Seit dem Krieg im Donbass sind die Spannungen zwischen den Regierungen Westeuropas und Russlands stärker geworden. Damit einher geht eine mediale Debatte um die Politik der russischen Regierung. Diese verschaffte einer Bewegung eine Plattform, welche im russischen Staatschef Putin einen Friedensbewahrer und Mann des Volkes zu sehen glaubt. Hauptsächlich von einem rechten nationalistischen Lager dominiert, erstreckt sich diese Welle der Sympathie bis in linke „antiimperialistische“ Gefilde. Dass ein antiimperialistisches Gegengewicht oder ein Sozialist in Putin vergebens gesucht werden muss, steht ausser Frage. Dennoch scheint nicht von der Hand zu weisen zu sein, dass er über lange Zeit in der Lage war, Massen zu mobilisieren, welche über orthodoxe, wertkonservative Kreise und Zarentumnostalgiker hinausgehen.
Seit 1999 bekleidet Vladimir Putin (mit Unterbruch einer Amtszeit von 2008-2012) das Amt des Staatspräsidenten. Seine Unterstützungspartei „Einiges Russland“ stellte während all dieser Zeit die unbestrittene politische Macht im Land dar. Dieser Zustand ist nicht alleine durch die wiederholten Vorwürfe des Wahlbetrugs und der Zensur beziehungsweise Kontrolle der Medien durch den Putinclan erklärbar. Nachvollziehbar wird diese Situation erst, wenn sie als Nachfolgeperiode der kapitalistischen Restauration der 1990er Jahre betrachtet wird.
Der schnelle Weg zur Macht
Vladimir Putin, geboren 1952 in Leningrad, dient ab 1975 als Offizier bei der sowjetischen Staatssicherheit KGB. 1990 wird er aus der DDR nach Moskau zurückbeordert. Dank alter Seilschaften aus seiner Geheimdienstzeit gelingt es dem späteren Staatspräsidenten schnell in der Jelzin-Administration aufzusteigen. 1999 wird er zum Ministerpräsidenten ernannt – der fünfte innerhalb von nur zwei Jahren. Es ist eine turbulente Zeit.
Durch den Rücktritt Boris Jelzins übernimmt er verfassungsgemäss dessen Nachfolge. Im Jahr 2000 wird er als Staatspräsident gewählt. Seither baut Putin die Kompetenzen dieses Amtes Schritt für Schritt aus. Entscheidend bei der Machtübernahme waren Putins Beziehungen zum Geheimdienstapparat, welche es ihm ermöglichten, Jelzin Straffreiheit und Schutz seines Eigentums zu gewährleisten. Ohne diesen Umstand hätte sich Jelzin wohl trotz seiner Diskreditierung bei der Bevölkerung aus Angst vor Repressalien bis zum Schluss an seinen Posten geklammert.
Bei seiner Amtsübernahme fand Putin als starke Hand optimale Bedingungen vor, um sich die Unterstützung der breiten Bevölkerung und Teile der Eliten zu sichern. Die Ära Jelzin war von Korruption, Misswirtschaft, Chaos und Attentaten geprägt gewesen.
Der Schrecken der 90er
Das Jahr 2000 war Putins Sternstunde, weil es die 1990er Jahre abschloss. Das Jahrzehnt der rücksichtslosen Einführung des Kapitalismus war geprägt von explodierenden Kriminalitätsraten und unbekannten ökonomischen und politischen Unsicherheiten. Das BIP fiel zwischen 1991 und 1993 um ganze 29%, die Industriegüterproduktion um 25%, die Konsumgüterproduktion um 27%. Rund 2400 Betriebe wurden geschlossen und das Land fiel 1998 in die Zahlungsunfähigkeit.
