgang und anti-kapitalistischen Inhalten. Wir haben mit ihm über sein neues Album gesprochen und kommentieren – sehr selektiv –, was einem Marxisten beim Hören von «No 3 Nächt bis Morn» durch den Kopf geht.
Mit «No 3 Nächt bis Morn» bringt der Berner Rapper Tommy Vercetti sein zweites Solo-Album heraus. Ganze neun Jahre nach dem bahnbrechenden «Seiltänzer», war wieder ein hochpolitisches Werk zu erwarten. Man wird nicht enttäuscht werden. Es teilt Merkmale seines Vorgängers, ist ebenso ganzheitlich durchdacht und lässt sich ebensowenig auf eine Ansammlung einzelner Lieder reduzieren. Aber es ist musikalisch und textlich experimenteller und komplexer. Pablo Nouvelle, der das gesamte Album produziert hat, sorgt für verblüffend vielfältige Kompositionen und Wechsel auch innerhalb der einzelnen Lieder.
Passives Zuhören ist hier nicht. Das Album zwingt zum angestrengten Mitdenken, um auch nur einen Teil der harten lyrischen Nüsse knacken zu können. Kein seichter Propagandarap, keine Handlungsanleitung für Revolutionäre. Kunstvoll verpackt in eine geballte Ladung Metaphern geht es aber tief in den Kern der kapitalistischen Verhältnisse.
Das Motiv, das sich vom Cover aus durchs ganze Album hindurchzieht, ist Geld. Marx deckte auf, dass Geld eine soziale Beziehung zwischen Menschen ist. Geld ist der Anspruch auf einen Teil des gesellschaftlichen Reichtums, der in einem Ausbeutungsverhältnis durch die ArbeiterInnen geschaffen wird. Ausgehend von der Ware als Keimzelle der kapitalistischen Gesellschaft enthüllt Marx in «Das Kapital» das Geheimnis des Geldes und entfaltet das «innere Band» der Produktions- und Herrschaftsverhältnisse im Kapitalismus.
Tommy beweist, dass man diese Entfaltung – inklusive dem berüchtigten «Fetischcharakter» von Ware und Geld – auch mit einem scheinbar harmlosen Güetzi auf dem Spielplatz der eigenen Tochter beginnen kann. Das Tauschverhältnis ist Ausbeutungsverhältnis, die Kinder auf dem «freiä Spiuplatz versklavet vo Güetzi». Die lauthals im Sandkasten verkündete Freiheit und Gleichheit bleibt nur formell, sind doch die Kinder, vom Hunger getrieben, gezwungen ein Vertragsverhältnis mit dem Güetzi-Besitzer einzugehen. Jener hat dann auch noch seinen «grossen Freund», den Staat, im Rücken, der die anderen Kinder bei Konflikten schlagen darf.
Dass Geld als soziale Beziehung zu verstehen ist, die das Ausbeutungsverhältnis in sich selbst enthält, wird in einem anderen Lied bereits im Titel auf den Punkt gebracht: «Money is the reason you don’t have any». «Franke, Franke, du muessch wandere», beginnt der Liedtext. Geld muss immer im Fluss sein, investiert und verwertet werden. Nur so wird Geld zu «Kapital», erklärte Marx. Es fliesst jedoch, so rappt Tommy, im Gegensatz zu Wasser nur nach oben. Der aufdringliche Synthesizer während der Strophe ist nicht schön, will auch gar nicht harmonisch sein. Er sticht wie ein Stachel ins Fleisch, denn hier geht’s um den nackten Klassenkonflikt. Diejenigen, die den ganzen Reichtum erschaffen, sehen nur einen Bruchteil davon: «wir nennen es Diebstahl, sie labern von Rendite» und verspielen unsere Renten im Casino des Kapitalismus. Drehen wir also den Spiess um und zwingen wir die Kapitalisten zu russischem Roulette mit einem voll geladenen Revolver. Auf diese wohltuende Portion Klassenhass angesprochen, meint Tommy: «Es ist richtig, dass das eine Art Emotion ist. Aber die muss auch bewusst sein und stark gemacht werden. Wohin richten wir unsere Wut, unseren Zorn? Wer ist dafür verantwortlich? Das ist keine politische Handlungsanweisung. Aber diesen Zorn muss man nähren, er ist auch ein Handlungsansporn. Solche Gewaltbilder sind auch ein Bewusstmachen der Gewalt, die man erleidet.»
