Wir beginnen heute mit der Veröffentlichung der Weltperspektive der IMT. Es ist ein Entwurf, auf dessen Basis die Diskussion in der Tendenz aufbaut.
Der erste Teil dreht sich um die Krise des Weltkapitalismus.
Die Ereignisse entwickeln sich global gesehen mit einer enormen Geschwindigkeit. Nach der Arabischen Revolution ging es Schlag auf Schlag: Die Bewegung der „Indignados“ in Spanien; die Welle von Streiks und Demonstrationen in Griechenland; die Ausschreitungen in Britannien; die Bewegung in Wisconsin und die „Occupy“- Bewegung in den USA; der Sturz Gaddafis; die Absetzung von Papandreou und Berlusconi; all das sind Symptome der derzeitigen Epoche.
Diese plötzlichen, scharfen Wendungen zeigen, dass sich im Ganzen etwas Grundlegendes geändert hat. Diese Ereignisse wirken sich auf das Bewusstsein immer grösserer Schichten der Bevölkerung aus. Die herrschende Klasse ist wegen der unerwarteten Tiefe der Krise zunehmend gespalten, ihr fehlt die Orientierung und sie hat keine Idee, wie sie diese Krise lösen soll. Plötzlich ist sie nicht mehr imstande mit den alten Methoden die Kontrolle über die Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Instabilität kennzeichnet alle gesellschaftlichen Bereiche: die Wirtschaft, die Staatsfinanzen, die Politik. Die politischen Parteien befinden sich in der Krise. Regierungen kommen und gehen, ohne einen Weg aus der Sackgasse zu finden. Die heftigen Ausschläge der Wählergunst nach rechts und links spiegeln den Unmut der Mittelklassen wider, die ihr Vertrauen in den Status Quo verlieren und zwischen Bourgeoisie und Arbeiterklasse hin- und herpendeln.
Das wichtigste dabei ist, dass sich die Arbeiterklasse vom ersten Schock der Krise erholt hat und zu handeln beginnt. Die fortgeschrittensten Teile unter den Arbeitern und der Jugend fangen an revolutionäre Schlussfolgerungen zu ziehen. All dies sind Symptome dafür, dass wir am Beginn der Epoche der Weltrevolution stehen. Diese wird sich über Jahre, vielleicht Jahrzehnte entfalten, mit Hochs und Tiefs, Fortschritten und Rückschlägen; eine Periode von Kriegen, Revolutionen und Gegenrevolutionen. Dies ist ein Ausdruck für die Tatsache, dass der Kapitalismus sein fortschrittliches Potential ausgeschöpft hat und in eine Phase des Niedergangs eingetreten ist.
Diese generelle Betrachtung schließt die Möglichkeit von Perioden des Aufschwungs nicht aus. Auch in der Zeit von 1929 bis 1939 gab es zyklische Schwankungen, aber die allgemeine Tendenz deutete auf längere und tiefere Rezessionen hin, die von flüchtigen und oberflächlichen Booms unterbrochen wurde. Der „Aufschwung“, der auf den Konjunktureinbruch von 2008/09 folgte, ist ein Anzeichen für diese Tendenz. Es handelte sich um den schwächsten Aufschwung der Geschichte – laut bürgerlichen Ökonomen der schwächste seit 1830 – und nur ein Wegbereiter für noch tiefere Krisen. Dies spiegelt die Tatsache wider, dass der Kapitalismus in einer Sackgasse steckt. Er hat über Jahrzehnte Widersprüche angehäuft. Genau genommen ist die Krise ein Ausdruck der Rebellion der Produktivkräfte gegen das enge Korsett des kapitalistischen Systems. Die grössten Barrieren, die der Entwicklung der Menschheit entgegenstehen, sind einerseits das Privateigentum an den Produktionsmitteln und andererseits der Nationalstaat.
Vorübergehend konnte dieser Widerspruch z.T. durch eine beispiellose Ausdehnung des Welthandels gelöst werden (Stichwort „Globalisierung“). Das erste Mal in der Geschichte sind alle Ecken der Welt zu einem riesigen Weltmarkt vereint. Die Widersprüche des Kapitalismus konnten dadurch nicht aufgehoben werden, sie entwickelten sich vielmehr auf einem enormen, beispiellosen Niveau weiter. Jetzt wird die Rechnung dafür präsentiert.
Die Globalisierung zeigt sich jetzt als eine globale Krise des Kapitalismus. Die enormen Produktionskapazitäten, die im Weltmassstab aufgebaut wurden, können nicht genutzt werden. Für diese Krise gibt es keinen Vergleich in der Geschichte. Ihr Ausmass ist grösser als das jeder Krise der Vergangenheit. Die Strategien des Kapitals lassen sich mitdenen von alten Seeleuten vergleichen, die sich ohne Karte und Kompass auf unentdeckte Ozeane wagten. Wir haben es jetzt mit einer grundsätzlichen Vertrauenskrise in den Reihen der internationalen Bourgeoisie zu tun. Die Bourgeoisie will ihren Unglückstag aufschieben, indem sie Rezepte bemüht, die normalerweise hergenommen werden um eine Rezession zu überwinden – das ist jetzt aber unmöglich. Die Banken verleihen kein Geld, die Unternehmen investieren nicht, die Wirtschaft stagniert und die Arbeitslosigkeit steigt. All das zeigt, dass der zaghafte Aufschwung nach 2009 in eine neuerliche Krise umgeschlagen ist.
Die Krise des europäischen Kapitalismus zeigt sich besonders in den Veränderungen auf den Anleihenmärkten, die die Risikoaufschläge für ein Land nach dem anderen ansteigen lassen. Griechenland, Irland, Portugal, Spanien und Italien tappten nacheinander in die Falle der Märkte, die sie dazu verurteilten, horrende Zinsen auf ihre wachsenden Staatsschulden zu zahlen. Dadurch machten „die Märkte“ aus einer schwierigen Situation eine unmöglich lösbare.
Jetzt drohen die internationalen Ratingagenturen Frankreich und Deutschland und letztendlich die ganze Eurozone herabzustufen. Es ist eine Art tödlicher Ansteckungsgefahr, die alle grossen Länder der Eurozone befallen hat. Das ständige Chaos auf den Weltmärkten zeigt die Nervosität der Bourgeoisie, die von Zeit zu Zeit an Panik grenzt. Die Märkte sind wie ein Thermometer, die die Höhe des Fiebers messen. Die bürgerlichen Ökonomen stehen um das Bett des Patienten, schütteln ihre Köpfe, haben jedoch keine wirksame Medizin parat.
Die Panik, die sich an den Börsen und Anleihenmärkten zeigt, weitete sich schnell von Europa nach Amerika aus. Vergeblich schimpften Merkel und Co. über die Verantwortungslosigkeit der Ratingagenturen. Letztendlich machen diese nur ihren Job: Sie zeigen genau die Aufregung um die Weltwirtschaft und den Vertrauensverlust in die Politiker an. Aber dadurch versetzen sie den Ökonomien einen weiteren Schlag, die am Rande des Abgrunds torkeln.
Lenin erklärte, dass es nicht so etwas wie eine unlösbare Situation für den Kapitalismus gibt. Solange dieser nicht durch die Arbeiterklasse gestürzt wird, kann sich der Kapitalismus auch von der tiefsten Krise wieder erholen. Grundsätzlich ist diese Aussage zweifelsfrei richtig. Aber das sagt uns nicht wirklich etwas über die konkrete Situation, mit der wir konfrontiert sind oder den wahrscheinlichen Ausgang. Wir müssen diesen historischen Moment konkret untersuchen und die Entwicklung, die wir hinter uns haben, in Erwägung ziehen.
In der Geschichte des Kapitalismus können verschiedene Perioden unterschieden werden. Die Periode vor dem Ersten Weltkrieg war z.B. eine, die von einem langen Wirtschaftsaufschwung geprägt war und 1914 ihr Ende fand. Das war die klassische Phase der Sozialdemokratie. Die Massenparteien der Zweiten Internationale wurden gegründet in Zeiten der Vollbeschäftigung und einer relativen Hebung des Lebensstandards der europäischen Arbeiterklasse. Dies führte zur nationalistischen und reformistischen Degeneration der Sozialdemokratie, die sich 1914 offen zeigte, als sie sich zu Beginn des Kriegs fast geschlossen auf die Seite „ihrer“ Bourgeoisie stellte. Die Periode, die der Russischen Revolution von 1917 folgte, hatte einen völlig anderen Charakter. Es war eine Zeit der Klassenkämpfe, der Revolutionen und Konterrevolutionen, die erst mit Beginn des Zweiten Weltkrieges endete. Der Krise, die mit dem Crash an der Wall Street 1929 begann und sich zur Grossen Depression entwickelte, war eine Phase der fieberhaften Spekulation vorausgegangen, die viele Gemeinsamkeiten mit dem Boom vor der jetzigen Krise aufweist.
Die Depression der 1930er Jahre konnte nur durch den Krieg selbst gelöst werden. 1938 sagte Trotzki voraus, dass der Krieg mit einem neuen revolutionären Aufschwung enden würde. Dies war richtig, aber die Art und Weise wie der Krieg endete, war anders als es Trotzki erwartet hatte. Der militärische Sieg der UdSSR stärkte den Stalinismus für eine ganze Periode. Sozialdemokraten und Stalinisten waren in der Lage, die revolutionäre Welle in Italien, Frankreich, Griechenland und weiteren Ländern abzuwürgen. Dies war die politische Voraussetzung dafür, dass der Weg für einen neuen Aufschwung des Kapitalismus geebnet wurde, den Lenin und Trotzki 1920 für eine theoretische Möglichkeit hielten.
Die Gründe für den Aufschwung zwischen 1948 und 1974 haben wir in früheren Dokumenten erklärt, siehe Ted Grants „Will There be a Slump?“
Es reicht hier herauszustreichen, dass dieser Aufschwung die Folge einer besonderen Verknüpfung von Umständen war, die unmöglich zu wiederholen sind. Eine solche Perspektive ist für die heutige Zeit ausgeschlossen. Der Aufschwung des Kapitalismus hielt knapp drei Jahrzehnte an und führte zu einem weiteren Verfall der Sozialdemokratie und der stalinistischen Parteien und der Gewerkschaften in Europa und den anderen entwickelten kapitalistischen Ländern, ähnlich wie vor dem Ersten Weltkrieg. Doch auch während dieser Zeit sahen wir den grössten Generalstreik der Geschichte in Frankreich 1968.
Diese Periode wurde unterbrochen von der ersten Rezession seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, welche 1973/74 begann und die mit einem revolutionärem Aufschwung zusammenfiel: Die Revolutionen in Portugal, Spanien und Griechenland, die Massenstreiks in Britannien, der revolutionäre Gärungsprozess in Italien und revolutionäre Umbrüche in den ehemaligen Kolonien. Die europäische Arbeiterklasse bewegte sich damals in Richtung Revolution – doch der Verrat der Führer der Sozialdemokratie und der stalinistischen Parteien schaffte die Bedingungen für eine neuerliche Erholung des Kapitalismus.
Die Periode, die in den 1980er Jahren folgte, kann als eine Periode der „sanften Reaktion“ bezeichnet werden. Die Bourgeoisie versuchte die Politik des Keynesianismus zurückzudrehen, die zu einer Explosion der Inflation und einer Intensivierung des Klassenkampfes führte. Es war die Zeit von Reagan und Thatcher, von monetaristischer Ökonomie und einer Gegenoffensive gegen die Arbeiterklasse.
Dies wurde durch den Zusammenbruch des Stalinismus verstärkt. Neue Gebiete auf dem Erdball waren nun offen für den kapitalistischen Markt und direkte Investitionen. Ein riesiges Reservoir Millionen billiger Arbeitskräfte, auf die der Kapitalismus zuvor keinen Zugriff hatte, und wachsende Märkte in China, Indien und der früheren UdSSR waren verantwortlich, dass aus der Rezession von 1990 keine Depression und dem System vorübergehend neues Leben eingehaucht wurde.
Während der 1990er und 2000er gaben sich die Bourgeoisie und ihre Ideologen wie eingebildete, aufgeblasene Frösche. Sie erlagen der Illusion, dass der „freie Markt“ alle Probleme lösen könnte, wenn er nur sich selbst überlassen würde. Früher verehrte die Bourgeoisie den Staat wie einen Gott, jetzt verfluchte sie ihn als Grund allen Übels. Die einzige Sache, die sie vom Staat verlangte war, dass er sie ungestört werken lasse. Die Tendenz zu einer zunehmenden Verstaatlichung (die “in alle Bereiche eingreifen sozialistische Gesellschaft”) wurde in ihr Gegenteil verkehrt. Statt Verstaatlichungen setzte nun eine Welle von Privatisierungen ein. Die neue Situation wurde von den Ökonomen mit der Theorie der These des „effizienten Marktes“ erklärt, nach der die Märkte eine Tendenz zum Ausgleich hätten, in welcher Angebot und Nachfrage sich automatisch die Waage halten und so Überproduktionskrise unmöglich würden. Dies war keine neuer Theorie, sondern nur ein Widerkäuen des Say’schen Theorems, auf das Marx bereits vor langem antwortete ,siehe „Theorien über den Mehrwert“, Marx 1861/63, Kapitel 17
Die Krise von 2008/09 markiert einen weiteren Wendepunkt. Sie widerlegte all die Theorien der bürgerlichen Ökonomen. Sie entfesselte mächtige Schocks, die noch immer nachwirken. Sie zeigt das Ende einer andauernden Periode von scheinbarer finanzieller Stabilität und Ordnung. Sie ließ den Traum der Bourgeoisie zerplatzen, nach dem der grausame Kreislauf von Aufschwung und Krise zu Ende sei.
In Wahrheit haben sie nichts Neues entdeckt. Der Boom war wie eine Hütte, die auf schwachen Beinchen gebaut wurde: ein Modell, das auf der massiven Ausweitung der Spekulation mit Immobilien basierte, genährt durch eine beispiellose Kreditvergabe und die absolute Dominanz des Finanzkapitals. Der parasitäre Dienstleistungssektor wuchs auf Kosten der realen Produktion. Die Börsen wurden noch mehr zu Casinos, an denen um gewaltige Geldbeträge gespielt wird, und die Banker stürzten sich in diesen vergnügten Karneval des Geldmachens mit rücksichtsloser Hingabe.
Das völlig parasitäre Element des Kapitalismus florierte während der letzten Periode. Diese Tatsache alleine war ein Indikator für die Altersschwäche des Kapitalismus: die erdrückende Dominanz des Finanzkapitals und der Aufstieg der „Dienstleistungen“ auf Kosten des produzierenden Gewerbes; eine massive Ausweitung der Kredite und des fiktiven Kapitals; alle Arten von Betrug und ungezügelter Spekulation an den Aktienmärkten und seitens der Grossbanken.
Das spekulative Element war Teil eines jeden kapitalistischen Booms seit der sog. Tulpenblase im 17. Jahrhundert. Aber sein Ausmass in der jetzigen Periode übersteigt alles Bisherige. Allein der Handel mit Derivaten umfasst Billionen von Dollar und ist dermassen kompliziert und undurchsichtig, dass es schwierig ist, den Überblick zu behalten. Er sollte den Märkten mehr Stabilität bringen, ist tatsächlich aber einer der Hauptgründe für die wachsende Unsicherheit. Dies hat wesentlich zum derzeitigen Kollaps beigetragen, und die Nachwirkungen des Schuldendienstes machen es nur noch schwerer, aus der Krise herauszukommen. Gleichzeitig hat es eine beispiellose Entwicklung zur Kapitalkonzentration gegeben.
Unsere Strömung rechnete schon seit längerem mit der Krise. Sie wurde jedoch durch Faktoren hinausgeschoben, die weiter oben herausgestrichen wurden, und dies hatte bestimmte Auswirkungen auf unsere Perspektiven. Doch wir müssen uns zuallererst die Frage stellen: Aus welchen Gründen wurde die Krise hinausgeschoben, und was waren die Konsequenzen? Die Grundlagen erörterten wir in einem Perspektivdokument vor zwölf Jahren („On a Knife’s Edge: Perspectives for the world economy, http://www.marxist.com/world-economy-perspectives141099.htm). Wir zeigten, dass die Bourgeoisie die Krise aufschob, in dem sie Methoden anwandte, die eigentlich hergenommen werden sollten, um aus Krisen herauszukommen. Sie hielten die Zinsraten niedrig und weiteten zeitgleich die Kredite in unerhörtem Umfang aus. Es muss gesagt werden, dass sie eine Krise verhinderten, aber nur zum Preis, dass die Krise zu einem späteren Zeitpunkt umso tiefer wird.
Die Kapitalisten versuchen immer um die momentanen Widersprüche herumzukommen, indem die unausweichliche Krise in die Zukunft geschoben wird, wenn das ganze, morsche Gebäude nur mit umso grösserer Wucht über ihren Köpfen zusammenfallen wird. Das Kreditwesen hat bestimmte Grenzen und kann nicht endlos ausgeweitet werden. Auf einer gewissen Stufe beginnt sich alles aufzulösen. All die Faktoren, die den Boom befeuerten, verkehren sich dann in ihr Gegenteil. Die scheinbar endlose Aufwärtsspirale verkehrt sich nun in eine unkontrollierbare Abwärtsspirale. Das Problem, mit dem die Bourgeoisie konfrontiert ist, ist schnell erklärt: sie kann nicht noch länger die herkömmlichen Instrumente hernehmen um aus der Krise zu kommen, da diese bereits während des Booms aufgebraucht wurden. Die Zinsraten sind in Japan bei null und in den USA und in Europa kaum höher. Wenn man die Inflation heranzieht, deren Rate in den USA und in Europa höher ist als die der Zinsen, bedeutet das, dass die realen Zinsraten negativ sind. Wie sollen sie da noch die Zinsraten weiter senken, um so ein Wachstum zu initiieren? Wie können die Regierungen die Staatsausgaben steigern, wenn alle Staaten mit riesigen Schuldenbergen zu kämpfen haben?
Wie sollten die Konsumenten mehr Geld ausgeben, wenn sie zuerst die massiven Schulden zurückzahlen müssen, die noch in Boomzeiten aufgenommen wurden? Und wie sollte in mehr Produktion investiert werden, wenn die Kapitalisten keine Märkte haben, wo sie ihre Güter verkaufen können? Aus demselben Grund, haben die Geldgeber kein Interesse, die Kredite auszuweiten. Seit es keinen Grund mehr gibt, in die Produktion für übersättigte Märkte zu investieren, macht die Bourgeoisie ihr Geld lieber, in dem sie auf den Geldmärkten spekuliert.
Eine riesige Menge Geld bewegt sich dauernd um die Welt, um mit der Spekulation gegen Währungen wie dem Euro mehr Geld zu machen. Die Anleger handeln wie ein Rudel hungriger Wölfe, die einer Herde von Rentieren folgen, auf der Suche nach dem schwächsten und kränksten Tier. Und nun gibt es eine Menge kranker Tiere zur Auswahl. Diese Spekulationen verschärfen die grundsätzliche Unsicherheit noch weiter und verleihen der Krise einen noch explosiveren Charakter.
Wenn man die Marktwirtschaft akzeptiert, muss man auch die Regeln des Marktes akzeptieren, welche den Regeln des Dschungels sehr ähnlich sind. Den Kapitalismus zu akzeptieren, dann aber über seine Konsequenzen zu jammern, ist ein sinnloses Unterfangen. Die Reformisten (und ganz besonders die Linksreformisten) leiern immer wieder ihre keynesianischen Ideen von der Lösung der Krise durch steigende öffentliche Ausgaben herunter. Doch wir haben bereits eine hohe öffentliche Verschuldung, die zurückgezahlt werden muss. Anstatt die öffentlichen Ausgaben auszuweiten, stoppen die Regierungen ihre Ausgaben und entlassen öffentlich Bedienstete, wodurch sich die Krise nur noch mehr erhitzt.
Es ist ein Ausdruck der Verzweiflung der Bourgeoisie, dass sie nach dem letzten Strohhalm greift. In den USA und Britannien kehrte man wieder zum Gelddrucken zurück. Dies wird keines der Probleme lösen, sondern sie letztendlich nur noch verstärken. Wenn das Geld schliesslich in der Wirtschaft landet, wird das eine riesige Inflation verursachen, die nur den Boden für eine noch tiefere Krise in der Zukunft ebnet.
Die hoffnungslose Verwirrung der Ökonomen zeigt sich im seltsamen Schauspiel von Jeffrey Sachs, derjenige, der den Neoliberalismus in Osteuropa entfesselte. Er fordert nun eine weltweite Version des New Deals. Das Problem ist, dass solche Pläne aus der Sicht des republikanisch dominierten US-Kongresses ein Gräuel sind. Dieser ist wild entschlossen eine entgegengesetzte Politik zu verfolgen.
Weder die Rezepte des freien Marktes noch die Politik der keynesianischen Anreize haben funktioniert bzw. können funktionieren. Die Regierungen und ihre Wirtschaftsberater sind am verzweifeln. Für fiskalpolitische Anreize ist kein Geld mehr da, aber auch die Sparpolitik führt nur dazu, dass die Krise verschlimmert wird. Die grösste Angst ist, dass eine neue Rezession zu einem Wiederaufleben des Protektionismus und der Währungsabwertungen wie in den 1930er Jahr führen wird. Dies würde katastrophale Auswirkungen auf den Welthandel haben und eine Bedrohung für die Globalisierung selbst darstellen. Alles was in den vergangenen 30 Jahren erreicht wurde, kann zunichte gemacht und in sein Gegenteil verkehrt werden. Die Massnahmen, die von der Schweizer Nationalbank im September 2011 angekündigt wurden, um den Wert des Schweizer Franken abzuwerten, ist eine Warnung, wohin protektionistische Politik und Währungsabwertungen führen könnten. Genau das war es, was den Wall Street Crash von 1929 zur Grossen Depression der 1930er Jahre werden liess. Etwas Ähnliches kann wieder passieren.
