In den letzten zwei Wochen ist der öffentliche Druck zur Schliessung der Schulen gestiegen. Mit der hochansteckenden Virusmutation merken SchülerInnen und Lehrpersonal, dass die Sicherheit an den Schulen nicht mehr garantiert ist. Die Klassen sind zu gross, um Abstände einhalten zu können, die Vorschriften zum Lüften sind ein schlechter Witz und überall wird deutlich, dass das Quarantäne-Regime und Contact-Tracing nicht funktionieren. Es herrscht pure Willkür.
Viele SchülerInnen und LehrerInnen haben Angst, angesteckt zu werden oder zu Hause RisikopatientInnen anzustecken. An den Mittelschulen und Berufsschulen ist deshalb auch Widerstand entstanden. In St. Gallen streikten BerufsschülerInnen mit der Forderung nach Home-Schooling. Am Kirchenfeld in Bern lancierten GymnasiastInnen eine Petition, die den Präsenzunterricht in Frage stellt und ein gemischtes Modell fordert. Auch der LehrerInnenverband übte Druck aus und forderte vom Bundesrat weitergehende und koordiniertere Massnahmen, um die Sicherheit zu gewährleisten.
Mittlerweile ist auch die dreiste Lüge zusammengebrochen, Schulen seien irrelevant für die Pandemiebekämpfung. Massentests zeigen die Verbreitung von asymptomatischen Ansteckungen bei Kindern, die das Virus dennoch übertragen: 7% der Kinder wurden an einer Schule in Zürich positiv getestet. Andererseits führen offene Schulen, insbesondere Mittelschulen, zu höherer Mobilität und damit dem Weiterverbreiten des Virus. «Am meisten Erkrankungen finden sich bei Personen mit Kindern im Haushalt», wie der sechste SRG-Corona-Monitor zeigt (S. 16).
Dennoch handelt die Regierung nicht. Wer letzten Mittwoch Massnahmen vom Bundesrat zu den Schulen erwartet hat, wurde enttäuscht. Zwar ist die etwas offensivere Teststrategie ein kleiner Schritt in die richtige Richtung. Aber erstens sind wir damit immer noch weit entfernt vom notwendigen systematischen und regelmässigen Durchtesten. Und zweitens wurde nicht eine einzige Massnahme ergriffen, um auch während der Pandemie gute und sichere Bildung zu ermöglichen. Der Bundesrat versteckt sich hinter dem vermeintlichen Widerspruch von Schulschliessungen und der psychosozialen Gesundheit der SchülerInnen.
Das Versagen der Regierung
Was steckt hinter der Untätigkeit der Regierung? Niemand darf leugnen, dass die Pandemie für Kinder und Jugendliche eine unglaublich schwierige Situation darstellt. Das stimmt schon jetzt mit offenen Schulen. Eine Schliessung der Schulen hätte fatale Auswirkungen auf ihre Entwicklung, auf ihre Bildung und die Pysche. Dies ist umso mehr der Fall, je jünger die Kinder sind. Und es ist umso stärker der Fall, je schwieriger die Situation der Kinder zuhause ist. Wir haben im Lockdown im März gesehen, wie der Fernunterricht bestehende Ungleichheiten verstärkt. Es ist kein Zufall, dass in Italien die derzeitige Protestbewegung der MittelschülerInnen nach Monaten von Fernunterricht den Präsenzunterricht einfordert: Im vergangenen Jahr ist rund ein Drittel (!) der SchülerInnen im Fernunterricht schlicht nicht mehr zur Schule gegangen und wurde abgehängt.
Doch es wäre naiv zu denken, den Regierenden ginge es um das Wohl der Kinder und Jugendlichen. Weder Pandemiebekämpfung noch die Ausbildung sind das treibende Motiv ihrer Corona-Politik. In erster Linie sollen die Kinder zur Schule, damit die Eltern brav weiter arbeiten gehen können. Dass die Bildung unter Home-Schooling leiden würde ist eine faule Ausrede und blanker Hohn aus den Mündern der Regierenden. Die Bildung und die Auszubildenden leiden auch unter den aktuellen Einschränkungen, ja sie litten schon vor der Pandemie.
Die Kinder sind ihnen egal. Das haben sie in den letzten Jahren zu Genüge bewiesen durch die Sparpolitik in der Bildung. In der Stadt Bern beispielsweise standen vor zehn Jahren pro Schüler 733 Franken zur Verfügung. 2019 waren es noch 579 Franken. Ist es ein Wunder, dass nach dem Kaputtsparen der Bildung Lehrpersonal fehlt, Schulzimmer fehlen und gute Ausrüstung fehlt, gerade auch digitale? Dass die Grösse der Klassen angewachsen ist, ist die logische Konsequenz davon und war schon vor Corona ein Problem. Wie sollen wir diese Leute ernst nehmen, wenn sie vom Wohl der Kinder sprechen?
