Aus der Funke-Sonderausgabe zum Jahr 1968: Inmitten der Revolution von Mai 68 entfaltete das Kino eine neue Macht und verabschiedete sich vom Zweck der reinen Unterhaltung. Was machte das «militante» Kino aus? Wie wurde es zu einer revolutionären Waffe?
Das Phänomen vom Mai 1968 kam nicht von ungefähr. Der Nachkriegsboom neigte sich dem Ende zu. Während dieser Periode war die kapitalistische Produktionsweise in alle Aspekte des Lebens im Westen eingedrungen. Gesellschaftliche, persönliche, künstlerische, emotionale und wissenschaftliche Beziehungen wurden alle durch Hierarchie und den ökonomischen Utilitarismus definiert, der jeder Form von gesellschaftlichem Austausch einen monetären Wert gab. Unter diesen Umständen suchte der Film – seit seiner Erfindung eine der am meisten kapitalistisch missbrauchten Kunstformen – eine neue Rolle in der Welt.
Das Kino vom Mai 68 fand in der politischen Praxis eine neue Bedeutung und eine neue Existenzberechtigung. Seit den 1950er Jahren begann der französische Film, die Wände der Filmstudios niederzureissen. Nach der Befreiung Frankreichs Ende des Zweiten Weltkriegs entstand die Nouvelle Vague – eine Stilrichtung, welche die Realität und den gesellschaftlichen Fortschritt aufzeigen will. Diese Bewegung wurde von Filmkritikern wie Eric Rohmer, François Truffaut und Jean-Luc Godard angeführt. Diese jungen Intellektuellen beobachteten und kritisierten den wachsenden Bruch zwischen der Realität und deren Darstellung auf der Leinwand. Ihr Film zeugt von einer bestimmten Epoche, die inmitten der politischen, sozialen und kulturellen Umbrüche des Frankreichs der Nachkriegszeit eine neue Identität sucht.
Aus dieser Suche entsteht ein kämpferisches Kino, welches sein Dasein als passiver Zeuge überwinden will und versucht, zum Handeln überzugehen. Die Revolte der ganzen Gesellschaft wird ohne Kunstgriffe und ästhetische Regeln aufgezeichnet, um die Wahrheit der Ereignisse unverhüllt auf den Bildschirmen und Leinwänden zu zeigen. Dieses neue Kino verlässt sich nicht auf angestammte filmische Traditionen. Ihr Film wird in der Praxis geschaffen. Wie die Nouvelle Vague wurde es aus Notwendigkeit geboren. Filmemacher, Gewerkschafter, Techniker, kommunistische Intellektuelle – alle haben ihren Teil zur Entstehung dieser neuen Art von Kino, dem Cinéma Militant, beigetragen.
Neudefinition des Schaffensprozesses
Bisher diente politisches Kino als Propagandainstrument. Was aber das neue kämpferische Kino aus-zeichnet, ist, dass die Kamera nicht auf die politischen AnführerInnen oder hohe Beamte gerichtet ist, sondern auf Arbeiter und Arbeiterinnen, die Studierenden, Frauen und MigrantInnen. Die Filme fangen die Geschichten des unsichtbaren Teils der Gesellschaft ein. Sie erlaubten diesen Personen, nicht nur als Filmsujet zu dienen, sondern direkt an der Entstehung der Filme mitzuwirken. Der Schaffensprozess beschäftigt sich bereits mit den gleichen Fragen wie im filmischen Endprodukt porträtiert werden. Sie hinterfragen die gesellschaftliche Hierarchie, die Unterdrückung der ArbeiterInnen, die Unantastbarkeit der KapitalistInnen, ob in der Fabrik oder im öffentlichen Raum. Durch militantes Kino werden Forderungen geäußert, welche den Kämpfen eine neue Dimension geben.