Die zentrale Staatsgewalt und viele öffentlichen Institutionen (inklusive die verstaatlichte Industrie) fielen in sich zusammen. Das staatliche Gewaltmonopol wurde unterhöhlt. Bewaffnete Banden und lokale (ehemals staatliche) Autoritäten beanspruchten das Machtvakuum für sich. Aus einer industriellen Supermacht wurde innert weniger Jahre ein instabiles Schwellenland. Russland musste sich widerwillig damit abfinden, dass es die internationale Politik nicht mehr bestimmte, sondern von ihr bestimmt wurde.
Die ökonomischen und politischen Unsicherheiten führten zu einer Reihe von Separationsbestrebungen. Das verstärkte die Ängste der Bevölkerung. Russland, welches sich seit dem 2. Weltkrieg (fast) keinem bewaffneten Konflikt mehr gegenübersah, war mit den beiden Tschetschenienkriegen plötzlich wieder mit heissen Kriegen an den eigenen Grenzen konfrontiert. Zudem geschah mit den Interventionen westlicher Mächte unmittelbar vor der alten sowjetischen Einflusssphäre (Exjugoslawien) scheinbar Unvorstellbares. Die einst so mächtige ex-UdSSR musste zudem beobachten, wie die ehemals kontrollierten Länder mit der Nato-Osterweiterung der Reihe nach in die Einflusssphäre des Konkurrenten USA fielen.
Die Konsequenzen des Zusammenbruches einer ganzen Gesellschaft in ihrer voller Härte schufen Sehnsüchte nach alter Stabilität und diskreditierten den Kapitalismus, alsbald er in Russland etabliert war. Die ungeschminkte Fratze der kapitalistischen Gesellschaft ebnete ironischerweise den Weg für eine bloss noch autoritärere – aber geordnetere und vorübergehend prosperierende – Ausgabe desselben Systems unter Putin.
Ein Weg aus dem Chaos
Eine Rückkehr zur sozialistischen Planwirtschaft war für die neue herrschende Klasse natürlich unter keinen Umständen eine Alternative. Diese hatte innert weniger Jahre immense Besitztümer angehäuft, welche sie um jeden Preis zu verteidigen bereit war. Zustande gekommen waren diese dank der aggressiven pro-kapitalistischen Politik der Regierung Jelzin und der damit verbundenen ausufernden Korruption. Nichtsdestotrotz war diese Instabilität auf längere Sicht eine Bedrohung für eine gesicherte profitable Produktion durch die Oligarchie. Investitionen blieben unsicher und drohende (Hunger-) Revolten hingen wie ein Damoklesschwert über der herrschenden Ordnung. Der Moment für Putin und seine Partei „Geeintes Russland“ war gekommen.
Die Herrschaft PutinsDie Rechnung, welchen Kurs die neue Regierung zu verfolgen hatte, war schnell gemacht. Ordnung sollte wiederhergestellt werden – nicht zuletzt durch das Nutzen von grossrussischem Chauvinismus. Dies war entscheidend für den Erhalt (und die Legitimation) der ökonomischen Besitzverhältnisse. Putin leitete ab 2000 seine Kampagne zur Wiederherstellung der nationalen Einheit ein. Diese bestand aus konsequentem militärischem Vorgehen gegen Separatismus und der Zentralisierung des politischen Systems. Die Kompetenzen der russischen Teilrepubliken wurden beschnitten und die Präsidenten der Republiken wurden wieder direkt aus Moskau ernannt. Bereits als Ministerpräsident Jelzins setzte sich Putin für ein hartes Vorgehen gegen die separatistische Rebellion in Tschetschenien ein. Mit Brutalität ging er gegen separatistischen Terrorismus vor, der für eine Reihe von angeblichen oder tatsächlichen (Bomben)-Attentaten verantwortlich gemacht wurde. Bei seinem Wahlsieg spielte das eine entscheidende Rolle.