Diese Sparpolitik hat sich mit der Pandemie brutal gerächt. Doch die Korrektur des Versagens der letzten Jahre wurde während der Pandemie nicht einmal in Angriff genommen. Es wurden keinerlei Massnahmen ergriffen, um SchülerInnen und LehrerInnen einen sicheren Rahmen für die Bildung zu ermöglichen. Es wurde nicht in Personal investiert, nicht in Material und Räume, nicht in Schutzmassnahmen. Sie hätten Monate Zeit gehabt, um den Schulbetrieb so umzustellen, dass er sicher gestaltet werden kann und die Bildung gewährleistet werden kann, selbst wenn es eine neue Welle der Pandemie gibt. Die Wahrheit ist, dass die Regierenden das Problem einfach ignoriert haben – genau wie im Gesundheitsbereich.
Investitionsplan: Recht auf gute und sichere Bildung!
In der Optik der bürgerlichen Politik in der kapitalistischen Krise gibt es nur einen starren Gegensatz: Entweder eine plumpe Form von Schulschliessungen, welche die SchülerInnen und Familien einfach ihrem eigenen Schicksal überlässt. Oder Nichtstun, oberflächliche Pseudo-Massnahmen und ein Weiter-wie-bisher. In beiden Fällen wird die gesamte Last einfach auf die LehrerInnen, SchülerInnen und Eltern abgewälzt. Damit wird die Bekämpfung der Pandemie gegen die Entwicklung der Jugend ausgespielt.
Das muss nicht sein. Es ist möglich, sichere Bildung zu gewährleisten und die Pandemie zu bekämpfen. Aber das erfordert einen Bruch mit der bürgerlichen Krisenpolitik, basierend auf zwei Pfeilern.
Erstens brauchen wir eine Reihe von Sofortmassnahmen, für die alle notwendigen finanziellen Mittel umgehend bereitgestellt werden müssen. Für «die Wirtschaft» wurden Milliarden zur Verfügung gestellt, während sich die Milliardäre an der Spitze der grossen Unternehmen nur weiter bereichern. Wo bleibt das Rettungspaket für die Schulen? Die KapitalistInnen müssen bezahlen, Reichtum gibt es in dieser Gesellschaft genug!
Zweitens müssen die Lehrerinnen und Lehrer, zusammen mit den übrigen ArbeiterInnen an den Schulen und den SchülerInnen, selbst die Kontrolle über die Schulen übernehmen – die Regierung wird nicht für sichere Schulen sorgen!
Das erfordert:
Wer wird für Sicherheit an den Schulen sorgen?
Wer wird an den Schulen für sichere Bedingungen sorgen? Sicher nicht der Staat! Das wurde in den letzten Monaten und Wochen deutlich. Das kann nur das Personal an den Schulen, auf den oberen Stufen zusammen mit den SchülerInnen. Sie sind es, die dem Risiko ausgesetzt sind, sie sind es, die die Lage vor Ort kennen.
Wir unterstützen deshalb alle Aktionen von SchülerInnen, die sich organisieren, wie an einer Berufsschule in St. Gallen. Sie traten in den Schulstreik, um auf ihre Forderungen aufmerksam zu machen. Das ist der richtige Ansatz. Wir sagen: Die SchülerInnen müssen selbst dafür sorgen, dass Massnahmen umgesetzt werden.
Sie müssen Versammlungen einberufen, in denen SchülerInnen gemeinsam diskutieren, was getan werden muss. Sie müssen dabei unbedingt die Verbindung zu anderen Schulen und zu den LehrerInnen herstellen, denen das Wohl der Kinder und Jugendlichen ebenso wichtig ist wie ihre Gesundheit. Es braucht eine Organisierung über einzelne Schulen hinweg. Nur so kann beispielsweise auch sichergestellt werden, dass für alle akzeptable Prüfungsbedingungen gelten.
Hier stehen die Gewerkschaften als Organisationen der ArbeiterInnen in der Pflicht. Sie müssen einen nationalen Kampf gegen die Pandemie organisieren. In Grossbritannien hat die Nationale Bildungsgewerkschaft (NEU) gezeigt, was ein offensives Vorgehen bewirken kann. Die NEU nahm als Startpunkt die Feststellung, dass die Massnahmen der Regierung unzureichend sind und stellte ihre eigenen, weitergehenden Massnahmen auf, gestützt auf die wissenschaftlichen Erkenntnisse. Sie rief das Personal an den Schulen auf, diese Massnahmen umzusetzen. Damit trafen sie klar den Nerv des Lehrpersonals. An einem Online-Treffen schalteten sich 400’000 Personen zu! Die Massenmobilisierung der NEU hat damit erreicht, die konservative Tory-Regierung zu zwingen, die Schulöffnungen unter den unsicheren Bedingungen hinauszuschieben!