Trotzki schrieb 1938: „Die Kapitalisten schlittern mit geschlossenen Augen in eine Katastrophe.“ Eines müssen wir an dieser Aussage ändern: Die Kapitalisten schlittern mit weit geöffneten Augen in eine Katastrophe. Sie sehen, was passiert. Sie sehen, was mit dem Euro geschieht. In den USA sehen sie, wie sich die Staatsfinanzen entwickeln. Aber sie wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen.
Seit dem Zusammenbruch von 2008 haben die Regierungen Billionen von Dollar ausgegeben, um das Finanzsystem zu retten – ohne, dass es etwas gebracht hätte. Die Europäische Kommission hat den Ausblick für die Wirtschaftsentwicklung in der Eurozone ein ums andere Mal zurückgestuft – jetzt ist sie zu einem faktischen Stillstand gekommen. Ein Stagnieren ist tatsächlich noch eine der optimistischeren Varianten. Alles deutet nun auf einen neuen und noch steileren Fall als 2008/09 hin. In den Monaten nach den Banken-Rettungsaktionen, versuchte die Bourgeoisie sich mit dem Gerede eines Aufschwungs zu trösten. Doch dabei handelt es sich um den schwächsten Aufschwung der Geschichte, wie wir gesehen haben. Es gibt nichts, was auf einen neuen Aufschwung hindeuten würde. Tatsächlich hat sich die Weltwirtschaft nicht von der Krise von 2008 erholt, trotz all der Billionen Dollar, die in die Wirtschaft gepumpt wurden. Mit solch verzweifelten Mitteln gelang es einen unmittelbaren Crash wie 1929 zu verhindern, aber diese panischen Massnahmen lösten nichts Grundlegendes. Ganz im Gegenteil: Dadurch wurden neue und unlösbare Widersprüche geschaffen. Die Bourgeoisie vermied das Zusammenbrechen der Banken, aber nur zu dem Preis, dass jetzt der Bankrott ganzer Staaten auf dem Spiel steht. Was in Island passierte, ist eine Warnung was ein Land nach dem anderen erwartet. Das schwarze Loch des privaten Finanzsystems wurde in ein schwarzes Loch der öffentlichen Finanzen umgewandelt.
Jetzt ächzen die europäischen Politiker, dass die Griechen falsche Angaben machten, um ihre wahren Finanzprobleme zu verschleiern. „Wenn wir das gewusst hätten, hätten wir Griechenland niemals erlaubt, der Eurozone beizutreten“, beschweren sie sich. Aber es wird von den Banken doch erwartet, Kreditanwärter zu überprüfen und Unwahrheiten aufzudecken. Die Klage gegen Griechenland kann auch auf die Banken ausgeweitet werden. Warum haben sie die griechische Täuschung nicht rechtzeitig erkannt? Die Antwort lautet, dass sie das gar nicht erkennen wollten. Die Finanzinstitutionen waren alle selbst an der Spekulation beteiligt und machten hohe Profite mit den Wetten auf Eigenheimhypotheken oder Staatsanleihen. Bei dieser spekulativen Orgie der Geldmacherei hatten die Banken kein Interesse daran die Qualität von gewährten Krediten richtig einzuschätzen. Ganz im Gegenteil: Bei den Kreditnehmern wurde nicht so genau hingeschaut, um die Schuldtitel attraktiver erscheinen zu lassen. Genau das haben wir schon bei der US-Hypothekenkrise gesehen. Die Banken verliehen viel Geld an Leute, die nicht imstande waren, sich ein eigenes Haus zu kaufen. Tatsächlich setzten sie die Leute unter Druck über Kredit zu kaufen. Die Schuldtitel wurden aufgeteilt und neu verpackt, um dann damit spekulieren zu können. Grosse Geldbeträge wurden auf diese Art und Weise gemacht. Solange der Rubel rollte, kümmerte sich niemand um die Finanzen des griechischen Staates oder um insolvente Hausbesitzer in Alabama, Madrid oder Dublin.
Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass die kapitalistische Klasse in dieser Periode total hirnlos agierte. Wie ein betrunkener Freigeist, wurde die Bourgeoisie mit ihrem Erfolg immer besoffener. Sie dachten nur an das hier und jetzt – „hinter uns die Sintflut“. Wie die meisten Freigeister übersahen sie das unbequeme Detail, dass sie eben nur auf Krediten lebten bzw. die Schulden auch mal zurückgezahlt werden müssen. Und wie die meisten Freigeister wachten sie mit schlimmen Kopfschmerzen auf.
Aber hier enden die Gemeinsamkeiten auch schon. Die Kopfschmerzen wurden direkt an den Staat abgegeben, der sie hilfsbereit der ganzen Gesellschaft übertrug. Die Banker erhielten eine milliardenschwere, öffentliche Geldspritze und standen mit neuer Kraft aus ihrem Krankenbett auf, während dem Rest der Gesellschaft die Rechnung vorgelegt wurde.
Der Öffentlichkeit ist nun klar geworden, dass unsere sogenannte demokratische Gesellschaft in Wirklichkeit von den nicht legitimierten Direktoren der Banken und Grosskonzernen regiert wird. Sie sind durch tausende Fäden mit dem Staat und den politischen Eliten verwoben, durch die sie repräsentiert werden. Diese Einsicht hat zum Überdenken alter, beruhigender Glaubenssysteme und zu einem Bruch des gesellschaftlichen Konsenses geführt. Die Gesellschaft erfährt eine immer stärkere Polarisierung. Für die herrschende Klasse stellt dies eine riesige Gefahr dar. Dialektisch gesehen spielen nun alle Faktoren, die die Wirtschaft angetrieben haben, nun zusammen und bremsen sie wieder ein. Die Gesellschaft tritt in eine qualvolle Abwärtsspirale ein, die scheinbar kein Ende hat. Die ArbeiterInnenklasse in Europa und den USA hat wichtige Errungenschaften erkämpft, die dazu geführt haben, dass Bedingungen einer halbwegs zivilisierten Existenz geschaffen wurden. Das Fortbestehen dieser sozialen Errungenschaften kann der Kapitalismus mittlerweile nicht mehr tolerieren. Das kapitalistische System ist buchstäblich bankrott.
Wer wird für diese Schulden aufkommen? Die Ökonomen habe keine Idee, wie man aus der Krise herauskommen kann. Das Einzige, was sie sicher wissen, ist, dass die Arbeiterklasse und das Kleinbürgertum die Rechnung zahlen müssen. Aber für jeden Schritt zurück verlangen die Banker und Kapitalisten zehn weitere. Das ist der wahre Grund hinter den Angriffen, die überall vorgenommen werden.
Aber gewisse Dinge werden daraus erwachsen. Sowohl die Glorreiche Revolution als auch die Französische Revolution begannen mit einer Schuldenkrise. Beide Staaten waren bankrott, und auf der Tagesordnung stand die Frage „Wer zahlt?“ Der Adel weigerte sich zu zahlen. Damit begann die Revolution seinen Lauf zu nehmen. Auch heute sind wir mit der gleichen Situation konfrontiert. Die ArbeiterInnen werden nicht mit verschränkten Armen zuschauen, wie die herrschende Klasse systematisch alle Errungenschaften des letzten halben Jahrhunderts zerstört.
Die griechische Arbeiterschaft erhob sich gegen genau solche Belastungen. Ihrem Beispiel werden die ArbeiterInnen in Italien, Spanien und jedem anderen europäischen Land folgen. Nach dem Gesundheitssystem und dem Arbeitslosengeld ist der Schuldendienst der drittgrösste Ausgabenbereich des spanischen Staates (jährlich 35 Milliarden Dollar). Die spanische Krise zeigt sich am deutlichsten in der hohen Arbeitslosigkeit. Fast 5 Millionen Menschen haben keine Arbeit – das ist jeder Fünfte. Im Süden Spaniens sind fast 30 Prozent ohne Job. Die Hälfte aller Jugendlichen ist arbeitslos. Das war es, was die Bewegung der „indignados“ entstehen liess. “Ansteckungsgefahr” sehen wir nicht nur auf dem Gebiet der Ökonomie sondern auch auf jenem der Politik. Proteste gegen Kürzungen und Steuererhöhungen haben sich von Madrid nach Athen, von Athen nach Rom und von Rom nach London ausgebreitet. In den USA hat sich die Occupy-Bewegung wie ein Lauffeuer ausgebreitet, was als Ausdruck derselben Unzufriedenheit und Frustration gesehen werden muss. Die Zeit für eine Explosion des Klassenkampfes ist reif.
Unsere Strömung war einst der Überzeugung, dass der Euro gar nicht erst eingeführt werden könnte, weil es unmöglich sei, Wirtschaften zu vereinigen, die sich in verschiedene Richtungen entwickeln. Doch eine Weile lang ging die Sache – vor allem wegen dem länger als erwartet andauernden kapitalistischen Boom – gut. In einem Dokument von 1997 schrieben wir, dass der Euro „unter gegenseitigen Schuldzuweisungen“ zerbrechen würde. Dieses Szenario beginnt sich jetzt vor unseren Augen zu realisieren.
Die Eurozone geht durch die schwerste Krise ihrer gesamten Geschichte und ein grosses Fragezeichen steht über ihrer zukünftigen Existenz. Wie wir vor langer Zeit voraussagten, brechen in einer schweren Krise all die nationalen Gegensätze auf, so wie wir es jetzt in den gespannten Beziehungen zwischen Griechenland, Frankreich, Deutschland und Italien sehen. Die Europäische Union steht vor dem Tag ihres jüngsten Gerichts.
Nichts davon sollte eigentlich passieren. Laut den Maastricht-Kriterien waren hohe Schulden und Budgetdefizite nicht erlaubt. Aber Maastricht ist jetzt nur noch eine verblassende Erinnerung. Da alle Mitgliedsländer dieselbe Währung unter einer einzigen Zentralbank haben, die einen einheitlichen Leitzins festsetzt, sollte theoretisch jedes Land ungefähr zu den gleichen Konditionen Geld leihen können. Aber 2010 begannen die Märkte zwischen den stärkeren Ökonomien der Eurozone – Deutschland und seine Satteliten (Österreich, die Niederlande und wenige andere) und den schwächeren Ökonomien wie Griechenland, Irland, Portugal, Spanien und Italien zu unterscheiden. Jetzt sind sogar schon stärkere Ökonomien wie Frankreich, Österreich und die Niederlande betroffen. Standard & Poors hat sogar davor gewarnt, dass 15 von 17 Mitgliedern der Eurozone eine Abwertung ihrer Kreditwürdigkeit droht. Sogar über Deutschland wurde ein Fragezeichen gesetzt.
Zunehmend werden von der zweiten Kategorie von Staaten zur Strafe hohe Zinssätze für Geld, das auf den Finanzmärkten geliehen wird, verlangt. Die höheren Forderungen machen die Schuldenlast noch unerträglicher und schwerer zurückzuzahlen. Wenn also eine Ratingagentur wie Moody`s die Bewertung der Kreditwürdigkeit für ein Land senkt, wird das zu einer „self-fulfilling prophecy“. Die Rendite für italienische Staatsanleihen stieg auf nahezu 7,5%, bevor die Berlusconi-Regierung zusammenbrach. Wie haben sogar schon vor dem Start des „Euro“-Projekts erklärt, dass es unmöglich ist, Ökonomien zu vereinigen, die in verschiedene Richtungen ziehen. Jetzt warnen einige bürgerliche Wirtschaftswissenschaftler davor, dass der sich aufbauende Druck und die Spannungen zum Kollaps der Einheitswährung führen könnten. Jetzt wird zum ersten Mal offen über die Möglichkeit diskutiert, dass nicht nur der Euro, sondern sogar die EU auseinanderbrechen könnte. Der Kursrückgang des Euro ist ein Ausdruck für die unlösbaren Widersprüche innerhalb der EU.
Wir haben schon die Pleite mehrerer europäischer Grossbanken gesehen. Dies hat zu einergenerellen Stimmung der Nervosität beigetragen. In den USA sahen wir den Bankrott von MF Global, was den grössten Zusammenbruch eines Wall Street Unternehmens seit der Pleite von Lehman Brothers im September 2008 darstellte.
An einem bestimmten Punkt könnte das alles einen ähnlichen Effekt haben wie der Zusammenbruch der österreichischen Credit-Anstalt im Mai 1931. Die Credit-Anstalt galt als unverwundbar, als sie zusammenbrach, löste das einen Dominoeffekt in Kontinentaleuropa aus und die darauf folgende Welle der Panik war bis in die USA zu spüren. Auf dieselbe Art und Weise könnte ein griechischer Staatsbankrott die Finanzkrise nicht nur nach Europa, sondern über die ganze Welt verbreiten.
Die Krise in Europa begann in Griechenland und obwohl sie in Deutschland, Österreich und Skandinavien etwas verspätet spürbar wurde, hat sie jetzt angefangen, sich auszubreiten. Früher oder später werden sie alle in diesen Strudel gezogen werden. Um die Märkte zu beruhigen, versicherten Deutschland und Frankreich zuerst, dass Griechenland ein „integraler Bestandteil“ der Einheitswährung bleiben würde. Aber obwohl diese kühnen Versicherungen die Märkte zwischenzeitlich beruhigten, waren es doch nur Worte, die bald in alle Winden zerstreut wurden. Griechenland wurde faktisch in einen Teilbankrott getrieben. Die internationalen Finanzmärkte aber arbeiten unter der Prämisse, dass Griechenland komplett bankrott gehen wird.
2010 lieh sich Griechenland eine Summe in Höhe von 10,5% des BIP, nur um damit die allgemeinen Staatsausgaben zu finanzieren. Es ist klar, dass Griechenland seine Schulden nicht bezahlen kann. Die durch die Troika erzwungenen Kürzungen haben nur den Effekt, dass das Land noch weiter in den Sumpf aus Rezession, Arbeitslosigkeit und Elend gestossen wird. Sogar wenn der derzeitige Plan bis aufs Letzte ausgeführt wird – was eine Menge voraussetzt – wird das griechische Defizit 2020 immer noch bei 120% des BIP stehen, während die Menschen in Griechenland einen weiteren Einbruch ihres Lebensstandards hinnehmen müssen.
Als Gegenleistung für die „Hilfen“ wird die griechische Regierung dazu gezwungen, auch den letzten Tropfen Blut aus dem griechischen Volk zu pressen. Aber es ist unmöglich, aus einem Stein Blut zu pressen. Das ist das erste Problem. Das zweite ist, dass Länder wie Finnland, die Slowakei und die Niederlande Probleme damit haben, weitere Rettungspakete zu bezahlen. Noch wichtiger ist aber, dass sich auch die Stimmung in Deutschland in diesem Punkt verhärtet.
Es scheint fast sicher, dass Griechenland früher oder später aus der EU geworfen wird. Aber das wird sehr ernsthafte Auswirkungen für Griechenland und die ganze EU haben. Alle objektiven Bedingungen für eine Revolution waren in Griechenland in den letzten 18 Monaten gegeben:
– Die herrschende Klasse war gespalten und es fehlte ihr an Selbstvertrauen;
– Die Mittelschichten schwankten und neigten dazu, eine revolutionäre Umwälzung zu unterstützen;
– Die Arbeiterklasse kämpfte und war bereit, die grössten Opfer zu bringen.
Was könnte man mehr von der griechischen Arbeiterklasse erwarten? Was könnte sie noch tun? Wenn sie die Macht nicht übernahm, war das nicht ihre Schuld, sondern die ihrer sogenannten „Führer“. Das Versagen der Führung war alles, das die ArbeiterInnen zurückhielt. Wenn die Führung der Kommunistischen Partei Griechenlands eine korrekte leninistische Position eingenommen hätte (sowohl in Sachen Programm als auch was eine richtige Anwendung der Einheitsfronttaktik angeht), wäre die Machtfrage schon gestellt worden. In vielen Aspekten war die Situation viel weiter fortgeschritten als in Russland im Februar 1917.
Nach den ersten Generalstreiks in Griechenland wurde die Parole des 24-stündigen Generalstreiks bedeutungslos. Die Bewegung ist darüber hinaus gegangen. Die einzige passende Parole war die des unbegrenzten Generalstreiks. Aber in der Situation, in der Griechenland sich befindet, stellt diese Losung die Machtfrage. Mit dieser Parole kann man nicht spielen. Sie muss mit der Herausbildung von Organen der Volksmacht verbunden werden – Aktionskomitees.
Es ist möglich, dass ein Teil der herrschenden Klasse mit einem Putsch liebäugelt. Aber nach der Erfahrung der Junta in den 1960ern würden die griechischen ArbeiterInnen die Errichtung einer Diktatur nicht passiv hinnehmen. Ein solcher Versuch würde unweigerlich in einem Bürgerkrieg enden. Das Problem dabei ist, die Bourgeoisie ist sich nicht sicher, dass es diesen gewinnen könnte. Die griechische Arbeiterklasse ist weit stärker als sie es damals war, ihre Organisationen sind intakt und sie hat seit Jahrzehnten keine ernste Niederlage hinnehmen müssen.
Deswegen, und nicht aus irgendeiner gefühlsmässigen Bindung an die Demokratie, wird die herrschende Klasse versuchen, ihre Interessen auf andere Art und Weise durchzusetzen, angefangen mit einer „Regierung der nationalen Einheit“. Das wird in einer weiteren Verschärfung des Klassenkampfes, einer starken Polarisierung zwischen Links und Rechts und einer Reihe von instabilen bürgerlichen Regierungen enden. Bevor eine entscheidende Klärung der Angelegenheit auf revolutionärem oder konterrevolutionärem Weg stattfinden kann, wird das Pendel scharf nach links und rechts ausschlagen. Bevor die herrschende Klasse den Weg der offenen Reaktion geht, wird die Arbeiterklasse viele Gelegenheiten dazu haben, die Macht zu übernehmen.
Einige in der griechischen Linken treten für einen Austritt aus dem Euro ein. „Bringt die Drachme zurück“, so lautet ihre Parole. Aber in der Praxis würde ein Verlassen der Währungsunion unweigerlich ein Verlassen der EU nach sich ziehen. Das würde Griechenland ohne Handelsabkommen mit Europa zurücklassen. Sich vorzustellen, dass die EU mit verschränkten Armen zusehen würde, während billige Waren aus Griechenland ihre Märkte überschwemmen, ist völlig utopisch.
Wie die Schweizer UBS- Bank feststellte, würde eine isolierte griechische Wirtschaft sich sofort als Opfer von protektionistischen Massnahmen wiederfinden:
„Die Annahme, dass ein Staat, der aus dem Euro austritt, sofort einen Wettbewerbsvorteil durch eine Abwertung der neuen nationalen Währung gegenüber dem Euro haben würde, wird der Realität kaum standhalten können. Der Rest der Eurozone (in Wirklichkeit der Rest der Europäischen Union) wird kaum einem Austritt mit stiller Gleichgültigkeit zusehen. Im Falle einer Abwertung der neuen Währung um 60% gegenüber dem Euro scheint es sehr wahrscheinlich, dass die Eurozone 60prozentige Zölle (oder sogar noch mehr) auf Exporte aus dem sich abspaltenden Land einheben würde. Die Europäische Kommission spielt ausdrücklich auf diesen Fall an, indem sie ankündigt, dass falls ein Land die Eurozone verlassen sollte, dieses jede übermässige Schwankung der nationalen Währung „kompensieren“ müsste.
Global Economic Perspectives, 6. September 2011, UBS
Die UBS gibt eine grobe Schätzung dafür ab, wie hoch die Kosten für ein schwaches Land wie Griechenland bei einem Verlassen der Eurozone wären. Sie schätzt, dass die Währung jedes solchen Landes um 60% gegenüber dem Rest der Eurozone fallen würde. So etwas kann nicht mit den leichten Anpassungen bei den Schwankungen unter dem europäischen Währungssystem in den 1980ern und Anfang der 1990er verglichen werden. Stattdessen ist der passendere Vergleich der mit dem ökonomischen Zusammenbruch Argentiniens vor einem Jahrzehnt.
„Der Bankrott des Staates und privater Unternehmen würde die Risikoprämie für die Kapitalkosten erhöhen – unter der Annehme, dass das heimische Bankensystem imstande ist das Kapital zur Verfügung zu stellen. Konservativ geschätzt würde dies einen Anstieg der Risikoprämie um 700bp mit sich bringen. Wenn das Bankensystem völlig paralysiert ist (einmal mehr kann Argentinien als Beispiel dienen, oder das US- Bankensystem während des Zusammenbruchs der US-Währungsunion 1932-33), dann steigen die Kapitalkosten de facto unendlich an. In einer extremen Paralyse des Finanzsektors ist Kapital zu welchem Preis auch immer nicht zu bekommen.