Dieser neue Ansatz des Filmemachens stellt die Rolle der verschiedenen Berufe der Filmindustrie in Frage – deren eigene Arbeitsteilung. Ziel war es nicht mehr bloss, politische Filme zu schaffen, sondern Filme politisch zu erschaffen. Die kämpferischen FilmemacherInnen und TechnikerInnen pflegten den Kontakt zu politisch linken Kreisen. Viele von ihnen verfügten über eine gewisse marxistische Bildung, die sie dazu veranlasste, ihre Schaffensprozesse und Ziele in Frage zu stellen. Ein Großteil des Materials, das bei den Streiks, Generalversammlungen und Demonstrationen von 1968 gefilmt wurde, wurde von den kämpfenden ArbeiterInnen selbst eingesammelt. RegisseurInnen und TechnikerInnen arbeiteten daher ganz anders, denn im Zentrum dieser Filme stand nicht mehr die individuelle Anerkennung, sondern die politische Botschaft des Films selber. In den Bewegungen im Frühjahr 1968 wurden mehrere hundert anonyme agitatorische Kurzfilme gezeigt.
Anonym und kollektiv
«A bientôt, j’espère» («Bis bald, hoffentlich») des Filmemachers Chris Marker markiert den Anfang dieses Genres. Im März 1967 wurde Marker zu einem Streik in der Rhodiaceta-Fabrik in Besançon eingeladen, um während der Fabrikbesetzung seine Filme zu zeigen. Marker nutzte die Besuche, um mit den Regisseuren Mario Marret und Bruno Muel einen Film über den Kampf zu drehen. Zum ersten Mal die Streikenden im Zentrum eines Films. Nicht nur als Arbeitskräfte. Zeugnisse über ihre sozialen und beruflichen Bedingungen zeichnen den Film aus. Die Arbeiter teilen ihre Gedanken aus über Kultur, Religion, Gewerkschaften und ihre Beweggründe, weiter zu kämpfen. Man hört einem Ehepaar zu, das Marker von der schweren Erschöpfung ihres täglichen Lebens erzählen lässt. Die Forderungen beschränken sich nicht nur auf Lohnerhöhungen; es werden auch bessere Lebensbedingungen und der Zugang zu «Kultur» gefordert.
Die Reaktionen auf die Ausstrahlung des Films im April 1968 waren kontrovers. Die Arbeiter der Rhodiaceta kritisierten die Idealisierung des Streiks durch Markers Schnitt. In seiner romantisierten Darstellung der Ereignisse gehe die mühselige, alltägliche Gewerkschaftsarbeit verloren. Die Diskussion mit den Regisseuren führte zum Schluss, dass echtes proletarisches Kino nur das Werk der Proletarier selbst sein könne. Dies markierte den Wandel von einem der ArbeiterInnenklasse verpflichteten Kino zu einem militanten ArbeiterInnen-Kino.
Inspiriert von diesem Film gingen mehrere KünstlerInnen, TechnikerInnen und FilmemacherInne nach Besançon, um die Ereignisse von 1968 zu verfolgen. Andere gingen nach Nanterre, um den Streik im Citroën-Werk einzufangen, oder nach Sochaux-Montbéliard, wo die Arbeiter im Peugeot-Werk der Polizeirepression ausgeliefert waren. Doch die Revolten fanden nicht nur in den Fabriken statt. In «Droit à la parole» des Kollektivs ARC (Atelier de Recherche Cinématographique) steht die Sorbonne-Universität im Mittelpunkt. Die Fakultät war von den StudentInnen besetzt. Doch sie wurde zum Forum für Diskussionen mit ArbeiterInnen über die gemeinsamen Anliegen. Es entstanden mehrere Film-Kollektive. Sie vertraten unterschiedliche politische Ausrichtungen, aber den gleichen revolutionären Geist.
Heute, wie schon 1968, wird das militante Kino dem Dokumentarfilm untergeordnet. Das Genre hat nicht mehr die Stärke, die es früher hatte. Doch heute erlauben es neue Technologien fast jedem, in Fabriken, Universitäten und MigrantInnencamps, bei Demonstrationen und anderen Kämpfen die Wahrheit über das Leben der Unterdrückten festzuhalten. Die neuen Ge-nerationen von FilmemacherInnen und AktivistInnen darf das Erbe des Kinos vom Mai 1968 nicht vergessen. Im Zeitalter von YouTube, Live-Streams und sozialen Netzwerken sind die Werkzeuge des militanten Kinos des 21. Jahrhunderts allen zugänglich
Juana de la Serna
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