Das Implementieren einer starken Zentralgewalt sicherte zum einen das wirtschaftliche Gefüge durch die Schaffung sicherer Transportrouten und sichererer Investitionsverhältnisse. Zum anderen erschwerte es aber ausländischen Mächten die Einflussnahme auf Russland durch die Unterstützung von Konfliktparteien oder lokalen Autoritäten. Somit war diese Policy ein äusserst wichtiger Pfeiler des Machterhaltung Putins und der stabileren Entwicklung des Landes im folgenden Jahrzehnt.
Ein weiterer dieser Pfeiler war Putins Politik gegenüber der Elite. Entgegen der medialen Darstellung im Westen richtete sich Putins Politik nicht bloss gegen Dissidenten unter den reichen Unternehmern. Es handelte sich in erster Linie um Massnahmen, die russische Wirtschaft durch Kapitalausfuhrsperren zu schützen. Die Kapitalflucht der Bourgeoisie liess während den 90ern einen grossen Teil des sowjetischen Kapitals ins Ausland abfliessen. Von der sowjetischen Planwirtschaft geschaffener Wohlstand und ganze Industrien wurden ab 1991 quasi über Nacht in die Taschen ausländischer Kapitalisten geschafft. Profite der privatisierten Staatseigentümer wurden im grossen Stile auf ausländische Konten transferiert und dem Zugriff des russischen Staates entzogen.
Die Verfolgung und Enteignung der illegal angeeigneten Besitztümer eines Teiles der Oligarchie waren natürlich äusserst populär bei der prekarisierten Bevölkerung. Zudem war dies entscheidend für die Stabilisierung der russischen Wirtschaft, da diese das Kapital und die Ressourcen im Land behielten und somit auch Arbeitsplätze retteten beziehungsweise wiederherstellten.
Ansätze einer Politik der sozialen Gerechtigkeit, zunehmende Sicherheit und lang ersehntes Wirtschaftswachstum vermittelten der russischen Bevölkerung den Eindruck eines Neuanfangs unter Putin. Der Anstieg der internationalen Rohstoffpreise bis 2008 war ein Segen für das stark auf Rohstoffproduktion ausgerichtete Russland. Dies ermöglichte es Putin, sich die Loyalität einer neuen Mittelschicht in den Städten zu sichern, welche in grossem Ausmass vom Export natürlicher Ressourcen profitierte.
Putins Ende?
Spätestens bei Beginn von Putins drittem Amtsantritt als Staatspräsidenten 2012 schien die mittlerweile zur Regel gewordene politische Stabilität in den Zentren St. Petersburg und Moskau in Gefahr zu sein. Der sich anbahnende Unmut ab 2008 und die Unruhen bei Putins Wiederwahl 2012 hängen stark mit den infolge der Krise von 2008 sinkenden Rohstoffpreisen zusammen. Dies trieb insbesondere die städtische Jugend auf die Strassen. Für ihre Probleme kennt auch das System Putin keine Antworten. Entgegen vieler Vermutungen zeigte sich das Regime stabiler als vermutet.
Der Druck auf Putins Herrschaftsbasis durch das Ausbleiben der hohen Überschüsse aus dem Rohstoffexport zwang die Regierung verstärkt auf die Karte der Grossmachtsträume zu setzen. Der Blick der Bevölkerung sollte auf aussenpolitische Fragen gelenkt werden, um die interne Krise mindestens politisch zu entschärfen. Diese Strategie schien mit den Konflikten in der Ostukraine und in Syrien vorübergehend aufzugehen.
Vor den Widersprüchen des russischen Kapitalismus und seiner Abhängigkeit von den internationalen Entwicklungen wird sie Putin und die Bourgeoisie jedoch langfristig nicht retten können. Denn die Ablenkung von den grundlegenden ökonomischen Problemen ist kurzfristig. Ohne eine weitere Entwicklung der Produktivkräfte und eine Verbesserung des Lebensstandards für die Mehrheit in Russland wird Putin seine Legitimität mittelfristig unweigerlich verlieren.
Alessio Marty
MSZ Zürich
Bilder: www.kremlin.ru
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