Global Economic Perspectives, 6. September 2011, UBS
Die Bank aus der Schweiz sagt darüber hinaus einen Einbruch des Handelsvolumens um 50% voraus sowie die Einführung von protektionistischen Zöllen, um damit die Währungsabwertung des austretenden Staates auszugleichen. Sie sagt ausserdem Verluste der Banken von 60% voraus („Natürlich rechnen wir auch mit einem Sturm auf die Banken, bevor der Austritt stattfindet“)
„Wenn man alle diese Faktoren in Betracht zieht, müsste ein Land mit Kosten von 9500€ bis 11,500€ pro Einwohner rechnen, wenn es aus der Eurozone austritt. Man muss dabei bedenken, dass während eine Rekapitalisierung der Banken ein einmaliger Kostenfaktor wäre, die höheren Risikoprämien und die Stagnation des Handels Jahr für Jahr getragen werden müssten. Die sofortigen Kosten würden also bei 9500€ bis 11,500€ pro Einwohner liegen, und in jedem weiteren Jahr müsste man mit weiteren 3000€ bis 4000€ pro Person rechnen.“
Und die Bank fügt hinzu: „Das sind konservative Schätzungen. Die wirtschaftlichen Kosten durch soziale Unruhen, ein Zerbrechen des austretenden Landes usw. sind nicht in diesen Kosten inkludiert.“
Die griechische Revolution muss wiederum mit der Perspektive einer europäischen Revolution verknüpft werden. Aber die Linke, und speziell die Stalinisten, sind mit dem Virus des Nationalismus infiziert. Sie stellen sich vor, dass die Probleme Griechenlands innerhalb der engen Grenzen des Kapitalismus und innerhalb der Grenzen Griechenlands mit einem Austritt aus der EU gelöst werden können. Das ist ein Weg in die Katastrophe. In Wirklichkeit gibt es keine Zukunft für den griechischen Kapitalismus, weder innerhalb der EU noch ausserhalb.
Eine neu eingeführte Drachme wäre wertlos. Der Zusammenbruch der Währung würde die Inflation anheizen, Sparguthaben auslöschen und zu einer massiven Arbeitslosigkeit führen. Dies wäre eine Situation wie in Deutschland 1923, in der die Währung zerstört wurde, was eine revolutionäre Situation bewirkte.
Es würde wie in Argentinien vor zehn Jahren ein Sturm auf die Banken einsetzen, wo verzweifelte Menschen vor Geldautomaten schliefen, um ihr Geld abheben zu können, sobald die Automaten wieder aufgefüllt wurden. Vor einer Pleite ziehen Firmen und Individuen so viel Geld wie möglich ab. Aus Griechenland fliesst bereits Geld ab, vieles davon nach Zypern, in die Schweiz und London.
Im Falle von Argentinien führte die Staatspleite wegen 93 Milliarden $ Auslandsschulden – die grösste Staatspleite aller Zeiten – zu einem Fallen der Binnennachfrage um 60%, weil die Spareinlagen der meisten Haushalte ausgelöscht wurden und auch die Inflation sie fest im Griff hatte. Alle Importgüter, sei es ein BMW oder ein Sack Reis, wurden zu unbezahlbarem Luxus.
Die Banken würden geschlossen. Die Regale der Supermärkte wären leer. Die Reichen würden ihre Aktenkoffer mit Dollars vollstopfen und sich auf den Weg zum nächsten Flughafen machen. Stephane Deo von der UBS schreibt:
„Wenn ein Land bis zu dem Extremfall gelangt ist, dass es die Einführung des Euro rückgängig machen würde, ist es mindestens plausibel, dass zentrifugale Kräfte danach streben würden, das Land auseinanderzureissen… Das Aufbrechen einer Währungsunion ist fast immer verbunden mit Extremsituationen wie sozialen Unruhen oder Bürgerkrieg.“
Bei einem Staatsbankrott wird kein Geld mehr verliehen, und das wirtschaftliche Leben kommt zum Stillstand. Arbeitslosigkeit und Armut explodieren. Im Falle von Argentinien stieg die Arbeitslosenrate auf nahezu 25%. Bis 2003 stieg der Anteil derjenigen, die in „extremer Armut“ leben, auf 26% der Bevölkerung und insgesamt 50% befanden sich unter der Armutsgrenze. Die ArbeiterInnen übernahmen gescheiterte Firmen und führten sie unter Arbeiterkontrolle weiter. Es entstanden auch auf lokaler Ebene Komitees, die dabei halfen, Nahrung zu verteilen und das Gesundheitswesen zu organisieren.
Der wirtschaftliche Zusammenbruch in Argentinien führte zu einer revolutionären Situation, aber es gab keine revolutionäre Partei, die fähig dazu gewesen wäre, eine Revolution zu führen. In 2001 befand sich Argentinien im Aufstand. Der Präsident Fernando de la Rúa floh mit dem Hubschrauber vom Dach des Casa Rosada-Palastes. Wenige Tage später meldete das Land offiziell den Staatsbankrott an. Hätte eine wirkliche bolschewistische Führung existiert, sie hätten die Macht übernehmen können. Die ziemlich grossen „trotzkistischen“ Sekten dort waren aber absolut unfähig dazu, die Bewegung vorwärts zu treiben, und die Chance war verstrichen.
Bis hier hin zeigen sich deutliche Parallelen zwischen Athen und Buenos Aires. Wenn Griechenland die Eurozone verlassen würde, wären die Folgen genauso schmerzhaft. Und es gäbe schwerwiegende politische Konsequenzen. Aber hier endet die Analogie auch schon. Als die revolutionäre Situation verpasst war, gewann die herrschende Klasse ihren Mut zurück und die Situation wurde schliesslich in ihr Gegenteil verwandelt. Nachdem Anlagen in Argentinien um 80% billiger geworden waren, kamen die ausländischen Investoren zurück. Argentinien kam nach den Schrecken vom Dezember 2001 wegen dem abgewerteten Peso rascher wieder auf die Beine als gedacht.
Dies führte zu einer schnellen Erholung der Exporte und das Land verzeichnete bald einen massiven Aussenhandelsüberschuss. Das Wirtschaftswachstum stieg um 8,7 – 9,2% zwischen 2003 und 2007 und die Arbeitslosigkeit fiel. Das wird für Griechenland als hoffnungsvoller Präzedenzfall gesehen. Aber der Vergleich führt in die Irre. Die argentinische Wirtschaft profitierte vom weltweiten Boom des Kapitalismus und der steigenden Nachfrage für seine Agrarprodukte, etwa die chinesische Nachfrage nach Soja. Aber der griechische Staatsbankrott wird unter ganz anderen Umständen stattfinden: In einer weltweiten Krise, schrumpfenden Märkten, sinkender Nachfrage und Protektionismus.
Der griechische Kapitalismus würde keine Vorteile aus einer Abwertung seiner Währung ziehen, aber würde düsteren Konsequenzen in Form der importierten Inflation, der feindseligen protektionistischen Massnahmen seiner ehemaligen Partner in der EU, des Zusammenbruchs seines Bankensystems und dem Abschneiden von Kredit und Investitionen entgegensehen. Dies wäre eine neue und fatale Wendung in einer Abwärtsspirale aus wirtschaftlicher, sozialer und politischer Krise, die mit revolutionären Möglichkeiten schwanger gehen würde.
Nachdem Griechenland, Irland, Portugal und Spanien in den Abgrund gezogen wurden, haben die Haie ihre Aufmerksamkeit auf Italien gelenkt, dass auf einem enormen Schuldenberg sitzt, der etwa 120% des BIP beträgt. Das ist nach Griechenland der zweithöchste Wert in der EU. Ausserdem werden 2012 Staatsschulden in Höhe von 335 Milliarden € fällig, was viel mehr ist als die von Griechenland, Portugal und Irland zusammengenommen. Das Land wird sich hunderte Milliarden leihen müssen, und jedes Mal, wenn es um einen Kredit anfragt, werden sich die Investoren wegen der hohen Staatsschulden fragen, ob sie ihr Geld zurückgezahlt bekommen.
Das ist eine Bedrohung für die Existenz der Eurozone. Die Europäische Zentralbank mag dazu fähig sein, Griechenland einige Zeit über Wasser zu halten (aber auch hier sind starke Zweifel angebracht). Sie hat es geschafft, Rettungsaktionen für Irland und Portugal zu inszenieren, die aber gar nichts gelöst haben. Aber die EZB verfügt schlicht und einfach nicht über genug Geld, um ein Land in der Grösse von Spanien oder Italien zu retten. Jeder Versuch, dies zu tun, würde schnell die Mittel der Bank ausschöpfen. Hohe Vertreter der EU haben davor gewarnt, dass die Krise in der Eurozone die Europäische Union zerstören könnte. Die Regierungen von Deutschland und Frankreich waren dazu gezwungen, mehr Geld an Griechenland auszuzahlen, um damit eine Pleite zu verhindern, die Chaos ausgelöst hätte. Der Europäische Kommissar für Wirtschaft und Währung Olli Rehn meinte:
„Egal von welcher Seite man es auch betrachtet, eines ist absolut sicher: Eine Pleite und/oder eine Verlassen der Eurozone durch Griechenland hätte dramatische wirtschaftliche, soziale und politische Kosten zur Folge, nicht nur für Griechenland, sondern auch für alle anderen Mitgliedsländer der Eurozone und der EU, sowie für unsere globalen Partner.“
Zu Beginn der Griechenlandkrise beruhigte sich die Bourgeoisie damit, dass davon nur die Staaten am Rand von Europa betroffen seien. Aber die Vorstellung davon, wen diese Kategorie der risikoreichen peripheren europäischen Staaten in den Augen der Märkte alles umfasst, dehnt sich von Tag zu Tag mehr aus. Die europäischen Aktienmärkte erlebten neue und immer tiefere Kursstürze. Die Vorstellung, dass man Griechenland – oder Irland, oder Grossbritannien – isolieren könnte, ist eine törichte Illusion. Sie sitzen alle im selben Boot, und nur weil einige Passagiere der ersten Klasse sind, wird sie das nicht retten, wenn das Boot dort Leck schlägt, wo die Passagiere der zweiten Klasse sitzen.
Was heisst das alles für die Menschen in Irland und Portugal? Das heisst, dass alle Opfer umsonst waren. Die ArbeiterInnen und Bauern in Irland sollen immer grössere Opfer bringen, um die Geldverleiher zu bezahlen. Aber wie im Falle von Griechenland sorgen die fortlaufenden Attacken auf den Lebensstandard der Massen nur dafür, dass die Basis der Wirtschaft unterminiert wird. Irland ist jetzt sogar noch weniger fähig, seine Schulden zu bezahlen, als davor.
Wenn Griechenland nicht mehr zahlt, wird die Bevölkerung in Irland und Portugal sagen: „Warum sollten wir zahlen?“ Die Konsequenzen einer griechischen Zahlungsunfähigkeit für den Rest von Europa wären deswegen sehr ernst. Dies würde eine Kettenreaktion auslösen, die zusammenbrechende Banken und andere Staaten erfassen würde. Französische Banken sind ebenso wie deutsche Banken in Griechenland sehr stark involviert. Dies gilt auch für österreichische Banken in Italien usw. Die Ergebnisse wären katastrophal für ganz Europa, und nicht nur für Europa. Die Märkte haben ihr Vertrauen in die europäischen Banken verloren. Dies beschwört eine Bankenkrise nicht nur in Spanien und Italien, sondern auch in Belgien und Frankreich herauf. Die französisch-belgische Bank Dexia musste im Oktober 2011 verstaatlicht werden, weil diese sonst zusammengebrochen wäre. Eigentlich sollte dies eine „gesunde“ Bank sein. Beim berühmten „Stresstest“ der Bankenaufsichtsbehörde im Juli 2011 kam sie auf den 12. Platz unter den 90 Grossbanken, die sich dem Test unterzogen. Die Kurse dreier französischer Banken brachen ein, weil es Befürchtungen bezüglich ihrer Anfälligkeit gegenüber den griechischen Staatsschulden gab. Moody ?s stufte Credit Agricole und Societe Generale herunter und setzte ein grosses Fragezeichen über BNP Paribas.
Die französischen Banken sind besonders anfällig wegen der Griechenlandkrise. Die Schulden des französischen Staates machen zusammengenommen 1,6 Billionen € aus (83% des BIP). Die Staatsschulden steigen jedes Jahr um sieben bis acht Prozentpunkte, trotz aller Kürzungen. 2011 betrug das Staatsdefizit 150 Milliarden €. Wenn es so weitergeht, wird das zu einem generellen Zusammenbrechen der Finanzen in Frankreich wie in Griechenland führen. Das ist es, was Sarkozy dazu bewog zu sagen, er werde „alles tun um Griechenland zu retten“. Aber diese Art von „Hilfe“ ist vergleichbar damit, jemanden mit Stacheldraht fest einzuschnüren.
Das Problem ist, dass zwar jeder den Euro retten, aber niemand dafür in die eigene Tasche greifen will. Ein Zeichen für die Verzweiflung der Regierungen in Europa ist es, dass sie die BRICS-Gruppe (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) gebeten haben, Geld für die Lösung der Probleme zur Verfügung zu stellen.
All diese Gespräche haben nirgendwohin geführt. Sarkozy reiste nach China, wo er höflich aber bestimmt darauf hingewiesenen wurde, dass China nicht helfen würde. Der Grund dafür ist, dass sie sich nicht sicher sind, ob sie ihr Geld zurückbekommen würden. Jedenfalls befürchten sie eine Drosselung des Wachstums im eigenen Land, somit bräuchten sie das Geld, um sich selbst zu helfen. Wie wir alle wissen, fängt Wohltätigkeit im eigenen Haus an.
Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel hat davor gewarnt, dass Europa ein „Dominoeffekt“ droht, wenn es nicht an einem Strang zieht. Sie sagte: „Es ist von oberster Priorität, eine unkontrollierte Insolvenz zu verhindern, weil diese nicht nur Griechenland betreffen würde und die Gefahr, dass sie alle betreffen würde – oder zumindest mehrere Staaten – ist sehr gross.“ „Ich habe meine Position sehr klargemacht darin, dass alles getan werden muss, um die Eurozone politisch zusammen zuhalten, weil wir sonst bald einen Dominoeffekt hätten.“
Das sind keine leeren Worte. Die Krise breitet sich schnell aus. Italiens Staatsschulden stehen bei 120% des BIP, was Italien ins Visier der Anleihemärkte geraten lässt. Die Kosten für Kredite erreichen für Italien wegen der Sorgen um die Staatsschulden neue Höchststände. Im September 2011 stiegen die Zinssätze für fünfjährige Staatsanleihen von 4,93% auf 5,6% und schnellten schliesslich auf unbezahlbare 7,5%. Wenn die Raten über einem solchen Wert bleiben, entwickeln die Märkte ihre eigene unaufhaltsame Dynamik.
Italien ist eine der sieben führenden Industrienationen (G7) und hat die drittgrösste Wirtschaft der Eurozone. Eine Krise in Italien hätte verheerende Folgen für ganz Europa. Der Auslöser für die Unsicherheit der Märkte war die instabile Regierung in Rom. Der Fall von Berlusconi fusste auf der tiefen Skepsis gegenüber den Finanzen des Landes.
Der italienische Kapitalismus ist hinter seine Hauptrivalen zurückgefallen. Diese Schwäche wurde zum Teil durch den Boom verdeckt, aber durch die Wirtschafts- und Finanzkrise brutal entblösst. Seit dem Beginn der Krise wuchs die italienische Wirtschaft gerade einmal um ein Prozent jährlich. Im ersten Quartal 2011 waren es ohne Aussicht auf Verbesserung gerade einmal 0,1%, weit unter den durchschnittlichen 0,8% in der Eurozone. Die Investoren begannen plötzlich zu fragen, wie Rom jemals seine Schulden zurückzahlen könnte.
In dieser Situation rief der Präsident der Republik Giorgio Napolitano die Opposition zur „nationalen Entschlossenheit“ auf. Und er bekam schnell das, was er wollte. Alle drei Oppositionsparteien im Parlament sagten zu, einem Sparpaket nicht im Weg zu stehen. Aber Berlusconis Programm war zu wenig für die Bosse und zu viel für die ArbeiterInnen. Das italienische Parlament beschloss das 54,2 Milliarden €-Sparpaket der Berlusconi-Regierung, aber auf den Fuss folgten Demonstrationen und ein Generalstreik Anfang September.
Das zeigte der herrschenden Klasse, dass sie sich zur Durchsetzung ihrer Interessen auf Berlusconi nicht verlassen konnte, und deswegen setzte sie sich gegen ihn in Bewegung. Der Präsident der Republik Giorgio Napolitano schritt ein und legte Berlusconi den Rücktritt nahe. Daraufhin ernannte er Mario Monti zum Senator auf Lebenszeit und beauftragte ihn sofort damit, eine neue Regierung zu bilden. Die Regierung setzt sich aus nicht gewählten sogenannten „Technokraten“ zusammen: Bankiers, Anwälte und sogenannte technische Experten. Die Aufgabe so einer Regierung ist es, drakonische Sparmassnahmen schnell zu verwirklichen. Zu Beginn kann sie auf die Unterstützung aller grossen Fraktionen im italienischen Parlament zählen, ausgenommen der Lega Nord. Die Art und Weise, wie Monti der italienischen Bevölkerung als Premierminister vorgesetzt wurde, ist ein Anzeichen dafür, wie schwerwiegend diese Krise ist. Die europäische Bourgeoisie lenkt ganze Länder, indem sie Banker und EU-Bürokraten von oben einsetzt (Griechenlands neuer Premier Papadimos war einst Vizepräsident der EZB) und temporär die Feinheiten der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie aufhebt.
Solch eine Regierung kann aber nicht lange im Amt bleiben, weil ihr das fehlt, was bürgerliche Kommentatoren die “demokratische Legitimität” nennen. Sobald den Lohnabhängigen und der Jugend einmal die Massnahmen dieser Regierung klar sind, wird es zu einer massiven Reaktion kommen und Neuwahlen werden ausgerufen. Unter diesen Umständen wird die Bourgeoisie schlussendlich keine andere Alternative haben, als den Schierlingsbecher an das “Mitte-Links”-Bündnis weiterzureichen, deren ex-kommunistische Führung danach giert, ihn bis auf den letzten Tropfen auszutrinken.
Diese Führung der „Linken“ in Italien verhält sich wie ihre KollegInnen in jedem anderen Land. Sobald die herrschende Klasse auch nur den kleinen Finger hebt, dann beginnen sie auch schon dem Kapital zu zeigen, dass sie sich wirklich „staatsmännisch“ verhalten und man ihnen die Regierungsgeschäfte anvertrauen kann. Dieses schändliche Verhalten mag die herrschende Klasse davon überzeugen, dass man der “Linken” ruhig die Verwaltung des Kapitalismus anvertrauen kann, doch die ArbeiterInnenklasse wird für dieses „Verantwortungsbewusstsein“ einen teuren Preis zu zahlen haben. Ökonomen haben wiederholt betont, dass “Italien nicht wie Griechenland oder Portugal” ist und „Italiens ökonomische Grunddaten nicht so schlecht sind“. Das mag stimmen, aber es wird die Märkte in ihrem gegenwärtigen Zustand der Nervosität nicht überzeugen. Der Corriere della Sera rief zur Ruhe auf: “Es bringt nichts, wenn man sich über internationalen Spekulanten mokiert. Wenn wir uns ernsthaft anstrengen, haben wir nichts zu fürchten. Leider waren wir bis jetzt nicht ausreichend ernsthaft. Aus diesem Grund reagieren die Märkte.”
Die Frage ist: Wie soll Italien den Märkten seine “Ernsthaftigkeit” beweisen? Die Antwort gibt uns Griechenland: Nur durch massive Kürzungen beim Lebensstandard. Die gegenwärtige Stimmung der erzwungenen Unterwürfigkeit wird sich in Wut verkehren. Die Szenen, die wir in Griechenland gesehen haben, werden sich in Italien wiederholen, trotz all der Bemühungen der Führungen dies zu verhindern.
Deutschland und der Euro
Vor 20 Jahren, nach dem Zusammenbruch der UdSSR, hatte die herrschende Klasse in Deutschland grosse Ambitionen. Ihre Idee war es, dass ein vereintes Deutschland Europa beherrschen könnte. Mit der Macht der eigenen Ökonomie sollte erreicht werden, wo Hitler einst mit militärischen Mitteln gescheitert war. In den vergangenen zwei Jahrzehnten wurde Frankreich zusehends an die zweite Stelle gedrängt und Deutschland ist nun in Europa die bestimmende Kraft.
Diese Ambitionen kommen der herrschenden Klasse in Deutschland jetzt aber teuer zu stehen. Das wirtschaftliche Schicksal Deutschland ist nun untrennbar verbunden mit dem eines Europas, das einem Geriatriezentrum gleicht. Die Idee einer stärker integrierten EU gefiel jenen Sektoren der deutschen Bourgeoisie, die noch immer Grossmachtansprüche hegen. Doch die letzten 20 Jahre haben Deutschland auch davon überzeugt, dass solche Ambitionen mit einem deftigen Preis verbunden sind. Dieser Widerspruch zeigte sich anhand der jüngsten Debatte über die mögliche Schaffung von “Eurobonds”.
Deutschland hat eine niedrigere Staatsverschuldung als die anderen europäischen Staaten. In den vergangenen Jahrzehnten hat das deutsche Kapital unerbittlich die ArbeiterInnen ausgepresst. Zwischen 1997-2010 stieg die Arbeitsproduktivität in der deutschen Industrie um 10 Prozent, die Löhne sanken ungefähr um denselben Wert. Im Vergleich zu den PIIGS-Staaten an der europäischen Peripherie sanken somit die Arbeitskosten pro Stück in Deutschland um 25 Prozent. Obwohl deutsche ArbeiterInnen höhere Löhne erhalten als ihre KollegInnen in den meisten anderen europäischen Ländern, ist die Ausbeutungsrate in Deutschland viel höher. Das ist das Geheimnis der deutschen Wettbewerbsfähigkeit. Das Problem ist, dass Deutschland am Ende des Tages die produzierten Güter irgendwo verkaufen muss.