Dennoch werden der Klassenkampf von oben und die Verinnerlichung der Herrschaftsverhältnisse durch die Unterdrückten klar stärker betont als der Widerstand von unten. Das erstaunt, denn im Intro des Albums kündigt der Rapper an, Kunst machen zu wollen, die «Hoffnung gibt und vorwärts schaut». Dass dieser Widerspruch zwischen der Ankündigung und der Umsetzung Fragen aufwirft, ist er sich bewusst. Doch meint er verschmitzt, dass es gar nicht so schlecht sei, wenn die HörerInnen aktiv nach den Elementen der Hoffnung suchen müssen.
Fündig wird man sicher. Etwa wenn ein Ausserirdischer bei seinem Besuch auf dem blauen Planeten feststellt, dass diese «Wilden» in ihrem Alltag und ihrer Kultur eigentlich Kommunisten sind: Sie leben gemeinschaftlich miteinander und verrechnen sich im Normalfall ihre gegenseitigen Hilfestellungen auch nicht. Und in der Kultur zeigt sich der Traum einer freien Welt der Nächstenliebe und Gleichheit – sie steht nur im Widerspruch zur realen Herrschaft des Geldes. Die Darstellung erinnert an einen Brief des jungen Marx an Ruge, es ginge nicht darum, irgendwelche neuen Wahrheiten und Prinzipien zu erfinden, weil «die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewusstsein besitzen muss, um sie wirklich zu besitzen.»
Auf die Parallele hingewiesen reagiert der Rapper entzückt, hatte seine Inspiration jedoch aus anderen Quellen gezogen. Das ist egal, wir finden uns in unserer Übereinstimmung mit Marx, dass das Zukünftige der kommunistischen Gesellschaft – das ersehnte «Morn» – als Potenzial bereits im heute Bestehenden vorhanden ist. Gerade das ist auch die Grundlage für seine Hoffnung: «Es ist sehr viel Potenzial da, man muss nichts erfinden».
Ohnehin will er das Album nicht als pessimistisch missverstanden haben, «recht düster, ja, aber nicht pessimistisch». Als Beispiel führt er gleich selbst ein Lied an, das zweifellos ein Highlight des Albums ist. Bildhaft wie das gesamte Werk, aber hier doch unverblümt, erzählt «Vorem Gsicht» aus der Ich-Perspektive die Geschichte eines Arbeiters, dessen Arbeitsbedingungen ihn in die Konfrontation mit seinem Chef und schliesslich dem gesamten Staatsapparat, der Presse, sogar den Gewerkschaften und der SP treibt. Sie alle haben das gleiche Gesicht. Sie mahnen, den Widerstand zu unterlassen und verteidigen das Privateigentum: «ei Hand wäscht di anger, und niämer häbt mini», lautet das traurige Fazit des Arbeiters. «Da geht es darum zu sagen: Der Staat ist ein genuin kapitalistischer Staat. Das ist kein Pessimismus, sondern einfach eine Feststellung. Das muss man erkennen, wenn man handeln will. Zu denken, wir leben ja in einer tollen Demokratie wäre nicht ‘Hoffnung’, sondern schlicht naiv.»
Düster ist auch die Nacht, bevor der Morgen anbricht. Das ist paradox, stimmt Tommy Vercetti aber hoffnungsvoll: «Das spürt man im Moment auch. Je krisenhafter es wird, desto mehr Veränderungspotenzial ist da, desto mehr Mobilisierung ist da. Die aktuellen Bewegungen finden ja vor allem statt, wegen dem desolaten Zustand der Welt.»
Deutlich spürbar ist die Sehnsucht nach einer kommenden Revolution kurz vor Ende des Albums im Lied «2008». «Das System ist am leichtesten zu verändern, wenn es in einer Krise steckt», kommentiert er. Die Krise «2008 war eine verpasste Chance, dadurch aber auch eine zukünftige Chance. Wir lernen aus dem, was vorbei ist und bereiten uns aufs nächste 2008 vor». Diese Kriseninterpretation würde wohl noch längere Diskussionen notwendig machen. Wie dem auch sei, wir bereiten uns vor, um auch schon in den aktuellen Bewegungen sinnvoll intervenieren zu können. Und nebenbei hören wir nochmals «No 3 Nächt bis Morn» und versuchen weitere Nüsse zu knacken.
Martin Kohler
Juso Stadt-Bern
Foto: Janosch Abel
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