Das ist auch in der Schweiz möglich. Die Aktionen von SchülerInnen wie in St. Gallen sind inspirierend. Aber sie dürfen nicht isoliert bleiben. Sie können der Startpunkt sein, um sich mit dem Lehrpersonal zu vereinen und Druck auf die Gewerkschaften auszuüben. Die Gewerkschaften müssen Mobilisierungen zur Gewährleistung der Sicherheit und qualitativer Bildung organisieren und gegebenenfalls auch Streiks des Personals an den Schulen organisieren.
Die LehrerInnen und ArbeiterInnen an den Schulen haben selbst die Kraft, Massnahmen durchzusetzen und zu erzwingen, zu denen die Regierung nicht bereit ist. Sie müssen die Kontrolle übernehmen! Es braucht ein Komitee von LehrerInnen, Delegierten von Gewerkschaften und auf oberen Stufen auch gewählten VertreterInnen der SchülerInnen, die gemeinsam entscheiden können, ob die Sicherheit an den Schulen gewährleistet ist und ansonsten Massnahmen ergreifen.
Diese Komitees sollen über die Umsetzung der Massnahmen entscheiden. LehrerInnen (und jugendliche SchülerInnen) können am besten entscheiden, wie sich beispielsweise eine sinnvolle Aufteilung in Kleingruppen organisiert. Sie wissen am besten, wie sich Gruppen zusammensetzen können, in denen sich gut arbeiten lässt, so dass Freundschaften gepflegt werden können, aber auch lernschwächere SchülerInnen eingebunden werden können. So können Klassen reduziert werden. Mit genug Lehrpersonal können auch Lehrer spezifisch für eine Gruppe bestimmt werden.
Mit solcher Selbstorganisation können Ansteckungen verhindert und trotzdem gute Bildung garantiert werden. Damit kann auch ein System ausgearbeitet werden, dass teilweise aus Fernunterricht besteht, dort wo es Sinn macht und nicht zu zusätzlichen Belastungen für einzelne SchülerInnen führt. SchülerInnen und LehrerInnen sollen auch über die Modalitäten der Prüfungen bestimmen können. Sie sollen die Kontrolle haben und entscheiden, wann es sicher ist. Sie müssen alle Ressourcen zur Verfügung haben, um sicheren Unterricht zu gewährleisten!
Sozialistische Massnahmen!
Die Schulen dürfen dabei nicht isoliert betrachtet werden, sie müssen Teil des Kampfes der Arbeiterklasse für gute Gesundheit sein. Um die Pandemie zu bekämpfen, ist es heute dringend nötig, alle nicht-lebensnotwendigen Betriebe zu schliessen. Dafür müssen aber die Löhne aller ArbeiterInnen und auch der Arbeitslosen garantiert werden. Sie sollen aus den Taschen der Unternehmen bezahlt werden. Sagen die Bosse, es sei nicht genug Geld da, fordern wir die Öffnung der Geschäftsbücher. Nebst den Schulen braucht es auch einen umfassenden Investitionsplan für den Gesundheitssektor, um die Bedingungen in der Pflege zu verbessern und die Kapazitäten zu erhöhen.
Sie werden uns sagen, solche Investitionen seien utopisch und könnten nicht bezahlt werden. Doch der einzige Grund, weshalb heute in der Bildung, der Gesundheit und im sozialen Bereich gespart wird, ist die Zwangsjacke des Kapitalismus. Was heute dringend nötig ist, um unsere Bildung und Gesundheit zu ermöglichen, werden die KapitalistInnen und ihre Regierungen niemals bereit sein zu leisten. Deshalb versagen sie in der Lösung dieser Krise.
Die heutige Gesellschaft besitzt einen unglaublichen Reichtum, über den die Mehrheit der Bevölkerung jedoch keinerlei Kontrolle hat. Überführen wir die produktiven Kapazitäten der grössten Unternehmen in Gemeineigentum, integrieren wir sie in ganzheitlichen Plan, so können wir sie nach den wirklichen Bedürfnissen der Menschen ausrichten.
Es ist ihr gesamtes kapitalistisches System, das heute versagt und uns im Stich lässt. Uns für die Bildung und Gesundheit der Menschen einzusetzen bedeutet heute, uns für den Kampf gegen dieses gesamte System zu organisieren!
Martin Kohler
Juso Stadt-Bern
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