Während des Booms kauften Griechenland und der Rest von Europa deutsche Produkte mit deutschen Krediten. Wir hatten es mit einem konsumgetriebenen Boom zu tun, und einem Boom des Bankensektors. Deutschland gewährte die Kredite und machte viel Geld mit dem Schuldendienst. Aber das hat alles seine Grenzen. Die Stärke Deutschlands ist mehr Schein als Sein. Das Schicksal der deutschen Ökonomie hängt von der Entwicklung im Rest von Europa ab. Wenn der Euro zusammenbrechen würde, hätte das einen verheerenden Effekt für Deutschland. Von Deutschland wird erwartet, dass es Europa aus der Krise zieht, doch seine Schultern sind zu schmal, um ein solches Gewicht heben zu können. Deutschland versucht eine Staatspleite Griechenlands zu verhindern, nicht aus Altruismus, sondern um die deutschen Banken zu retten. Sie hoffen so die Ausweitung der Fäulnis auf andere Länder stoppen zu können. Deutsche Banken halten 17 Mrd. € an griechischen und sogar 116 Mrd. an italienischen Staatsanleihen.
Deutschland hatte keine andere Wahl und musste Griechenland stützen. Schon gar nicht kann sich Deutschland eine Pleite Spaniens oder Italiens leisten. Aber schon gar nicht können sie es sich leisten einen „Rettungsschirm“ für diese Länder zu spannen. Die Erkenntnis macht sich nun schrittweise in Berlin breit, dass die sich rapide ausbreitende Wirtschaftskrise Deutschland mit nach unten ziehen könnte. Nachdem es schon nicht gelungen ist, trotz gewaltiger Finanzspritzen die Griechenlandkrise zu lösen, kann man davon ausgehen, dass nicht genügend Geld in der Bundesbank zur Verfügung hat, um für die Schulden von Spanien und Italien garantieren zu können.
Deshalb lehnt Deutschland auch die Idee der “Eurobonds” ab, weil es dann die Rechnung bezahlen müsste. Dies würde auch eine neue Runde in den Verhandlungen rund um die EU-Verträge erforderlich machen. Das wäre eine sehr schmerzhafte Erfahrung, die alles andere als zu einem vereinten Europa führen, sondern alle angelegten Widersprüche und Spaltungstendenzen zwischen den verschiedenen Nationalstaaten offenlegen würde. Anstatt ein vereintes Europa zu schaffen, könnte das das Aufbrechen der EU sogar beschleunigen.
Wenn Griechenland untergeht, würde sich unmittelbar die Frage einer Ausbreitung der Krise auf andere Länder stellen. Irland, Portugal, Spanien und Italien würden wie Dominosteine fallen. Banken werden zusammenbrechen, beginnend in Griechenland und Zypern, und dann in weiterer Folge würden das britische und das US-Finanzsystem, die beide ungesund sind, betroffen sein. Ein ökonomischer Zusammenbruch in Europa würde einen Tsunami über den Atlantik schicken, den Dollar unter Druck setzen und das instabile Finanzgerüst der USA bedrohen.
Deshalb verfolgen die USA die sich entfaltende Krise auf der anderen Seite des Atlantik mit grosser Sorge. Die USA drängen Europa sein Haus in Ordnung zu bringen, doch es übersieht geflissentlich die Unordnung im eigenen Haus. Die USA leiden unter hohen Defiziten, einer Wachstumskrise, hoher Arbeitslosigkeit und einer tiefen politischen Krise.
Die USA wenden sich verzweifelt an Deutschland “mehr zu machen”, um Europa aus der Krise zu ziehen. Deutschland soll die Steuern senken; Deutschland soll die Wirtschaft ankurbeln und mehr Geld nach Griechenland schicken und einen koordinierten fiskalpolitischen Stimulus in ganz Nordeuropa initiieren. Deutschland soll dies tun, Deutschland soll das tun. Doch wer sind die Amerikaner, dass sie den Deutschen anschaffen können, was sie tun sollen.
U.S.-Finanzminister Timothy Geithner warnte davor, dass ein Versagen der EU bei der Lösung der Griechenlandkrise eine ernsthafte Bedrohung für die gesamte Weltwirtschaft bedeuten würde. Völlig unüblich nahm Geithner an den Gesprächen zwischen den EU- Finanzministern und den EU-Notenbankchefs in Polen teil, wo er die Anwesenden wie kleine Kinder schulmeisterte. Nachher sagte er, dass die europäischen Staaten „nun erkannt haben, dass sie mehr tun müssen“, wenn sie die Krise lösen wollen.
Ja, sagen die Europäer, aber wer soll für all das zahlen? Auf diese Frage kann es nur eine Antwort geben: Frankreich und Deutschland, oder besser gesagt, Deutschland, das Europas Banker und letzter Rettungsanker ist. Jene, die gross von einem Marshall-Plan für Griechenland geredet haben, werden nun höflich aber bestimmt gebeten ihr Geld rauszurücken. Doch das ist leichter gesagt als getan. Damit werden unmittelbar politische Probleme erhoben, die nicht so leicht gelöst werden können. Die Analogie mit dem Marshall-Plan von 1948 ist fehl am Platze. Nach dem Zweiten Weltkrieg retteten die USA den europäischen Kapitalismus durch eine riesige Kapitalspritze in Form des Marshall-Plans. Doch heute sind die Bedingungen andere. 1945 verfügten die USA über zwei Drittel der weltweiten Goldreserven in Fort Knox, und deshalb war der Dollar „so gut wie Gold“. Damals waren die USA die weltweit wichtigste Gläubigernation, jetzt sind sie die wichtigste Schuldnernation. Sie sind weit davon entfernt Europa zur Hilfe eilen zu können, und Obama ist gezwungen die Europäer zu bitten, ihre Probleme selbst zu lösen. Andernfalls würde die schwache ökonomische Erholung in den USA in Gefahr geraten.
Vor allem, als der Marshall-Plan umgesetzt wurde, stand die kapitalistische Weltwirtschaft am Beginn einer Aufschwungsphase, die fast drei Jahrzehnte andauern sollte. Heute haben wir es mit ganz anderen Rahmenbedingungen zu tun. Deutschland ist die Führungsmacht in Europa, doch es verfügt nicht über die regelrecht unbegrenzten wirtschaftlichen Reserven, welche die USA 1945 hatte. Obwohl Deutschland eine machtvolle Ökonomie hat, ist es nicht stark genug die Last der akkumulierten Defizite von Griechenland, Irland, Portugal, Spanien, Italien und dem Rest zu schultern. Was aber am entscheidendsten ist: Europa und die Welt stehen nicht am Beginn einer langen Aufschwungsphase, sondern im Gegenteil am Rande zu einer neuerlichen Rezession und einer ausgedehnten Periode ökonomischer Schwierigkeiten und Sparprogramme.
Die USA selbst gerieten im August 2011 nahe daran, ihren Zahlungsverpflichtungen in der Höhe von 14,3 Billionen Dollar nicht nachkommen zu können, als die Regierung Obama in letzter Minute ein Abkommen schloss, das die Schuldengrenze anhob. Die Krise verursachte eine offene und bittere Spaltung zwischen der Republikanischen und der Demokratischen Partei, die unterschiedliche Schichten der kapitalistischen Klasse repräsentieren.
Bis vor kurzem sprach noch niemand über die immensen Schulden der USA. Doch das hat sich geändert, seit die Ratingagentur Standard&Poor im August 2011 verkündete, die Kreditwürdigkeit der USA von ihrer Spitzenbewertung AAA auf AA+ herabzusenken. Moody’s meinte gleichfalls, in Betracht zu ziehen, den USA das Triple- AAA zu nehmen, angesichts der steigenden Möglichkeit, dass die USA ihren Verpflichtungen nicht nachkommen könnte.
Die US-Regierung verfügt derzeit über ein Budgetdefizit in Höhe von 1,5 Billionen Dollar, was es erforderlich macht, Schulden in Form von Schuldverschreibungen, Anleihen oder anderen Sicherheiten zu machen. Die Gesamtschulden von 14,3 Billionen Dollar bedeuten einen scharfen Anstieg ausgehend von den 10,6 Billionen, als Mr. Obama das Amt im Januar 2009 übernahm.
Das war nicht das erste Mal, dass der Kongress die Schuldenobergrenze angehoben hat, um damit der Regierung Zugang zu dem Geld zu geben, das sie brauchte. Seit 2001 wurde 10x für die Anhebung der Schuldenobergrenze gestimmt. Seit Mai griff die Bundesregierung der USA zu Ausgleichszahlungen und –buchungen sowie zu erhöhtem Steueraufkommen, um ihr Gebaren fortsetzen zu können. Der Chef der US-Notenbank Ben Bernanke sagte, dass eine Zahlungsunfähigkeit eine „grössere Krise“ verursachen würde. Das ist eine Untertreibung. Eine Zahlungsunfähigkeit der USA wäre das Szenario für ein Armageddon auf den Weltfinanzmärkten.
Obwohl beide bürgerlichen Parteien die Interessen der kapitalistischen Klasse verteidigen, haben sie unterschiedliche Vorstellungen, wie diese vonstatten gehen sollte. Die Republikanische Partei will harte Kürzungen. Obama war bereit, Kürzungen zu akzeptieren, doch er wollte die ArbeiterInnenklasse besänftigen, indem einige Steuern für die Reichen erhöht werden sollten. Doch das ist den Angehörigen der Republikanischen Partei im Kongress, die unter Druck der FanatikerInnen von der Tea Party stehen, die überhaupt keine Steuern wollen, ein Dorn im Auge. Letztendlich waren sie gezwungen, ein Abkommen zur Anhebung der Schuldenobergrenze zu treffen, wie sie es zuvor getan haben. Doch das Abkommen ging einher mit Kürzungen in der Höhe von einer Billion $.
Bis jetzt hat sich der Dollar gehalten, weil er als „sicherer“ Hafen für Geld in einer Zeit globaler finanzieller und monetärer Instabilität gesehen wurde. Doch wenn das US- Defizit weiterhin so hoch bleibt, wird das Vertrauen in den Wert des Dollar sinken, was einen Ausverkauf des Dollars und einen tiefen Fall seines Werts mit sich bringen wird. Die Notenbank glaubt, dass die Chancen für eine Rezession in den USA bei mehr als 50:50 stehen. Ebenso der Ökonom Travis Berge: „Die Vorsicht legt nahe, dass der fragile Status der US-Wirtschaft kommenden Turbulenzen nicht leicht standhalten wird. Eine Zahlungsunfähigkeit europäischer Staaten kann die Vereinigten Staaten in die Rezession treiben.“ Deswegen sind die USA so besorgt wegen Griechenland und der Zukunft des Euro. Bislang konzentrierte sich die Aufmerksamkeit der Geldmärkte auf Europa. Doch ein Zusammenbruch des Euro würde die wahre Schwäche des Dollar sofort hervortreten lassen.
Von Wisconsin zur Wall Street
Die Wirtschaftskrise trifft mit besonderer Härte die USA und wird hier sehr dramatische Auswirkungen haben. Es wurden im sogenannten Aufschwung sehr wenige neue Arbeitsplätze geschaffen. Tatsächlich wurden weniger Jobs geschaffen als nötig wären, um mit dem Bevölkerungswachstum mitzuhalten, geschweige denn um die 8 Millionen Jobs, die in der Krise verloren gegangenen waren, wettzumachen. Während des 3. Quartals 2011 gab es 1.226 grosse Massenentlassungen, die 184.493 Arbeitsplätze betrafen. Und das galt schon als Verbesserung gegenüber dem, was man aus den Quartalen zuvor gewöhnt war.
Wo es Wirtschaftswachstum gab, war es durch die steigende Ausbeutung der bestehenden ArbeiterInnenschaft zustande gekommen. Die Schaffung sowohl des absoluten wie des relativen Mehrwerts wurde in der letzten Periode intensiviert. Mit anderen Worten, weniger Beschäftige arbeiteten länger und härter bei geringerer Bezahlung. Das führt zu einem Wachstum des BIP und zu höheren Profiten. Aber es schafft keine Arbeitsplätze. Die offizielle Arbeitslosenrate liegt bei 9%, doch in Wahrheit beträgt sie das Doppelte. Millionen werden gar nicht in den Statistiken erfasst, weil sie nicht mehr nach Arbeit suchen. Es kommen fünf arbeitslose US-BürgerInnen auf jeden freien Arbeitsplatz. Das schliesst jene noch nicht mit ein, die die Suche nach einer Anstellung bereits aufgegeben haben. 14% leben mittlerweile von Lebensmittelmarken, die Armut in den USA liegt auf Rekordniveau.
Gleichzeitig zeigt ein Blick auf die Liste der 500 umsatzstärksten Betriebe, dass deren Profite 2010 um 81% gewachsen sind. Diese 500 Firmen und ihre Niederlassungen erwirtschafteten fast 10,8 Billionen $ Gesamtumsatz, was im Vergleich zu 2009 eine Steigerung um 10,5% bedeutet. Das BIP beträgt 14,7 Billionen $. Das heisst, dass diese 500 Firmen 73,5% des Gesamt-BIP der USA erzeugen. So wird Reichtum in Amerika konzentriert. Allein die Top10 auf der Liste der 500 beschäftigen über vier Millionen Werktätige.
Das erklärt den Einbruch für Obama und die Demokratische Partei bei den Wahlen zur Hälfte der Legislaturperiode. Es herrscht eine wachsende Unzufriedenheit und diese findet eine Stimme und einen tatkräftigen Ausdruck. Die Massenproteste in Wisconsin zeigten, dass sich in den USA etwas verändert. Sie waren ungewöhnlich, denn normalerweise protestieren die Menschen einen Tag lang und gehen dann nach Hause. Doch inspiriert von den Ereignissen in Ägypten wuchsen die Proteste rasch an, Zehntausende waren auf den Strassen von Madison, solidarisch unterstützt von der Feuerwehr und der Polizei, viele von ihnen trugen auf ihrer Kleidung den Schriftzug „Cops for Labor“.
Die DemonstrantInnen riefen Losungen wie „Kämpfen wie ein Ägypter!“ und „Von Kairo bis Madison, ArbeiterInnen vereinigt euch!“. Im Oktober 2010 organisierte die AFL-CIO einen Protestmarsch nach Washington D.C. Es war die erste landesweite ArbeiterInnendemonstration seit 1981. Die Gewerkschaftsführung wollte daraus eine pro-demokratische Veranstaltung machen, fand unter den TeilnehmerInnen aber kein Echo dafür.
In Folge wurden die USA von Demonstrationen „gegen die Gier der Bonzen“ erschüttert. Diese Proteste, organisiert von der spontan entstandenen Occupy Wall Street- Bewegung, fangen an, in den Reihen der Bourgeoisie Besorgnis auszulösen. Die New York Times Sunday Review schrieb in ihrem Editorial am 8. Oktober 2011:
„An diesem Punkt ist Protest die Botschaft: Einkommensungleichheit wirft die Mittelklasse nieder, vermehrt die Reihen der Armen und droht eine Unterklasse fähiger, williger, aber arbeitsloser Menschen zu schaffen. Die Protestierenden, die meisten von ihnen jung, geben einer verlorenen Generation ihre Stimme (…)
„Die Proteste sind aber mehr als eine Jugendrevolte. Die eigenen Probleme der Demonstrierenden sind nur eine Illustration dessen, dass die Wirtschaft nicht für die Masse der AmerikanerInnen funktioniert. Sie haben Recht, wenn sie sagen, dass der Finanzsektor, mit Kontrollorganen, die sich im Einverständnis mit den gewählten PolitikerInnen befinden, eine Kreditblase aufpustete und davon profitierte, bis sie platzte, was Millionen AmerikanerInnen ihre Jobs, Einkommen, Ersparnisse und Wohnungen kostete. So wie die schlechten Zeiten andauern, verlieren die AmerikanerInnen auch ihren Glauben an Wiedergutmachung und Erholung. „Die erste Empörung stand in Verbindung mit den Bankenrettungspaketen und der Gier der PolitikerInnen nach Geld von der Wall Street zur Finanzierung ihrer Wahlkampagnen, eine giftige Mischung, die die wirtschaftliche und politische Macht der Banken gestärkt hat, während das gewöhnliche Volk leidet.“
Es ist ein Mythos, dass die Menschen in den Vereinigten Staaten von Natur aus reaktionär seien. Die Bibel sagt: „Die Ersten werden die Letzten und die Letzten werden die Ersten sein.“ Das ist pure Dialektik! Eben weil die US-amerikanischen ArbeiterInnen politisch rückständiger waren als die europäischen, können sie jetzt grössere Sprünge machen.
CNBC beklagte, dass die DemonstrantInnen „ihre Freak-Flaggen flattern lassen“ und „mit Lenin im Bunde“ seien. Leider ist dieses Urteil etwas voreilig. Die DemonstrantInnen haben – jedenfalls die meisten – nichts mit Lenin am Hut. Doch sie lernen aus Erfahrungen. Und ein paar Schläge von einem Polizeitrupp lehrt sie mehr über die wahre Natur des kapitalistischen Staats als die Lektüre von „Staat und Revolution“.
Die amerikanischen Werktätigen verfügen über keine Massenpartei, sie tragen damit aber auch nicht die Last einer reformistischen Führung, die ihre Autorität dazu nutzt, die ArbeiterInnen zurückzuhalten, wie das in Europa und sonst wo geschieht. Sie sind frisch und es fehlt ihnen an reformistischen und stalinistischen Vorurteilen. Die amerikanischen Lohnabhängigen können sich also sehr rasch entwickeln, wenn sie sich einmal in Bewegung setzen.
Man kann das schon in der Occupy-Bewegung sehen. Die brutale Polizeirepression, mit der die Bewegung in Oakland konfrontiert war, zeigte, wie sehr sich die herrschende Klasse der USA vor dem revolutionären Potenzial einer solchen Bewegung fürchtet. Ein Anzeichen dessen, was noch kommen kann, sieht man im Aufruf zum Generalstreik als Antwort auf die brutale Polizeirepression, ein sehr positiver Schritt in die richtige Richtung, der ein instinktives Bewusstsein in der Jugend zeigt, sich mit der organisierten ArbeiterInnenschaft vereinigen zu müssen. Das war das erste Mal seit 70 Jahren, dass die Idee eines stadtweiten Generalstreiks offen in den Gewerkschaften in den USA diskutiert wurde.
Die Occupy-Bewegung ist nur die Spitze des Eisbergs einer viel breiteren Widerstandsströmung. Die Niederlage des Anti-Gewerkschaftsgesetzes in einem Referendum in Ohio im November 2011 ist ein weiteres Anzeichen. Die Abstimmung von 61% für die Zurückweisung des Gesetzesentwurfs bedeutet einen grossen Sieg für die organisierte ArbeiterInnenschaft. Das zeigt die wahre Stimmung, die sich unter den Werktätigen in den USA entwickelt.
Es waren Marx und Engels, die die Perspektive einer ArbeiterInnenpartei entwarfen, die die Lohnabhängigen von den Parteien der Bourgeoisie losbrechen sollte. Die Schaffung einer solchen Partei wird in den Vereinigten Staaten ein historisches Ereignis sein. Auch mit einem reformistischen Programm wird sie ein Magnet sein, der gewerkschaftlich organisierte wie auch unorganisierte Beschäftigte, die Jugend, Schwarze, Latinos, Frauen und Arbeitslose anziehen wird. Unter den Bedingungen einer sozialen Krise kann eine US-amerikanische ArbeiterInnenpartei stark nach links gehen und sich in Richtung Zentrismus entwickeln.
Wohin die Bürgerlichen blicken, sie sehen keine Lösung. Die Illusion, dass Asien sie retten könnte, löst sich schnell in Luft auf. Angesichts der Tatsache, dass Asien trotz seines kolossalen Produktivitätspotenzials nicht den Verlust an Nachfrage und Produktion in Europa und den USA wettmachen kann, lässt sie munter machen. Das zeigt sich im Fall Japans, das von einem Wachstumsmodell zu einer Plage an Langzeitstagnation, wachsender Arbeitslosigkeit und zunehmenden sozialen Widersprüchen geworden ist.
In den 1990ern setzten japanische Regierungen eine Reihe von Stimulationsprogrammen um und waren gezwungen, einige Bankenrettungspakete vorzunehmen. Ausgehend von einem Budgetüberschuss 1991 endete das Land mit einem Defizit von 4,3% 1996 und 10% 1998. 1995 hatte es eine Schuldenrate von 90% im Verhältnis zum BIP. Heute beträgt sie 225%. Japans Wirtschaft wurde noch dazu von dem Erdbeben vergangenes Jahr schwer geschädigt, obwohl diese schon davor schwächelte. Japan hatte durchschnittlich jährliche Wachstumsraten von 10% in den 1960ern und 5% in den 1970ern und 1980ern und endete schliesslich bei einem Nullwachstum nach der Krise von 1997. In der gleichen Periode stieg die Arbeitslosigkeit von 1,5% (1960-75) über 2,5% (1975-90) auf das heutige Niveau von 5%.
Für die Jugend ist die Lage weit schlimmer. Die Arbeitslosigkeit unter den 15-24jährigen stieg 2010 auf 10,5%. Es gab auch einen hohen Grad an struktureller Zergliederung auf dem japanischen Arbeitsmarkt: Über 40% der Werktätigen arbeiten nur Teilzeit. Viele sind lediglich auf Basis von befristeten Verträgen angestellt. Die Tage des lebenslangen Arbeitsplatzes, der über lange Zeit der Schlüssel für soziale und politische Stabilität war, sind vorbei. Auf dieser geänderten Grundlage werden politische Schlüsse gezogen, dies gilt besonders für die Jugend. Das führt zu anwachsenden Jugendprotesten und grösserem Interesse an linker Literatur. Ein Manga-Comic, das sich auf Marx’ „Kapital“ bezog, war ein Bestseller. Und die 400.000 Mitglieder starke kommunistische Partei zieht Tausende junge Menschen in ihre Reihen.
In der Vergangenheit verschaffte China einer stagnierenden Weltwirtschaft eine gewisse Erleichterung. China kann aber nicht mehr länger diese Rolle einnehmen. Die chinesische Ökonomie weist zwar weiterhin hohe Wachstumsraten auf, aber es mehren sich die Anzeichen, dass auch sie ins Stocken gerät. Das hat ernsthafte soziale und politische Auswirkungen. MarxistInnen verstehen, dass das rapide Wachstum der chinesischen Wirtschaft der letzten Periode die ArbeiterInnenklasse enorm gestärkt hat.
Die herrschende Klasse in China konnte bisher eine soziale Explosion verhindern, weil das fortwährende Wachstum der Produktivkräfte den Menschen Hoffung in eine künftige Verbesserung des Lebensstandards gab. Doch jetzt kommen alle Widersprüche an die Oberfläche. Nach einer langen Periode sehr raschen Wachstums zeigt China erste Anzeichen einer wirtschaftlichen Verlangsamung. Drei Quartale hindurch (Januar – September 2011) verlangsamte sich das jährliche Wachstum, als die Regierung, besorgt über die steigende Inflationsrate, die Kreditvergabe beschränkte und die Zinsraten anhob. Das Problem entsteht daraus, dass die Nachfrage in den USA und in Europa nach chinesischen Gütern abgenommen hat. Das Hauptproblem ist, dass die rasch wachsenden Ökonomien Asiens ihre Waren auf dem Weltmarkt verkaufen müssen.
China hat weiterhin eine relativ hohe Wachstumsrate, seine Industrien produzieren am laufenden Band billige Güter. Doch China muss exportieren, um weiter zu produzieren. Wo ist der Markt für diese Güter, wenn die Ökonomien der USA und Europas in der Rezession stecken? Wie John W. Schoen, Senior Producer bei msnbc.com im September 2011 kommentierte: „Politikmacher in China, der drittgrössten Ökonomie der Welt hinter den USA und Europa, stehen vor einer harten Entscheidung. Schnelle Wachstumsraten haben die Inflation nach oben getrieben, die laut Analysten bereits im zweistelligen Bereich liegt – viel höher als die offizielle Vorgabe. Um die Inflation im Zaum zu halten, hat Beijing die Zinsraten um das Fünffache erhöht und die erforderlichen Bankreserven seit Oktober 2011 um das Neunfache angehoben. Wenn sie zu hart durchgreifen, könnte ein tieferer Wirtschaftsabschwung Chinas Bemühungen, hunderte Millionen Menschen aus der Armut zu hieven, in sein Gegenteil verkehren.
„China hat auch mit den Nachwirkungen aus Bankgeschäften aus den Jahren massiver Regierungsdarlehen zur Expansion staatlicher Unternehmen und dem Aufbau der Infrastruktur fertig zu werden. „’Es gibt ein zweigleisiges System in China und ich glaube, die stattfindende Schuldenmacherei und der Prozentsatz ertragloser Anleihen befindet sich jetzt auf einem zerstörerischen Level’ sagt David McAlvany, Generaldirektor der McAlvany Finanz Gruppe CNBC. ‚Letztlich werden Chinas Banken ihre wohlverdiente Strafe erhalten’.“
Die chinesische Regierung zeigte, dass sie das wahre Ausmass der Krise, die 2008 in den entwickelten kapitalistischen Ländern ausgebrochen war, nicht verstanden hatten. Sie sahen sie als Rezession, die bald vorüber wäre und setzten eine dementsprechende Politik um. 2008 wurde ein Paket zur Ankurbelung der Wirtschaft in der Höhe von 586 Milliarden Dollar verabschiedet, um im Land eine grössere Nachfrage zu schaffen als die Exportmärkte schrumpften. Das hatte seinen Preis und führte zu einem signifikanten Anstieg der Staatsschulden. Die chinesischen Staatsschulden nahmen in der Vergangenheit nur sehr langsam zu, von null Prozent des BIP 1978 auf 7% 1997 bis zu knapp unter 20% im Jahr 2003. Doch in Folge der Expansion der Staatsausgaben angesichts der kapitalistischen Weltwirtschaftskrise schossen sie 2010 auf 37%.
Die „Global Post“ berichtete am 8. Juli 2011: „Chinas Banken haben riskante, nicht bilanzierungsfähige Anleihen aufgenommen, was an den Enron-Schwindel erinnert. Letzte Woche berief Beijing einen nationalen Audit ein, der enthüllte, dass die lokalen Regierungen geschätzte 1,65 Billionen an ausständigen Darlehen aufweisen. Diese Woche deutete Moody’s an, dass das Problem noch viel grösser ist und um weitere 540 Milliarden Dollar höher liegt. Und das ist nur die Schuld der lokalen Regierungen. Das inkludiert nicht die riesigen Verpflichtungen der Zentralregierung oder jene der Banken, die über Garantien von Beijing verfügen. Sogar für eine Wunderwirtschaft wie China sind das sehr viele Schulden.“
Im selben Artikel beantwortet Victor Shih, ein Experte in Sachen Chinas Ökonomie, die Frage „Wie viele Schulden hat China?“ folgendermassen: „Das hängt davon ab, was man mit berechnet. Grosse Teile der chinesischen Wirtschaft gehören der Regierung. Die Schulden dieser staatseigenen Unternehmen wird ‚bedingte Verbindlichkeiten’ genannt – letztlich sind sie die Verantwortung der Regierung. Wenn man all diese Verbindlichkeiten zusammen rechnet, kommt eine extrem grosse Zahl heraus, etwa 150% des chinesischen BIP oder mehr. „Nach einer engeren Definition werden nur Schulden gerechnet, die der Zentralregierung bzw. den Lokalverwaltungen zuzuschlagen sind. Das beträgt etwa 80% des BIP Chinas.“ Wie auch immer man es betrachtet, mit der massiven Steigerung der Staatsaugaben hat China seine Staatsschulden beträchtlich erhöht. Bislang hat es damit Anreiz geschaffen und der Wirtschaft ein hohes Wachstumsniveau ermöglicht. Doch das kann nicht ewig weitergehen. Chinas Schulden sind im Vergleich zu Ländern wie Japan, den USA und vielen europäischen Staaten gering, doch China holt auf. Solange Chinas Wirtschaft wächst, kann es seine Schulden bedienen, doch wenn es einen stärkeren Rückgang gibt, werden alle Widersprüche an die Oberfläche treten. Abgesehen von der künftigen Finanzkrise, die von all dem in China hervorgerufen werden wird, gibt es auch die Tatsache, dass das Wirtschaftswachstum enorme und zunehmende Ungleichheit mit sich gebracht hat: das „kommunistische“ China ist eines der Länder der Erde mit der grössten sozialen Ungleichheit. Eine kleine Minderheit ist sehr reich geworden, doch die Lebensumstände von Millionen ArbeiterInnen ähneln jenen Britanniens in der Zeit von Charles Dickens. Das trägt zu unerträglichen Spannungen bei, die sich in einem Anstieg von Selbstmorden junger Werktätiger, in Streiks und Unruhen in der Bauernschaft äussern.
Hohe Wachstumsraten sollten nicht als Garantie für soziale Stabilität betrachtet werden. Ägyptens Wirtschaft wuchs seit 2003 durchschnittlich um 5,5% und in einigen Jahren lag es sogar über 7%. Dieses rasche Wachstum fiel zusammen mit der grössten Streikwelle seit dem Zweiten Weltkrieg und endete in der Revolution. Die Machthabenden sind daher besorgt. Während der Ägyptischen Revolution löschten chinesische ZensorInnen „ägyptisch“ aus den Suchmaschinen. China hat in die Schaffung einer umfassenden Internetpolizei investiert, die überwacht, was die Menschen online tun. Sie glauben, dass, wenn Menschen davon abgehalten werden, etwas über Revolutionen in anderen Ländern zu erfahren, sie die Leute auch davon abhalten können, revolutionäre Schlüsse aus der Situation in China zu ziehen. Doch was zu revolutionären Aufständen in China führen wird, sind genau die Lebensbedingungen chinesischer ArbeiterInnen und der Bauernschaft. Und kein noch so grosses Aufgebot an Internetpolizei kann das vor dem chinesischen Volk verbergen. Die Inflation beträgt 6%, was schon hoch genug ist, bei Nahrungsmitteln beträgt sie sogar 13%. Die Versorgung mit Nahrung umfasst mehr als ein Drittel der monatlichen Ausgaben des durchschnittlichen chinesischen Konsumenten.
Die Inflation ist trotz der Regierungsmassnahmen so hoch geblieben. Massnahmen wie die Beschränkung von Geldmengen, die Banken verleihen können, und die fünffache Erhöhung der Zinsraten seit Oktober 2010 haben nicht den erwünschten Effekt gebracht. Ein totalitäres Regime ähnelt einem Druckkochtopf mit verschlossenem Sicherheitsventil. Er kann jederzeit explodieren, ohne Vorwarnung. Wenngleich es schwierig ist, genaue Information zu erhalten, legen die veröffentlichten Berichte, die die wirkliche Situation untertreiben, nahe, dass die Unruhen in China zunehmend häufiger werden. Jedes Jahr erlebt China zehntausende Streiks, Bauernaufstände und andere öffentliche Proteste, oft verbunden mit dem Ärger über staatliche Korruption, politischen Machtmissbrauch und illegale Landnahme. Die hohen Nahrungsmittelpreise sind eine besondere Sorge der chinesischen Regierung, da sie das Leben von Millionen ArbeiterInnen und BäuerInnen im Land unmittelbar betreffen. Die Führung der „Kommunistischen“ Partei fürchtet, dass das soziale Unruhen verursachen könnte. Unausweichlich wird es zu heftigen Zusammenstössen zwischen der wirtschaftlichen und politischen Elite und den Massen kommen. Die Krise der Weltwirtschaft hat zu sinkenden Profiten und Investitionen geführt, eine Situation, die erschwert wird durch den Rückgang bei der Kreditvergabe. Das zwingt viele Betriebe sich bei inoffiziellen KreditgeberInnen zu horrenden Zinsen zu verschulden. Sie müssen wählen zwischen der Bezahlung dieser Raten oder Lohnkürzungen. Das Ergebnis ist, dass oft die Löhne gekürzt oder gar nicht ausbezahlt werden. Im November 2011 sagte Guangdongs aktueller Gouverneur, dass die Exporte der Provinz seit dem letzten Monat um 9% gefallen seien. Die Provinzgouverneure kämpfen auch mit weitreichenden Protesten von BäuerInnen wegen der Landnahmen. Betriebe kürzen die Überstundenzuschläge, von denen die Werktätigen abhängen, um ihr geringes Grundgehalt aufzubessern.
Es gab Streiks und Demonstrationen in Auto-, Schuh und Computerfabriken in Shenzhen und Dongguan, zwei führenden Exportzentren im Süden von Guangdong. Die chinesische Akademie der Sozialwissenschaften schätzt, dass es 2006 mehr als 90.000 „Massenereignisse“ gab und weist auf einen weiteren Anstieg in den kommenden zwei Jahren hin. Die herrschende Klasse bereitet sich auf Unruhen in weit grösserem Ausmass vor. China erhöhte 2011 sein Budget für innere Sicherheit um 13,8% auf 624,4 Milliarden Yuan (59 Milliarden Pfund). Zum ersten Mal in seiner Geschichte gibt China mehr für die Aufrechterhaltung der inneren Ordnung als für seine Verteidigung nach aussen aus. Das zeigt, dass sich alle der Gefahr bewusst sind, dass die weitverbreitete Unzufriedenheit letztlich in einer Explosion münden wird, wie jene, die die Regime in Tunesien und Ägypten hinwegfegte. Explosive Entwicklungen in China können passieren, wenn sie am wenigsten erwartet werden. Wir müssen auf solch eine Entwicklung vorbereitet sein.
Die Gesamtbevölkerung Indiens betrug 2010 1.210,2 Millionen Menschen; ausgehend von 434,9 Millionen 1960 bedeutet dies einen Zuwachs um 168% in den letzten 50 Jahren. Indien verfügt über 17,54% der Weltbevölkerung, was heisst, dass jeder sechste Mensch auf der Erde in Indien lebt. Zusammen mit China wird dieses Land eine entscheidende Rolle in der Zukunft Asiens und der Welt spielen. Indien erzielte wie Brasilien und China dank des boomenden Welthandels hohe Wachstumsraten in den letzten Jahren. Doch das löste keines der Probleme der indischen Gesellschaft. Es führte zu einer zunehmenden sozialen Polarisierung, mit einer privilegierten, sich bereichernden Elite und Massen, die in entsetzlichem Elend leben. Im letzten Jahrzehnt nahm die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter um etwa 159 Millionen zu, doch nur 65 Millionen erhielten Arbeit, welcher Art auch immer.
Die Pro- Kopf-Produktion und der Nahrungsmittelverbrauch nahmen ab und Mangelernährung ist in breiten Schichten der Bevölkerung vergleichbar mit dem Niveau vieler afrikanischer Staaten südlich der Sahara. Fast die Hälfte aller Kinder unter fünf Jahren leidet an mässiger bis schwerer Fehlernährung; ein Drittel der Erwachsenen leidet unter chronischer Erschöpfung. Eine neue Messung der „multidimensionalen Armut“ (die Entbehrungen bei Nahrung, Kindersterblichkeit, Bildung, Stromversorgung, Hygiene, Trinkwasser, Wohnen, Heizmaterial und Vermögen in Betracht zieht) ergibt, dass es in acht Staaten Indiens mehr arme Menschen gibt als in allen Staaten Afrikas südlich der Sahara. Das ist die Bilanz nach zwei Jahrzehnten „wirtschaftlicher Reformen“, die als Schlüssel zur Modernisierung Indiens und Transformation des Landes in einen Tigerstaat, proklamiert worden waren. In Folge der seit 20 Jahren andauernden Öffnung der Ökonomie für imperialistische Konzerne besitzen die 100 reichsten Menschen in Indien ein Viertel des BIP, während mehr als 80% von weniger als 50 Cent täglich leben. Über 250.000 BäuerInnen haben, von einer teuflischen Spirale aus Armut und Schulden getrieben, Selbstmord begangen. Diese obszöne Ungleichheit ist, was die AnhängerInnen des freien Markts als „Fortschritt“ bezeichnen.
Und jetzt beginnt die internationale Krise des Kapitalismus Indien zu treffen. Die Rupie hat massiv an Wert verloren. Sie sank um 15% in der zweiten Hälfte 2011 und der Abstieg kommt zu keinem Halt. Der Fall der Rupie erhöht die Kosten für den Import von Materialien, Fertigteilen und Maschinen für die indischen Betriebe. Ein weiterer Wertverlust wird zu steigender Inflation führen, besonders bei Treibstoff, der zu 80% importiert wird. Die Notenbank Indiens RBI erhöhte die Kreditzinsen seit März 2010 zwölf Mal von 4,75% auf 8%. Die Inflation betrug im Juli 2011 9,22%, was deutlich über dem Zinssatz der Notenbank von 4 auf 4,5% liegt. Nahrungsmittelkosten steigen noch schneller. Die ärmsten 40% geben 65% ihres Einkommens für Nahrung aus. Wenn die Preise so weiter steigen, sind viele mit Unterernährung oder sogar dem Hungertod bedroht. Eine Kombination aus sinkender Nachfrage, steigender Inflation und höheren Zinsraten wird sich für Indiens vielgerühmte wirtschaftliche Expansion als fatal erweisen. Das wird sich in einem Anstieg an Arbeitslosigkeit und sinkenden Lebensstandards widerspiegeln. Millionen Menschen werden zu Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung, Strassenverkauf oder gar Hunger verurteilt sein.
Es gab eine Welle von ArbeiterInnenprotesten in vielen Teilen Indiens, wie den Streik der Beschäftigten bei Comstar Automotive Technologies in Maraimalai Nagar in Tamil Nadu, den Streik von 2.500 ArbeiterInnen beim deutschen Industriekonglomerat Bosch in Mumbai und den wilden Streik der Lohnabhängigen im Hafen von Channai, um gegen den Tod eines Kollegen im Zuge eines Arbeitsunfalls zu protestieren. ArbeiterInnen erreichten einen wichtigen Sieg nach einem zweiwöchigen erbitterten Streik in der Maruti Suzuki Fabrik in Manesar zur Anerkennung der Gewerkschaft. Die etablierten Parteien bieten keine Lösung. 2012 gibt es Wahlen in Uttar Pradesh, Gujarat, Punjab, Manipur, Uttarakhand, und Goa. Die Kongressregierung muss mit Niederlagen rechnen, doch auch die BJP ist unpopulär. Die KPs haben sich in den Augen vieler ArbeiterInnen und Jugendlichen durch ihre reformistische und auf Klassenzusammenarbeit ausgerichtete Politik diskreditiert.
Die Verzweiflung der Massen findet teilweise einen Ausdruck in der Ausweitung der maoistischen Aufstandsbewegung, die jetzt in vielen Bundesstaaten aktiv ist. 2010 gab es einige schwere Angriffe durch die maoistische Guerilla. In einem Fall kam es sogar zu einer Zugentgleisung, bei der über 150 ZivilistInnen ums Leben kamen. Bei einem weiteren Angriff wurden 26 PolizistInnen getötet. Bei Dutzenden anderen Übergriffen kamen viele Sicherheitskräfte und ZivilistInnen ums Leben. Auch 2011 gingen die maoistischen Attacken weiter, darunter die Zerstückelung von zehn PolizistInnen in Chhattisgarh. Trotz des harten Durchgreifens durch das Militär, Verhaftungswellen, Folter und Massaker wurde kein Fortschritt bei der Zurückdrängung der maoistischen Angriffe erzielt. Indien ist nicht die einzige asiatische Ökonomie, die eine abnehmende Wachstumsdynamik erlebt. Acht der zehn meistgehandelten asiatischen Währungen verloren 2011 an Wert, was die hohe Abhängigkeit der Region von Exporten in die USA und nach Europa zeigt. Die Perspektive ist die langsameren Wachstums, steigender Arbeitslosigkeit, sinkender Lebensstandards und erhöhten Klassenkampfs in jedem Land Asiens.
Nach mehr als sechs Jahrzehnten formaler Unabhängigkeit zeigt die verkommene pakistanische Bourgeoisie ihre völlige Unfähigkeit, eine fortschrittliche Rolle zu spielen. Pakistan ist noch in einer weit schlimmeren Position als Indien. Das Land steht vor einem vollkommenen Desaster. Laut den Daten des Finanzministeriums gingen während des ersten Quartals des laufenden Fiskaljahres (Juli-September) 2011-2012 die ausländischen Investitionen aus den entwickelten kapitalistischen Ländern in Pakistan um 83% zurück, das Land erhielt somit Fremdinvestitionen in der Höhe von nur 50,1 Million Dollar. In Zahlen bedeutet das einen Rückgang um 241,8 Millionen Dollar.
Pakistans internationales Handelsdefizit stieg um 31,38% in den ersten vier Monaten des Jahres 2011 im Vergleich zum Vorjahr, was auf den höchsten jemals verzeichneten Anstieg bei den Importen bei gleichzeitig fallenden Exporteinnahmen zurückzuführen ist. Das Handelsdefizit im Zeitraum Juli-Oktober 2011 lag bei 6,871 Milliarden Dollar, im Vergleichszeitraum 2010 lag es bei 5,230 Milliarden Dollar. Das gegenwärtige Leistungsbilanzdefizit stieg in der Periode von Juli-September 2011 auf 1,209 Milliarden, demgegenüber standen im Vergleichszeitraum 2010 597 Millionen. Die Gesamtverschuldung des Landes beträgt 66,4% des BIP. Nach den von der Notenbank ausgegebenen Zahlen lagen Pakistans Gesamtschulden im Fiskaljahr 2010- 11 – die Inlands- und Auslandsverschuldung und die Schulden der staatlich geführten Betriebe umfassen – bei atemberaubenden 12 Billiarden Rupien (oder 139,5 Milliarden US-Dollar). Entsprechend den offiziellen Zahlen wird die Bevölkerung 2015 191 Millionen betragen, ausgehend von derzeit etwa 170 Millionen, was Pakistan zum sechst bevölkerungsreichsten Land der Erde macht.
Jeder Mann, jede Frau und jedes Kind ist mit 61.000 Rupien verschuldet, und die pakistanische Regierung muss sich weiter verschulden. Bald wird Pakistan ausser Stande sein, seine Auslandsschulden von 60 Milliarden Dollar zu bedienen. Um den sofortigen Bankrott zu vermeiden, wird Islamabad Geld drucken müssen, was zu weiterer Inflation führen wird. Gemäss dem Legatum Wohlstandsindex sind nur Äthiopien, Zimbabwe und die Zentralafrikanische Republik noch schlechter gestellt als Pakistan. Der „Safety & Security Sub-Index“ zeigt, dass einzig der Sudan noch schlimmere Zustände aufweist. Der Sub-Index „Bildung“ weist die Zentralafrikanische Republik, Mali, den Sudan, Äthiopien und Nigeria als einzige hinter Pakistan gereihte Länder aus. Nach dem Failed State Index von 2011 sind sogar Länder wie Ruanda, Burundi, Äthiopien und Burma besser dran als Pakistan. Vier von zehn Pakistani leben mittlerweile unter die Armutsgrenze: geschätzte 47,1 Millionen leben in extremer Armut. In den letzten drei Jahren sind täglich – an jedem einzelnen Tag dieser letzten drei Jahre – durchschnittlich 25.000 Pakistanis unter diese Grenze gerutscht.
Mangelernährung ist weit verbreitet und nimmt weiter zu. Die Sterblichkeitsrate unter Kleinkindern und Kindern liegt bei 50%; auf 1.183 Menschen kommt nur ein Arzt. Pakistans Alphabetisierungsrate liegt laut offiziellen Zahlen, die meist übertrieben sind, bei 57%, was noch immer zu den niedrigsten weltweit gehört. Pakistan liegt mit seinen Bildungsausgaben auf Platz 142 von 163 Ländern. Washington braucht die Unterstützung Islamabads für den Krieg in Afghanistan. Doch es traut der Führung Pakistans nicht – weder der politischen noch der militärischen. Pakistans Armee wurde in einen blutigen Krieg in den Grenzgebieten getrieben, die nie unter Kontrolle der Regierung in Islamabad waren. Unbewaffnete Drohnen werden geschickt, um die Stammesgebiete innerhalb Pakistans zu bombardieren und töten dabei viele ZivilistInnen, die mit den TerroristInnen gar nichts zu tun haben. Weder die pakistanische Regierung noch das Militär wurden über den Angriff, bei dem Bin Laden getötet wurde, informiert,. Kurz, Pakistan wird mit derselben imperialistischen Arroganz behandelt, die Britannien zu Zeiten der Radschas an den Tag legte.
Die Beteiligung Pakistans am Afghanistankrieg hat alles zerstört, was auch nur irgendwie an politische Stabilität erinnerte. Der Staat ist zersplittert und von Korruption, Drogenhandel und mörderischen Konflikten zwischen verschiedenen Teilen der Armee und dem Geheimdienst ISI zersetzt. Der Mord an Bin Laden durch die USA auf pakistanischem Gebiet brachte diese brodelnden Konflikte an die Oberfläche. Zardari ist ein fügsamer Handlanger Amerikas, doch er muss einen waghalsigen Drahtseilakt vollziehen, um an der Macht zu bleiben. Die PPP-Regierung, die vor allem durch Korruption auffällt, ist extrem instabil. Zardari versucht zwischen den verschiedenen Elementen im Staatsapparat und dem US-Imperialismus zu balancieren. Von den Massen wird diese Politik verachtet, doch sie sehen keine Alternative. Das Militär, das früher interveniert hätte, ist gespalten und fürchtet sich unter diesen Umständen vor der Machtergreifung.
Wie lang diese Situation trotz dieser aussergewöhnlichen Mischung an Bedingungen noch andauern kann, steht auf einem anderen Blatt. Die extreme soziale Instabilität spiegelt ein massives Wachstum an Unzufriedenheit, die unter der Oberfläche brodelt, wider. Das bietet der marxistischen Strömung, die trotz aller erschreckenden objektiven Schwierigkeiten beständig an Anzahl und Einfluss wächst, grosse Möglichkeiten. Die Situation ist extrem explosiv und kann sich schnell ändern. Eine Neuauflage von 1968 ist unter diesen Bedingungen durchaus denkbar. Das stellt unsere Organisation vor grosse Herausforderungen, bietet aber auch grosse Gelegenheiten.
Zehn Jahre US-Besetzung in Afghanistan haben nichts gebracht, ausser die Destabilisierung der gesamten Region. Die wahre Absicht hinter der Besatzung war es, Süd-Zentralasien dem amerikanischen Einfluss zu unterwerfen. Stattdessen wurde eine chaotische Situation nicht nur in Afghanistan, sondern auch in Pakistan geschaffen. Das hat sich auf alle Nachbarstaaten ausgewirkt: Pakistan, Indien, China, Russland und den Iran. Alle intrigieren, manövrieren und rittern um die Nachfolge, wenn die USA ihre Truppen abziehen. In seinen letzten Stellungnahmen zum Krieg stellte Präsident Obama Afghanistan als Sieg dar, was in Washington Tradition hat. In Wahrheit sind die USA in einem Konflikt festgefahren, den sie nicht gewinnen können. Wenn die USA ihren Rückzug aus Afghanistan vollzogen haben, hofft Washington, dass eine Art militärischen und ökonomischen Gleichgewichts hergestellt werden kann, so dass auch hinsichtlich einer politischen Lösung Fortschritte gemacht werden können. Doch das ist ein utopischer Traum.
Am 1. November 2011 dankte Präsident Hamid Karzai dem General Stanley McChrystal, dem früheren US-Kommandanten der NATO-Truppen in Afghanistan, für eine Mission, die er aufrichtig und mutig nannte und für alle seine Bemühungen und Dienste unter seinem Kommando. Karzai weiss, dass seine Tage gezählt sind, sobald die US-Armee abzieht. Doch während er sich bei Amerika einschmeicheln will, befindet er sich in Geheimverhandlungen mit den Taliban und dem Iran. Das zeigt, wie aussichtslos die Lage ist. Auch wenn die USA gezwungen sein werden, Afghanistan mit eingezogenem Schwanz zu verlassen, werden sie ausreichend militärische Kräfte hinterlassen, um das Regime in Kabul zu stützen und eine neuerliche Machtübernahme durch die Taliban zu verhindern. Sie wollen auch weiterhin imstande sein, terroristische Lager auf beiden Seiten der Durand-Linie zu bombardieren. Das ist ein Rezept für weitere Instabilität sowohl in Afghanistan wie auch in Pakistan. Vorfälle in Pakistan und Indien werden sich wiederum auf die Situation in Afghanistan auswirken. Die Entwicklung in diesen Ländern ist nun sehr eng miteinander verwoben.
Ganz Zentralasien wurde durch den Zusammenbruch der Sowjetunion und der Einmischung der USA in Afghanistan destabilisiert. Die Instabilität in der Region manifestierte sich im Aufstand in Turkmenistan und vor allem in der Streikwelle in Kasachstan, die das revolutionäre Potenzial des Proletariats sogar unter schwierigsten Bedingungen zum Ausdruck brachte. Das Schicksal der gesamten Region wird aber in erster Linie von der Perspektive der Revolution im Iran und in China bestimmt.
Die revolutionäre Bewegung der arabischen Massen hatte klarerweise einen grossen Einfluss auf die Menschen in Schwarzafrika, die seit Jahrzehnten unter verheerenden Bedingungen leben müssen. Unmittelbar nach dem Beginn des Arabischen Frühlings kam es in vielen Ländern südlich der Sahara, besonders in Burkina Faso, Senegal, Malawi, Sambia und Swaziland zu einem Ausbruch der Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Kleinere Bewegungen gab es in allen afrikanischen Ländern. Die Klassenspannungen haben seither generell deutlich zugenommen.
Drei Länder in Afrika sind aufgrund ihrer grossen Bevölkerung und ihren relativ entwickelten Ökonomien mit einem starken Proletariat von entscheidender strategischer Bedeutung: Ägypten, Nigeria und Südafrika. Ägypten behandeln wir in diesem Dokument an anderer Stelle im Rahmen der Arabischen Revolution, deshalb werden wir uns hier auf Nigeria und Südafrika konzentrieren, um die generellen Prozesse in Afrika zu beleuchten.
In Nigeria, das mit seinen 170 Millionen EinwohnerInnen das bevölkerungsreichste Land in Afrika ist, sind die sozialen Widerspruch ganz besonders krass. Obwohl die nigerianische Wirtschaft in den letzten 5 Jahren offiziell mit über 6% gewachsen ist, steigt die Armutsrate weiter an. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei mittlerweile 47%. Das ist ein Rezept für Klassenkämpfe. Die nigerianischen ArbeiterInnen haben in der Vergangenheit unzählige Massendemos und Generalstreiks gemacht. Das grösste Problem ist aber das Fehlen einer politischen Führung, die diesen Kämpfen eine Perspektive gibt.
In den vergangenen Jahren begannen Teile der Gewerkschaftsbürokratie unter dem Druck der Basis eine politische Partei aufzubauen, die Nigerianische Labour Party. Doch die Führung der Gewerkschaften hat Angst, dass sie die Entwicklung einer solchen Partei nicht kontrollieren könnte, und ist deshalb nicht bereit für dieses Projekt ihr ganzes Gewicht in die Waagschale zu werfen. Obwohl die Labour Party ein grosses Potential hätte, ist sie noch immer eine sehr kleine Organisation, die landesweit keine bedeutsame Rolle spielt. Die Organisation mit dem grössten Masseneinfluss bleibt somit der Nigerian Labour Congress, der wichtigste Gewerkschaftsverband des Landes. Das zeigte sich auch in den Massenprotesten, die im Januar 2012 ausbrachen, nachdem die Regierung die Streichung der staatlichen Subvention des Benzinpreises plante. Diese Bewegung, die zu einem 5tägigen Generalstreik führte, unterschied sich deutlich von vergangenen Protestbewegungen. Auf den Demos waren Hunderttausende Menschen, in vielen Vierteln wurden Stadtteilkomitees gebildet, was darauf schliessen lässt, dass die Massen versuchten ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.
Angesichts des politischen Vakuums auf der Linken und mit einer Labour Party, die darauf reduziert ist, ein reines Instrument für Verhandlungen im Sinne einiger bürgerlicher Elemente zu sein, konnten die JAF (Joint Action Front) und LASCO einen grösseren Einfluss unter den fortgeschrittensten ArbeiterInnen und Jugendlichen erlangen. Das sind Anzeichen für einen Radikalisierungsprozess ähnlich wie wir ihn in vielen anderen Ländern weltweit sehen. Was wir im Januar sehen konnten, können wir als die ersten Anfänge der Nigerianischen Revolution betrachten. Es ist offensichtlich, dass die nigerianischen ArbeiterInnen von den Bewegungen in den arabischen Ländern angesteckt wurden, und dass unter den gegenwärtigen Bedingungen das Abdrehen des Generalstreiks nicht das Ende der Bewegung bedeuten wird. Neuerliche Ausbrüche des Klassenkampfs sind in der kommenden Periode unvermeidlich.
Obwohl wichtige Prozesse in ganz Afrika stattfinden, bleibt Südafrika, die bei weitem am stärksten entwickelte afrikanische Industrienation und der Schlüssel zur weiteren Entwicklung auf dem Kontinent. 16 Jahre nach dem Sturz des Apartheidregimes müssen die südafrikanischen Massen noch immer auf eine reale Veränderung ihrer Lebensumstände warten. Obwohl Südafrika über gewaltige Rohstoffvorkommen verfügt, sind 31% der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter arbeitslos. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 70 Prozent und ein Viertel der Bevölkerung lebt von weniger als 1,25$ täglich.
Unter diesen Bedingungen radikalisieren sich die südafrikanischen Massen stetig. 2010 streikten 1.3 Millionen Beschäftigte im öffentlichen Dienst und Hunderttausende weitere waren bereit den Streik zu unterstützen. Im Sommer 2011 setzte sich dieser Trend massiver Streiks fort, als Hunderttausende MetallarbeiterInnen und IndustriearbeiterInnen aus anderen Sektoren über Wochen die Arbeit niederlegten. Gleichzeitig kocht die Stimmung in den Townships über, jedes Monat kommt es zu Massenprotesten gegen Kürzungen, gegen die fehlende Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs und gegen die zunehmende Korruption, die in der südafrikanischen Gesellschaft allgegenwärtig ist.
Der Druck von unten beginnt sich im Dreiparteienbündnis zwischen ANC, SACP und COSATU zu reflektieren. In den letzten Jahren begann sich eine Kluft zwischen den Teilen des Bündnisses, die enger mit dem Staatsapparat verbunden sind, und jenen Teilen, die näher an der Klasse und der Jugend sind, aufzutun. Dieser Prozess findet seinen Ausdruck vor allem in der ANC Youth League, dessen populistische Führungsfigur Julius Malema deutlich nach links gegangen ist. In den vergangenen Jahren hat Malema die Idee der Verstaatlichung der südafrikanischen Bergbauindustrie in den Mittelpunkt seiner Propaganda gerückt – eine Forderung, die Teil der Freiheitscharta ist, die von vielen als das Programm des ANC angesehen wird. Die Jugend reagierte mit Begeisterung auf diesen Aufruf. Auch die Führung des COSATU spricht sich für die Verstaatlichung der Minen aus, aber gleichzeitig stösst dieser Vorschlag auf den erbitterten Widerstand seitens der Führungen des ANC und der SACP, die Malema sogar vom ANC suspendiert haben.
Im Juni 2011 wurde auf dem Kongress der ANCYL die Verstaatlichung der strategischen Sektoren und der Kommandozentralen der Wirtschaft ins Programm aufgenommen. Das ist ein Indikator dafür, wie reif die Situation für revolutionär- sozialistische Ideen ist.
Im Allgemeinen hat das kapitalistische System den afrikanischen Massen nichts zu bieten ausser einer steigenden Inflation, Arbeitslosigkeit und Armut. 50% der afrikanischen Bevölkerung leben von weniger als 2.5 $/Tag. Im Durchschnitt leben in den Ländern südlich der Sahara die Armen von weniger als 70 Cent pro Tag und sind somit ärmer als sie es 1973 waren. Die gegenwärtige Krise des Kapitalismus verschlechtert diese Lage weiter, und unter diesen Bedingungen beginnen die Massen wichtige Schlussfolgerungen zu ziehen und gehen nach links. Sie werden eine wichtige Rolle im generellen weltweiten Prozess Richtung Revolution spielen.
Die Arabische Revolution markiert einen fundamentalen Wendepunkt in der Geschichte. Sie zeigt, wie schnell sich Ereignisse entwickeln können. Die Revolutionen in Tunesien und Ägypten schienen plötzlich, ohne Vorwarnung, zu passieren. Zumindest war das so aus der Sicht der Bourgeoisie. Das Problem ist, dass die sogenannten ExpertInnen der Bourgeoisie nichts verstehen. Die ÖkonomInnen, PolitikerInnen und JournalistInnen können nichts vorhersehen und nichts erklären. Bürgerlicher Empirismus ist nicht imstande, die Prozesse, die in den Tiefen der Gesellschaft sich entfalten, zu verstehen.
Nur die Methode des dialektischen Materialismus kann hierfür eine wissenschaftliche Erklärung zur Verfügung stellen. Der Marxismus erklärt wie sich Dinge plötzlich in ihr Gegenteil verkehren können und dies auch tun. Die marxistische Theorie macht uns überlegen, weil wir Entwicklungen voraussehen können und nicht überrascht und verwundert zurückbleiben. Die Menschen in der arabischen Welt wurden als passiv, apathisch, rückständig und unterwürfig dargestellt. Aber genau das gleiche wurde vor 1917 über die russische Bevölkerung gesagt. Rassistische Vorurteile gehen hier Hand in Hand mit einer oberflächlichen und unwissenschaftlichen Betrachtung der Geschichte. Man findet die gleiche Art von Vorurteilen bei manchen sogenannten MarxistInnen, die sich immer über das sogenannte niedrige Niveau des Bewusstseins der Massen beschweren. Für solche Leute wird die Dialektik immer nur ein Buch mit sieben Siegeln bleiben. Die Ereignisse im Nahen Osten und in Nordafrika sind kein isoliertes Phänomen sondern Teil eines weltweiten Prozesses. Die Arabische Revolution war eine Vorwegnahme von dem, was auch in Europa und Nordamerika passieren wird. Bis jetzt war die Situation in Lateinamerika am weitesten fortgeschritten, aber die Ereignisse in Tunesien haben das geändert.
Innerhalb von Wochen ist die Arabische Revolution von einem Land auf das nächste übergesprungen. Millionen von normalen ArbeiterInnen und Jugendlichen auf der ganzen Welt konnten sehen, wie sich die Revolution vor ihren Augen entfaltete. Man sah dramatische und inspirierende Szenen, als Millionen von Menschen an Mobilisierungen teilnahmen, sich organisierten, kämpften und sogar bereit waren zu sterben, um die Gesellschaft zu ändern. Das erste Mal seit Jahrzehnten war die Revolution mehr als nur eine einfache, abstrakte Idee und nahm konkrete Formen an. Das bestätigt alles, was wir in der Vergangenheit über den internationalen Charakter der Revolution und über die führende Rolle der ArbeiterInnenklasse gesagt haben. Es bestätigt auch die Notwendigkeit einer revolutionären Führung, damit die Revolution siegen kann.
Trotzki sagte in den 1930ern über die spanischen ArbeiterInnen, sie hätten nicht eine sondern zehn Revolutionen machen können. Dies trifft auch auf die tunesischen und ägyptischen ArbeiterInnen zu. Was jedoch gefehlt hat, war die revolutionäre Führung. Aus diesem Grund wird die Arabische Revolution einen langgezogenen und konvulsiven Charakter annehmen und durch viele Stadien gehen. In Ägypten und Tunesien war der Sturz von Ben Ali und Mubarak ein grosser Schritt vorwärts. Aber es war nur der erste Schritt. Was es braucht, ist ein Sturz des gesamten Regimes, nicht nur des Individuums, das an der Spitze stand. Die Forderung nach der Enteignung des Vermögens dieser Parasiten und der imperialistischen Konzerne, die sie unterstützten, verbindet demokratische Losungen mit dem sozialistischen Programm. Mit ihrem erstaunlichen Mut und Aufopferungsgeist erinnert das grossartige revolutionäre ägyptische Proletariat an Barcelona 1936, als die ArbeiterInnen spontan ohne Partei, ohne Führung, ohne Programm, ohne Plan aufbegehrten und den Faschismus fast mit blossen Händen zerschlugen. Die Massen haben beim Ausbruch der Revolution nie einen vorgefassten Plan.
Die Revolution hat schon viel erreicht. Ein wichtiges Element in der Gleichung war dabei die Rolle der Frauen – deren Aktivität ist immer ein sicheres Anzeichen, dass die Revolution die Massen aufgerüttelt hat. Sie hat die religiöse Spaltung und jene zwischen den Geschlechtern, Sprachen und Nationalitäten aufgebrochen. Die Revolution vereint die Massen im Kampf.
Die Rolle des islamischen Fundamentalismus und der Muslimbruderschaft in diesen Ereignissen wurde von den westlichen Medien absichtlich hochgespielt. Tatsächlich sind diese Stützpfeiler des Regimes und werden vom Imperialismus als willkommener Buhmann eingesetzt. Unter dem Druck der Massen sehen wir bereits wie sich die islamistischen Organisationen in verschiedene Fraktionen entlang von Klassenlinien zu spalten beginnen.
Zu einem grossen Teil hat und wird die Revolution auch weiterhin den politischen Islam als das enttarnen, was er ist: ein Nebel, hinter dem rechte bürgerliche Politiker aller Schattierungen stehen. Aber dieser Prozess ist kein linearer. Ohne eine richtige revolutionäre Führung muss die Bewegung notwendigerweise einige Umwege in Kauf nehmen und aus schmerzhaften Erfahrungen lernen (wie in einem Trial and Error- Verfahren).
Viele bürgerliche Elemente in der Gesellschaft haben sich hinter die islamischen Liberalen und Konservativen gestellt, wie z.B. hinter die Ennahda in Tunesien oder die Muslimbruderschaft in Ägypten. Da die ArbeiterInnenklasse bisher keine klare Alternative aufgezeigt hat, schaffen es diese Parteien und Strömungen einige Schichten der Massen für sich zu gewinnen. Das gilt vor allem dann, wenn die Bewegung zeitweise abebbt. Unter diesen Bedingungen sehen die Massen diese Parteien als oppositionelle Kräfte an, die frei sind von Verbindungen zum alten Regime. Trotzdem, und entgegen den Meinungen der rein empirisch vorgehenden bürgerlichen „ExpertInnen“, die nicht zögern den Sieg des islamischen Fundamentalismus im Nahen Osten zu deklarieren, wäre es falsch, den Wahlerfolg oder das vorläufige Anwachsen der islamischen Parteien als Niederlage der Revolution anzusehen. Das ist bloss eine Stufe in einem langgezogenen Prozess. Wer auch immer im Zuge der Arabischen Revolution an die Macht kommt, wird sofort mit den Forderungen der Massen konfrontiert sein, die eine Lösung ihrer grundlegenden Probleme (Armut, Arbeitslosigkeit und fehlende Demokratie) in dieser Welt wollen und nicht erst im Jenseits.
Deshalb werden wir in der nächsten Periode den Aufstieg und Fall vieler Strömungen und Parteien sehen. Keine dieser Parteien fordert den Kapitalismus als System heraus. Tatsächlich verteidigen sie allesamt die kapitalistische Ordnung und deshalb werden sie auch nicht imstande sein, die grundlegenden Forderungen der Menschen zu erfüllen. An irgendeinem Punkt werden sie in Konflikt mit den Massen kommen. Die ArbeiterInnen und Jugendlichen sind noch voller Zuversicht aufgrund ihres Sieges im Frühling 2011. Sie werden jede Partei, die an die Macht kommt, auf die Probe stellen. Zunächst kann es eine Periode geben, in der sie abwarten und beobachten, was ihnen angeboten wird, aber unvermeidlich werden diese Parteien als nicht gut genug empfunden werden. Deshalb bedeutet der Aufstieg der „islamischen“ Organisationen nicht die endgültige Niederlage der Revolution; im Gegenteil, er ist die Vorbereitung zukünftiger Erhebungen.
Eine Revolution ist kein singuläres Ereignis, sondern ein Prozess. Jede Revolution entfaltet sich in mehreren Etappen. Die erste Stufe gleicht immer einem riesigen Karnevalsumzug, wenn die Massen mit einer gewaltigen Euphorie auf die Strassen gehen. Die Massen haben das Gefühl, dass sie gewonnen haben. In solch einer Situation müssen Strategie und Taktik sehr konkret sein und die reale Situation reflektieren. Wir fordern völlige Demokratie, die sofortige Abschaffung von allen reaktionären Gesetzen und die Einrichtung einer Verfassungsgebenden Versammlung. Aber die Frage lautet: Wer wird die Verfassungsgebende Versammlung einberufen. Die ägyptische Armee, die ein integraler Bestandteil des alten Regimes war? Die ArbeiterInnen und Jugendlichen müssen daher den Kampf fortsetzen, auf der Strasse, in den Fabriken, bis alle ihre Forderungen erfüllt wurden.
Die unmittelbaren Forderungen sind demokratischer Natur. Das war auch in Russland 1917 der Fall. Die objektiven Aufgaben der Russischen Revolution waren ebenfalls demokratisch: Sturz des Zaren, formale Demokratie, Befreiung vom Imperialismus, Pressefreiheit usw. Doch die Russische Revolution zeigte auch, dass diese demokratischen Aufgaben nur gelöst werden können, wenn die ArbeiterInnenklasse die Macht erobert. Deshalb müssen die demokratischen Forderungen mit sozialistischen Forderungen verknüpft werden.
Die Bolschewiki eroberten die Macht auf der Grundlage demokratischer Forderungen: Frieden, Brot und Land. Das waren keine sozialistischen Losungen. Theoretisch kann man diese Forderungen auch unter kapitalistischen Bedingungen durchsetzen. Aber Lenin verband diese Übergangsforderungen mit einer anderen Forderung: Alle Macht den Sowjets. Auf diese Weise, in dem er die weitestgehenden demokratischen Forderungen aufstellte, knüpfte er am tatsächlichen Bewusstseinsstand der Massen an und konnte so die zentrale Frage der Arbeitermacht stellen. Auf ähnliche Weise können wir heute in Ägypten sagen: „Ihr wollt Demokratie? Wir auch! Aber kein Vertrauen in die Armee und in die Muslimbruderschaft – lasst uns für wirkliche Demokratie kämpfen!“
Revolutionen entwickeln sich nicht geradlinig. In jeder Revolution können wir das beobachten. In Russland kam es nach dem Sturz des Zaren im Februar zu einer Phase der Reaktion in den Monaten Juli und August, auf die ein neuerlicher Aufschwung der Revolution im September und Oktober folgte. In Spanien folgte auf den Sturz der Monarchie im April 1931 die Niederlage der Asturischen Kommune im Oktober 1934 und der Sieg der Reaktion im Bienio Negro (den „zwei schwarzen Jahren“), die aber nur das Vorspiel für einen neuerlichen Aufschwung 1936 ausgehend von der Wahl der Volksfront waren.
Mangels einer bolschewistischen Führung war es unvermeidlich, dass die Ägyptische Revolution zurückgeworfen wird. Aber diejenigen, die die Revolution gemacht haben, beginnen zu erkennen, dass sie betrogen werden. Sie sagen: „Was hat sich verändert? Im Grunde genommen gar nichts.“ Es ist wie in den Julitagen in Russland 1917. Deshalb bewegt sich die Revolution hin zu einer neuen Stufe. Den Anfang macht einmal mehr die Jugend, die beklagt, dass sich nichts verändert hat. Das ist eine unvermeidliche Stufe, in der die Massen wichtige Erfahrungen machen.
Wir können nicht mit Gewissheit voraussagen, was in der unmittelbaren Zukunft geschehen wird. Wahrscheinlich werden wir eine Reihe von instabilen bürgerlichen Regimes erleben. Das wird keine einfache Phase sein. Die Massen werden aus sehr schmerzhaften Erfahrungen lernen, dass die ArbeiterInnenklasse die Macht erobern muss oder es sonst sehr böse ausgehen kann. Es wird dabei zu einem langwierigen Prozess innerer Differenzierungen kommen. Es wird Niederlagen geben, auch sehr schwere. Doch unter den gegebenen Umständen wird jede Niederlage nur das Vorspiel zu einem neuerlichen revolutionären Aufschwung sein. Wenn das alles schon vor 10 Jahren passiert wäre, wäre es wahrscheinlich viel leichter gelungen ein bürgerlich-demokratisches Regime zu konsolidieren. Doch jetzt stecken sie in einer tiefen Krise: Die Bürgerlichen können den Massen nichts bieten. Nicht einmal in den USA können sie das – wie soll das dann in Ägypten möglich sein? Es wird kein Brot, keine Jobs usw. Geben.
Lenin schrieb 1915:
„Wer eine ‚reine’ soziale Revolution erwartet, der wird sie niemals erleben. Der ist nur in Worten ein Revolutionär, der versteht nicht die wirkliche Revolution. „Die Russische Revolution von 1905 war eine bürgerlich-demokratische Revolution. Sie bestand aus einer Reihe von Kämpfen aller unzufriedenen Klassen, Gruppen und Elemente der Bevölkerung. Darunter gab es Massen mit den wildesten Vorurteilen, mit den unklarsten und phantastischsten Kampfzielen, gab es Grüppchen, die von Japan Geld nahmen, gab es Spekulanten und Abenteurer usw. Objektiv untergrub die Bewegung der Massen den Zarismus und bahnte der Demokratie den Weg, darum wurde sie von den klassenbewussten Arbeitern geführt. (…) Teile des Kleinbürgertums und der rückständigen Arbeiter werden unweigerlich an ihr teilnehmen – ohne eine solche Teilnahme ist ein Massenkampf nicht möglich, ist überhaupt keine Revolution möglich –, und ebenso unweigerlich werden sie in die Bewegung ihre Vorurteile, ihre reaktionären Phantastereien, ihre Fehler und Schwächen hineintragen. Objektiv aber werden sie das Kapital angreifen, und die klassenbewusste Avantgarde der Revolution, das fortgeschrittene Proletariat, das diese objektive Wahrheit des mannigfaltigen, vielstimmigen, buntscheckigen und äusserlich zersplitterten Massenkampfes zum Ausdruck bringt, wird es verstehen, ihn zu vereinheitlichen und zu lenken, die Macht zu erobern, die Banken in Besitz zu nehmen, die allen (wenn auch aus verschiedenen Gründen!) so verhassten Trusts zu expropriieren [enteignen] und andere diktatorische Massnahmen durchzuführen, die in ihrer Gesamtheit den Sturz der Bourgeoisie und den Sieg des Sozialismus ergeben, einen Sieg, der sich durchaus nicht mit einem Schlag aller kleinbürgerlichen Schlacken ‚entledigen’ wird.“
Diese Zeilen treffen heute auf die Arabische Revolution perfekt zu.
Die Linke hat sich angesichts der Ereignisse in Libyen enorm verwirrt gezeigt. Auf der einen Seite kapitulierten Teile der Linken vor dem Imperialismus und unterstützten die Militärintervention der NATO. Das war sowohl naiv wie auch reaktionär. Man darf sein eigenes Urteilsvermögen nicht durch die heuchlerischen Chöre der Medien vernebeln lassen. Die Lügen von der sogenannten „humanitären“ Intervention zum „Schutz der Zivilisten“ zu glauben, war extrem dumm.
Aber das andere Extrem in der Linken war nicht viel besser. Sie unterstützten Gaddafi, den sie in den buntesten Farben als „fortschrittlich“, „antiimperialistisch“ und sogar „sozialistisch“ darstellten. Nichts davon stimmte. Es stimmt, dass das libysche Regime (und auch das syrische Regime) einen anderen Charakter hatten als die Regime in Tunesien und Ägypten. Aber es waren trotzdem sehr unterdrückerische Regime. Auch waren sie nicht genuin antiimperialistisch.
Das Gaddafi-Regime war ein sehr eigenartiges Gebilde. Anfangs hatte Gaddafi eine Massenbasis aufgrund seiner antiimperialistischen Rhetorik. Das Regime präsentierte sich selbst als „sozialistisch“ und verstaatliche den Grossteil der Ökonomie. Aufgrund der grossen Erdölreserven und einer sehr kleinen Bevölkerung konnte das Regime einen relativ hohen Lebensstandard, ein Gesundheits- und Bildungswesen für die Mehrheit der Bevölkerung garantieren. Das gab dem Regime lange Zeit hindurch eine beachtliche Stabilität. Das erklärt auch, warum Gaddafi nach dem ersten Aufstand gegen ihn trotz alledem imstande war genügend Unterstützung zu mobilisieren, um mehrere Monate lang auszuharren, bis er letztendlich doch gestürzt wurde.
Aber es handelte sich um ein System, dass alle Macht in den Händen eines Individuums konzentrierte und in dem die Entwicklung politischer und staatlicher Institutionen effektiv verhindert wurde. Es gab keine herrschende Partei (politische Parteien waren generell nicht erlaubt), eine sehr kleine Bürokratie nur und eine schwache, gespaltene Armee. Gaddafi hielt sich an der Macht durch ein kompliziertes System aus Repression, Klientelwirtschaft, Bündnissen mit Stammesführern und einem Netzwerk informeller Kontakte.
In den vergangenen 20 Jahren – und speziell im letzten Jahrzehnt – begann das Gaddafi- Regime die staatliche Kontrolle über die Wirtschaft zu lockern und es wurde versucht Abkommen mit dem Imperialismus zu machen. Die Märkte wurden geöffnet und eine „neoliberale“ Politik wurde etabliert. Marktwirtschaftliche Reformen wurden umgesetzt, Libyen beantragte die Mitgliedschaft bei der WTO, senkte die Subventionen und kündigte ein Privatisierungsprogramm an.
Diese Schritte Richtung Marktwirtschaft führten für viele Menschen in Libyen zu einem Sinken des Lebensstandards, auf der anderen Seite bereicherte sich eine kleine Minderheit, allen voran die Familie von Gaddafi. Das war eine der wichtigsten Ursachen für die massive Unzufriedenheit in der Bevölkerung, die zum Aufstand führte. Der Aufstand in Bengazi war eine echte Revolution, doch mangels einer revolutionären Partei wurde sie von bürgerlichen Politikern, dem sogenannten Nationalen Übergangsrat, in falsche Bahnen gelenkt. Diese Elemente haben sich selbst zur Führung der Bewegung ernannt, wurden von niemandem gewählt und waren niemand rechenschaftspflichtig. Mit Ellbogentaktik bahnten sie sich den Weg und drängten die revolutionären Massen, vor allem die Jugend, zur Seite.
Das Ergebnis war eine konfuse und chaotische Situation, die leicht degenerieren konnte. Während all den revolutionären Erhebungen im Nahen Osten und in Nordafrika war der Imperialismus nicht imstande zu intervenieren. Doch nun sahen die USA, Frankreich und Grossbritannien eine Möglichkeit sich einzumischen und traten in Kontakt mit den Nationalen Übergangsrat, der eine Allianz aus bürgerlichen Elementen und ehemaligen Ministern des Gaddafi-Regimes darstellte.
Die neuen Machthaber in Libyen sind noch mehr dazu bereit, sich in den Dienst des Imperialismus zu stellen, als dies bei Gaddafi der Fall war. Aber trotz der „Freundschaftsdemos“ in Bengazi, misstrauen die Massen in Libyen dem Imperialismus. Sie wissen, dass die Revolution in Libyen nur deshalb die Unterstützung des Westens erhielt, weil das Land reich an Erdölvorkommen ist und britische, französische und US-Konzerne die natürlichen Ressourcen des Landes gerne plündern würden.
Wenn wir ein Phänomen analysieren, müssen wir sorgfältig unterscheiden zwischen den verschiedenen Tendenzen und sorgsam trennen was progressiv und was reaktionär ist. Im Fall von Libyen ist das nicht immer einfach. Die Bewegung in Libyen beinhaltet viele verschiedene Elemente, sowohl reaktionäre wie auch potentiell revolutionäre. Eine Reihe von politischen Kräften strebt nach der Führung der Revolution. Dieser Kampf ist noch lange nicht abgeschlossen und kann in ganz unterschiedliche Richtungen gehen. Das Schicksal Libyens ist noch nicht entschieden und wird ganz wesentlich von internationalen Ereignissen und speziell den Entwicklungen in Ägypten abhängen.
Wie auch in Libyen wurden recht früh auch schon in Syrien die Auswirkungen der Revolution in Tunesien und Ägypten spürbar, mit ähnlichen Folgen. Die Massen glaubten, sie könnten einfach durch eine Massendemo nach der anderen das Regime stürzen. Doch die Situation erwies sich als weit komplizierter. Das Regime verfügte weiterhin über eine gewisse Massenbasis in Teilen der Bevölkerung. Dies zusammen mit dem Fehlen einer revolutionären Führung, und im wesentlichen das Ausbleiben eines entschiedenen Auftretens der ArbeiterInnenklasse, führte zu einer Pattsituation über Monate.
Das syrische Baath-Regime stützte sich in der Vergangenheit auf eine geplante Wirtschaft nach dem Modell der ehemaligen Sowjetunion, was in den 1960ern und 1970ern eine bedeutsame ökonomische Entwicklung ermöglichte. In den 1980ern verlangsamte sich das Wirtschaftswachstum. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion begann das Regime den Kapitalismus zu restaurieren. In Folge dieses Übergangs kam es immer stärker zu einer sozialen Polarisierung, wobei sich eine kleine Minderheit selbst bereicherte, während sich sonst Armut in der Gesellschaft breit machte. Die Arbeitslosigkeit stieg sehr stark an und liegt nun bei über 20 Prozent (laut einigen Schätzungen); die Jugendarbeitslosigkeit liegt noch viel höher. Es ist genau diese soziale Polarisierung die wahre Ursache für die Revolution in Syrien. Das syrische Regime wird von den Massen gehasst, doch wie auch in Libyen sieht der Imperialismus auch in Syrien eine Möglichkeit zu intervenieren und versucht seine eigenen Marionetten an die Spitze der Syrischen Revolution zu setzen, um diese so in sichere Kanäle zu lenken.
In der Armee kam es zu einer offenen Spaltung, viele Offiziere erklärten sich selbst zur „Freien Syrischen Armee“. Das zeigt, dass viele gewöhnliche Soldaten mit der Revolution sympathisieren und ein Teil der Offizierschaft die Zeichen der Zeit erkannt hat. Sie versuchen Anerkennung unter den Massen zu bekommen und haben das Schiff verlassen, bevor es zur Gänze untergeht. Diese Offiziere haben sich für die Errichtung einer Flugverbotszone ausgesprochen, die vom Imperialismus durchgesetzt werden soll. Dies lässt darauf schliessen, dass sie in den Reihen der Revolution eine konterrevolutionäre Rolle einnehmen werden.
Was in Syrien fehlt, ist eine klare marxistische Führung, die den Massen erklärt, dass das Regime gestürzt werden muss und in der Tat auch gestürzt werden kann, aber das an seiner Stelle eine geplante Wirtschaft unter der direkten Kontrolle der ArbeiterInnen erforderlich ist. Ohne eine derartige Führung wird die Revolution in Richtung einer „bürgerlich-demokratischen Konterrevolution“ gehen. Das würde keines der brennenden Probleme der Massen lösen. In Wirklichkeit wird die soziale Ungleichheit weiter und sogar schneller als zuvor zunehmen. Mit der Zeit werden die Massen verstehen, dass das Problem nicht nur darin besteht einen Diktator wie Assad loszuwerden. Sie werden einsehen, dass auf einer kapitalistischen Grundlage ihre Probleme nicht gelöst werden. Der Imperialismus ist ernsthaft besorgt über die Entwicklungen in der arabischen Welt, die einen wichtigen Stellenwert in ihren geopolitischen Überlegungen einnimmt. Der Sturz von Mubarak war ein schwerer Schlag für die Strategie der USA im Nahen Osten. Dadurch sind sie zu einer noch engeren Beziehung zu Israel gezwungen, dem einzigen Verbündeten in der Region, auf den sie sich verlassen können. Sie werden auch alles unternehmen, um das Regime in Saudi-Arabien und die reaktionären Scheichtümer in den Golfstaaten stützen zu können.
Vor kurzem schlossen die USA ein Rüstungsabkommen mit Saudi-Arabien in der Höhe von 60 Mrd. $ ab. Sie hoffen auch tausende Bunkerknacker an die Vereinigten Arabischen Emirate verkaufen zu können. Sie setzen auf Manöver, um die monarchistische Clique in Bahrain zu retten, wo die Massen trotz der brutalen Repression und der Anwesenheit saudischer Söldner wieder in Bewegung sind. Doch all diese Manöver werden letztendlich nichts bringen. Das Regime in Saudi- Arabien marschierte aus Angst um die eigene Sicherheit in Bahrain ein. Die königliche Familie ist korrupt und heuchlerisch und steht nun vor einer Krise rund um die Frage, wer Thronfolger wird. Gleichzeitig sinkt der Lebensstandard der Bevölkerung, und der Zustand der Millionen ArbeitsmigrantInnen ist erschreckend. Der Kopf des wahabitischen Klerus ermahnte das Regime, sofort Zugeständnisse zu machen und den Lebensstandard zu heben, weil sonst in Saudi-Arabien dasselbe passieren könnte wie in Tunesien und Ägypten.
Der Geist ist aus der Flasche ausgekommen und kann nicht mehr so schnell zurückgesteckt werden. Die revolutionären Erhebungen haben sich bereits auf Libyen, Syrien, Djibouti, den Jemen, Bahrain, Jordanien, Oman, Algerien und Marokko ausgedehnt. Und die Massen sind, sobald sie einmal in Bewegung sind, nicht so einfach mit Versprechungen wieder zu befrieden, wie die Ereignisse in Ägypten gezeigt haben. Die Revolution wird sich in Wellen entfalten. Auf Flut wird Ebbe folgen, Müdigkeit, Enttäuschung, Niederlagen und selbst Reaktion werden wir sehen. Doch das wird nur das Vorspiel sein für einen neuen und noch dramatischeren revolutionären Aufschwung.
Die Arabische Revolution hatte einen grossen Effekt auf den Iran. Als die iranische Revolution im Juni 2009 begann, hatten Tausende iranische Jugendliche unvorstellbare Hoffnungen. Doch die Bewegung war bereits nach dem massiven Aufstand zu Ashura im Dezember 2009 an seine Grenzen gestossen. Die Arabische Revolution diente als neuer Impuls, belebte die Bewegung im Februar und März 2011 erneut. Hunderttausende gingen abermals auf die Strassen. Doch die Bewegung wurde durch die Rolle von Mousavi, Karroubi und andere liberale Parlamentarier der reformistischen Bewegung falsch orientiert und schaffte es nicht sich zu etwas zu entwickeln, das über eine grosse Demonstration hinausgehen würde. Im April 2011 wurde die Bewegung nach ihren letzten Zuckern niedergeschlagen.
Nach mehr als zwei Jahren des revolutionären Kampfes ist die Bewegung nun an einem Tiefpunkt angelangt. Doch keines der Probleme ist gelöst. Die Wirtschaftskrise hat sich vertieft, die Inflation und die Arbeitslosenrate steigen stetig, und die Abschaffung der Subventionen für Güter des täglichen Bedarfs wird eine Welle der Unzufriedenheit unter den Massen, einschliesslich der Schichten, die 2009 sich noch nicht an der Massenbewegung beteiligt haben, auslösen.
Obwohl die Bewegung niedergeschlagen wurde, bedeutet das nicht, dass die Lage im Iran stabil ist. Im Sommer 2011 kam es zu massiven Bewegungen im Gebiet der Azeris und in Kurdistan, an denen sich Zehntausende beteiligten. Und wie wir vorhergesagt haben, kam es zu einer zunehmenden Zahl an Arbeiterprotesten, während die „demokratische“ Bewegung niederging. Seit dem Frühling 2011 sehen wir eine stetige Zunahme an Streiks.
Interessant daran ist, dass diese Arbeiterbewegung von neuen Schichten an grossteils prekär beschäftigten Arbeitern getragen wird, die sich nicht an den Streiks der vergangenen Periode beteiligt haben. Vor allem in der petrochemischen Industrie, die eine strategische Bedeutung für das Regime hat, hat eine Reihe von teils wochenlangen Streiks, an denen sich Hunderttausende beteiligten, die scheinbare Ruhe durchbrochen, die in der iranischen Gesellschaft oberflächlich betrachtet vorherrscht. Diese Streiks sind eine Vorwegnahme einer neuen Welle der revolutionären Bewegung, die sich dann auf einer höheren Ebene entfalten wird.
Die Spannungen in der Gesellschaft spiegeln sich in einer Spaltung an der Spitze des Regimes, einschliesslich eines offenen Konflikts zwischen Khamenei und Ahmadinejad, wider. Die Krise an der Spitze ist ein Symptom für die zunehmende Krise in der Gesellschaft, die sich in einem sehr fragilen und nervösen Gleichgewicht befindet, das früher oder später zu neuen und noch explosiveren Erschütterungen führen muss.
Zu guter Letzt hat auch Israel die grössten Massenproteste seiner Geschichte erlebt. Netanyahu war nach der Ägyptischen Revolution der Schrecken ins Gesicht geschrieben, als sein wichtigster Verbündeter in der Region gestürzt wurde. Dann im Sommer 2011 gingen die Menschen gegen die Teuerungswelle auf die Strasse und forderten bessere Lebensbedingungen und billigere Wohnungen. Netanyahu versuchte die Bedeutung der Bewegung runterzuspielen und sagte öffentlich, dass die DemonstrantInnen vom Ausland bezahlt würden. Doch es ist schwer die Menschen davon zu überzeugen, wenn bei einer Bevölkerung von 7 Millionen 500.000 auf der Strasse sind. Diese wunderbare Bewegung straft all jene Sekten der Unwissenheit, die Israel als einen einzigen reaktionären Block betrachten.
Palästina wurde ebenfalls von der Arabischen Revolution angesteckt. Die Bevölkerung hat erkannt, dass Abbas die palästinensische Sache völlig verraten hat. Sein Versuch die UNO dazu zu bringen, Palästina als Staat anzuerkennen, war ein verzweifelter Versuch Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen. Wie nicht anders zu erwarten war, hat dieser Versuch aber nichts gebracht. In der palästinensischen Jugend wird sich die Idee breit machen, dass es eine zweite Intifada braucht. Unter den gegenwärtigen Bedingungen würde dies alles verändern.
Unter solchen Bedingungen versucht die zionistische herrschende Klasse in Israel von den innenpolitischen Problemen abzulenken. Und wie in der Vergangenheit muss der Iran herhalten, der als Bedrohung für die ganze jüdische Bevölkerung in Israel dargestellt wird. Das ist der wahre Grund, warum Israel einmal mehr damit droht den Iran anzugreifen. Ausserdem fühlen sich die Israelis vom zunehmenden Einfluss des Iran in der Region bedroht.
Als Grund für dieses Säbelrasseln wird uns von den Medien die „Gefahr“, die von der aufstrebenden Nuklearmacht Iran ausgeht, genannt. Doch die wahren Ursachen liegen tiefer. Israel und der Iran bedienen beide die Kriegstrommeln, um von den wachsenden sozialen Konflikten im eigenen Land abzulenken. Beide haben ein Interesse an dieser militärischen Auseinandersetzung, weil es die sich in den Tiefen der Gesellschaft entwickelnden Bewegungen beruhigen und die gespaltenen herrschenden Zirkel an der Spitze vereinen könnte. Ein richtiger Krieg ist aber ausgeschlossen. Wenn dann kommt es zu begrenzten Luftangriffen gegen strategische Militär- und Nuklearanlagen – wie es die Israelis auch in Syrien und im Irak in der Vergangenheit gemacht haben. Die Möglichkeit eines solchen Angriffs wird noch dadurch grösser, dass die USA in der Golfregion ihre militärische Präsenz verstärken, nachdem sie ihre letzten Truppen aus dem Irak abziehen.
Wenn Israel auf solch einen Angriff setzt, würde das im ganzen Nahen Osten zu einer Explosion führen. Die Massen würden gegen den israelischen und den US- Imperialismus auf die Strasse gehen und jedes Regime erschüttern. Selbst im Iran könnte das Regime sich nicht mehr als eine kurzfristige Atempause von solch einem Konflikt erwarten. Wie alle militärischen Konflikte würde auch dies alle Widersprüche in der Gesellschaft zum Vorschein bringen und den wahren Charakter des Regimes auch gegenüber seinen letzten verbliebenen Anhängern offenlegen. Sowohl die israelische Regierung wie auch das iranische Regime spüren den Atem der Massen im eigenen Land im Nacken und können daher keinen Rückzieher machen – sie sind daher gezwungen die gegenseitigen Provokationen ständig zu verschärfen. Das Proletariat im Nahen Osten ist der entscheidende Faktor in der gesamten Situation. Der Aufbau einer starken marxistischen Strömung in der arabischen Welt ist eine dringliche Aufgabe. Sie wird im Feuer des Gefechts aufgebaut werden müssen. Die Arabische Revolution wird über Jahre dauern mit Auf und Abs wie die Spanische Revolution in den 1930ern. Es wird zu einem Prozess der inneren Differenzierung in diesen Bewegungen kommen. Ein linker Flügel wird sich herauskristallisieren, und ein linksextremer Flügel. Wir müssen einen Weg finden, um Teil dieses Prozesses zu werden.
In den letzten eineinhalb Jahren standen die Arabische Revolution und die stürmischen Ereignisse in Europa im Mittelpunkt des Interesses. Im Gegensatz dazu schien die Lateinamerikanische Revolution ein langsameres Tempo als bisher eingeschlagen zu haben. Solche Entwicklungen sind unvermeidlich und reflektieren den kombinierten und ungleichen Charakter des Prozesses der Weltrevolution. Doch auch in Lateinamerika gehen wichtige Entwicklungen vor sich, wobei für die kommenden Monate einige entscheidende Ereignisse in Vorbereitung sind.
Lateinamerika und die Karibik wurden von der weltweiten Rezession von 2008/9 schwer getroffen. Das BIP dieser Staaten sank 2009 um 2,1 Prozent. Am stärksten betroffen waren die Länder, deren Ökonomien eng mit jener der USA verbunden sind (z.B. Mexiko, das einen Einbruch von 6,1% verzeichnete). 2010 erholte sich die Region jedoch relativ schnell wieder mit einem BIP-Wachstum von 5,9 Prozent (6,4 Prozent für die zehn Staaten Südamerikas). Dieses Wirtschaftswachstum ist in den meisten Fällen auf den Zustrom chinesischer Investitionen und den Export von Rohstoffen nach China zurückzuführen. Die Region stellt 25 Prozent aller chinesischen Rohstoffimporte. Allein 2010 investierte China in Lateinamerika einen Betrag, der doppelt so hoch ist wie die Investitionen der vergangenen 20 Jahre. China ist heute das wichtigste Exportziel für Brasilien, Chile und Peru, und das zweitwichtigste für Argentinien, Costa Rica und Kuba.
Der wirtschaftliche Erholungsprozess ist also sehr stark abhängig von der Entwicklung in China, und zeigt dementsprechend auch bereits eine erste Verlangsamung (geschätzte 4,4 Prozent für 2011, und prognostizierte 4,1 Prozent für 2012). Ein plötzlicher Einbruch in China in Kombination mit einer Rückkehr der Rezession in den USA und der EU würde die Erholung in der Region abrupt beenden. Das Wirtschaftswachstum war zu einem grossen Teil verantwortlich für die Wahl von Dilma Rousseff (PT) in Brasilien und die Wiederwahl von Cristina Kirchner in Argentinien und von Daniel Ortega von der FSLN in Nicaragua. Dies spielte auch eine gewisse Rolle bei der temporären Stabilisierung der Beziehungen zwischen Kolumbien und Venezuela und dem Abkommen zwischen den beiden Staaten, das die Rückkehr von Zelaya nach Honduras ermöglichte. Gleichzeitig sahen wir aber auch die heroische Bewegung der Studierenden in Chile, die monatelang andauerte und an der sich Hunderttausende Studierende aber auch ArbeiterInnen beteiligten und die endgültig den politischen Konsens der Ära nach Pinochet zerstörte.
Eine ähnliche Bewegung sahen wir in Kolumbien, und wir stehen am Beginn einer Mobilisierung an den Unis in Brasilien. 2012 werden wir eine wichtige Auseinandersetzung rund um die Wahlen in Mexiko sehen. Andres Manuel Lopez Obrador wurde zum Kandidaten der PRD gekürt. Und in Venezuela finden ebenfalls entscheidende Präsidentschaftswahlen statt.
Die Gründung der CELAC (Community of Caribbean and Latin American States) hat innerhalb der Arbeiterbewegung und der Jugend in Lateinamerika eine gewisse Erwartungshaltung geschürt. Die CELAC wird als eine Alternative zur Organisation of American States (OAS) gesehen, die unter der Kontrolle des US-Imperialismus steht. Die CELAC hat sich selbst zum Ziel gesteckt, den Integrationsprozess der karibischen und lateinamerikanischen Staaten innerhalb des Rahmens von “Solidarität, Zusammenarbeit, Komplementarität und politischen Abkommen” zu vertiefen. Doch es ist aufgrund des kapitalistischen Charakters dieser Ökonomien und Nationalstaaten, der Heterogenität der Mitgliedsländer und ihrer Regierungen, des reaktionären Charakters der nationalen Bourgeoisie und ihrer unterwürfigen Abhängigkeit vom Imperialismus unmöglich auf diesem Weg entscheidende Fortschritte zu erzielen.
Die historische Waffe der nationalen Befreiungsbewegung gegen den Imperialismus ist der Klassenkampf. Unter allen Umständen müssen wir erklären, dass es ohne die Enteignung des Grossgrundbesitzes, der Banken und Monopole (sowohl der imperialistischen wie der lateinamerikanischen) und ohne eine harmonische sozialistische und demokratische Planung der immensen natürlichen Ressourcen des Subkontinents durch die arbeitende Bevölkerung keine Möglichkeit zu einer genuinen antiimperialistischen Befreiung Lateinamerikas kommen kann. Unser Slogan bleibt weiterhin der Kampf für die Sozialistische Föderation Lateinamerikas als ersten Schritt zu einer Sozialistischen Föderation der Amerikas, der einzigen Orientierung, die für die unterdrückten und ausgebeuteten Völker einen Ausweg bieten kann.
Die Bolivarische Revolution steckt in einer Sackgasse. Das Versagen, die Hauptaufgaben der sozialistischen Revolution durchzuführen, hat – so wie wir es vorausgesagt haben – zu einer chaotischen Situation geführt, die gekennzeichnet ist durch wirtschaftliche Stagnation, Inflation, Fabrikschliessungen und sinkenden Lebensstandard. Dazu kommt das Gift aus Bürokratie und Korruption. Alles zusammen hat eine gefährliche Situation für das Schicksal der Revolution geschaffen. Die Bolivarische Revolution hätte in mehreren Situationen ohne grösseren Widerstand und ohne Bürgerkrieg bereits siegreich zu Ende gebracht werden können. Besonders nach der Niederlage des Putschs von 2002 wäre eine friedliche sozialistische Revolution möglich gewesen. Die konterrevolutionären Kräfte waren demoralisiert und konnten keinen Widerstand leisten. Die Massen waren zu Leben erwacht, sie waren voller Selbstbewusstsein und genossen die Unterstützung entscheidender Sektoren in der Armee. Ein Wort des Präsidenten hätte genügt, um die Aufgabe zu erfüllen. Doch das Wort des Präsidenten blieb aus.
Eine Revolution ist ein Kampf lebendiger Kräfte. Trotz all der Fehler und Rückschläge verfügt die Bolivarische Revolution noch immer über grosse Reserven unter den Massen. Doch diese Reserven werden von der Chavista-Bürokratie gelähmt. Es handelt sich um ein Problem der Führung.
Das ständige Schwanken zwischen linken und rechten Positionen und wieder zurück, der Unwillen entscheidende Massnahmen gegen die konterrevolutionäre Oligarchie zu setzen, bedeuten, dass viele günstige Gelegenheit bereits ungenützt blieben. Das Kräfteverhältnis ist heute um einiges ungünstiger als noch vor ein paar Jahren. Die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen stellen einen zentralen Wendepunkt dar. Entscheidende Ereignisse werden in den nächsten 12-18 Monaten vorbereitet, die wichtige Folgen für das Schicksal der Venezolanischen Revolution haben werden. Die Enttäuschung unter den Massen könnte sich in einer sehr hohen Wahlenthaltung ausdrücken, was der konterrevolutionären Opposition zum Sieg verhelfen könnte. Doch dieser Ausgang ist auf keinen Fall sicher.
Über ein Jahrzehnt lang stellte der enorme revolutionäre Elan der Massen die Lokomotive der Revolution dar. In jedem entscheidenden Moment mobilisierten die ArbeiterInnen und die Bauernschaft für die Revolution. Es ist durchaus möglich, dass die Massen mit dem Heranrücken des Wahltages und angesichts der stärker werdenden Bedrohung durch die Konterrevolution, die im Massenbewusstsein tief verankert ist, einmal mehr mobilisieren werden, um Chavez den Sieg zu ermöglichen. Die Bürokratie ist der wichtigste Verbündete der Konterrevolution und höhlt die Revolution systematisch von innen her aus. Viele dieser Bürokraten haben eine stalinistische Vergangenheit. Das ist die Quelle für ihren Zynismus und ihre pessimistische Sicht auf die Massen. Der typische Bürokrat hat eine arrogante Herangehensweise an die Massen und zeigt eine feige Unterwürfigkeit gegenüber der Bourgeoisie, deren Herrschaft er für normal erachtet.
Ausserdem ist es klar, dass jene Teile der kubanischen Bürokratie, die Richtung kapitalistischer Restauration in Kuba gehen, Druck auf Chavez machen, damit dieser die Revolution in Venezuela stoppt und ein Abkommen mit der Bourgeoisie schliesst. Diese Elemente haben gänzlich mit dem Sozialismus und dem Kommunismus gebrochen, sie haben kein Interesse an einer sozialistischen Revolution in Venezuela. Alles was sie wollen, ist ein Kuba freundlich gesonnenes bürgerliches Regime in Caracas, das Kuba mit Erdöl versorgt. Doch ihr Handeln wird genau das Gegenteil hervorbringen. Sie bereiten damit den Sturz von Chavez und den Sieg der konterrevolutionären Bourgeoisie vor, deren erster Akt es sein wird, alle Beziehungen zu Kuba abzubrechen.
Es scheint, als würde sich alles gegen die Venezolanische Revolution verschwören, trotz des zweifellos vorhandenen Heldenmuts der Massen. Alle „linken“ Strömungen haben in Venezuela einen kriminellen Standpunkt eingenommen. Die Ex-StalinistInnen in der PSUV spielen ihr übliches konterrevolutionäres Spiel und unterstützen die reformistischen Kräfte in der Parteiführung. Aber sie sind nicht die einzigen Kräfte, die für die ArbeiterInnenklasse ein Hindernis darstellen.
Der Gewerkschaftsverband UNT, der über ein enormes revolutionäres Potential verfügte, erlitt durch das unverantwortliche Abenteurertum von Orlando Chirinos und den anderen sogenannten TrotzkistInnen völligen Schiffbruch. Diese Elemente waren Teil der UNT-Führung und weigerten sich irgendetwas zu leisten, das den Kampf für den Sozialismus materiell weiterbringen würde. Sie haben die Bewegung der besetzten Betriebe und für ArbeiterInnenkontrolle nicht ausgeweitet, und mittlerweile organisiert Chirinos Demos gegen Verstaatlichungen.
Über mehr als ein Jahrzehnt spielte Chavez die Rolle eines Referenzpunktes für die revolutionären Kräfte. Chavez mag vielleicht die sozialistische Revolution durchführen wollen, aber er hat keine Ahnung, wie er das anstellen soll. Noch dazu ist er umgeben von einer Clique an Bürokraten, Reformisten und noch Schlimmerem. Das ständige Hin- und Herschwanken zwischen linken und rechten Positionen hat die Massen verwirrt und falsch orientiert. Die Menschen werden müde, weil der Prozess schon zu lange andauert.
Chavez versucht sich auf unterschiedliche Klassen zu stützen, was zu seinem Hin- und Herschwanken beiträgt. Nach der Wahlniederlage im September 2009 schien es, als würde er tatsächlich die gesamte Ökonomie verstaatlichen. Doch dann begann er erneut zu zögern. Das Ermächtigungsgesetz würde es ihm ermöglichen, die Macht zu übernehmen und die Grossgrundbesitzer und Kapitalisten zu enteignen. Er müsste dann nur noch an die ArbeiterInnen appellieren, dass sie die Kontrolle über die Fabriken übernehmen, und an die Bauern, dass sie das Land übernehmen. Doch das hat er nicht getan.
Die Weigerung den Grossgrundbesitz, die Banken und Konzerne zu enteignen, hat zu dem gegenwärtigen Durcheinander geführt. Wir unterstützen alle Verstaatlichungen, aber eine partielle Verstaatlichungspolitik funktioniert nicht; schon gar nicht wenn die Unternehmen dann nicht unter ArbeiterInnenkontrolle im Rahmen eines vernünftigen Produktionsplans für die gesamte Ökonomie verwaltet werden. Solange nicht die Schalthebel der Wirtschaft, einschliesslich der Banken, verstaatlicht werden, kann die Wirtschaft nicht geplant werden.
Die Politik des Reformismus soll angeblich „praktikabler“ sein, doch in Wirklichkeit erschwert sie das Funktionieren der Ökonomie. Im Endeffekt bekommen wir die Schlimmste aller Welten: Die Nachteile der Marktwirtschaft mit all ihrem Chaos und ihrer Anarchie in Kombination mit all der Korruption und dem Pfusch eines bürokratischen Systems. Das Ergebnis ist ein völliges Chaos. Die Interessen der Bourgeoisie und der Bürokratie nehmen immer die gleiche Form an. Es gibt eine fünfte Kolonne in der Bolivarischen Bewegung, die darauf abzielt die Revolution von innen her zu besiegen. Das bedeutet eine tödliche Bedrohung für die Revolution. Doch eine weit grössere Bedrohung geht davon aus, dass die Massen enttäuscht sind und passiv werden.
Die Massen sind müde von dem endlosen Gerede über Sozialismus und Revolution, während sich gleichzeitig die Lebensbedingungen verschlechtert. Die Lage wird noch durch Chavez’ Krankheit verkompliziert. Man kann mit der Revolution nicht verstecken spielen. Es ist Zeit eine Entscheidung herbeizuführen. Wenn die Frage nicht auf die eine Weise beantwortet wird, dann wird sie auf die andere Art und Weise entschieden. Die Wahlen im Jahr 2012 werden einen kritischen Punkt darstellen. Die von Enttäuschung geprägte Stimmung unter immer grösseren Schichten der Bevölkerung könnte zu Passivität und Wahlenthaltung führen, während die Rechte aus den Rückschlägen der Revolution zusätzliche Energie gewinnt.
Es ist unmöglich das Wahlergebnis vorherzusagen, doch der schlussendliche Ausgang der Ereignisse wird nicht an der Wahlurne allein entschieden. Es kann sein, dass Chavez mit knapper Mehrheit gewinnt. In diesem Fall wird die Opposition wahrscheinlich von Wahlbetrug sprechen und ihre UnterstützerInnen auf der Strasse mobilisieren. Das könnte Venezuela in den Bürgerkrieg treiben, wobei nicht sicher ist, ob die konterrevolutionären Kräfte eine solche Auseinandersetzung gewinnen können. Die Schaffung von Volksmilizen wird in der Gleichung einen wichtigen Faktor darstellen. Die Chavistas sind bewaffnet und trotz mangelhafter Ausbildung und Disziplin könnten sie in einem bewaffneten Zusammenstoss mit der Konterrevolution die Oberhand behalten. Das würde der Revolution einen neuen Impuls geben. Auf der anderen Seite, wenn die Opposition mit einer kleinen Mehrheit gewinnen würde, was würde dann passieren? Chavez warnte in einer Reihe von Reden die Opposition, dass er nicht bereit sei die Bolivarische Revolution kampflos aufzugeben. Es ist nicht ausgeschlossen, dass er sich weigert das Resultat anzuerkennen. Das würde denselben Effekt haben wie beim oben erwähnten Szenario: Die Angelegenheit würde auf den Strassen entschieden.
Die Zukunft der Kubanischen Revolution hat weitreichende Auswirkungen für ganz Lateinamerika und darüber hinaus. Nach dem Zusammenbruch der UdssR hielt Kuba nur 90 Meilen vom mächtigsten imperialistischen Staat entfernt weiter durch. Die Erfolge der staatlichen Planwirtschaft auf den Gebieten des Gesundheits- und Bildungswesens, des sozialen Wohnbaus und der Beschäftigungspolitik standen immer im starken Kontrast zu den Bedingungen in den Nachbarstaaten in Lateinamerika. Ausserdem war da noch eine Generation am Leben, die aktiv an der Revolution beteiligt war. In Osteuropa hingegen verglichen die Menschen ihr eigenes Leben mit den Bedingungen in Westeuropa. Die KubanerInnen verglichen sich grossteils mit dem Rest von Lateinamerika.
Doch jetzt steht ein Fragezeichen über der Zukunft Kubas? Was ist der Klassencharakter des kubanischen Regimes, und wohin geht es? Kuba bleibt ein deformierter Arbeiterstaat. Doch der Zusammenbruch der UdssR bedeutet, dass die Bürokratie nicht mehr länger über ein mächtiges stalinistisches Vorbild mit Einfluss und ideologischer Autorität verfügt. Viele Menschen auf Kuba denken sehr kritisch, und es gibt leidenschaftliche, offene Debatten über das Scheitern der UdssR und die Lehren für Kuba. Auf der anderen Seite gibt es einen Sektor in der Bürokratie, der sich voll und ganz der Konterrevolution verschrieben hat und sich in Stellung bringt, um von der Restauration des Kapitalismus profitieren zu können. Der wichtigste Faktor ist allerdings die schwere Wirtschaftskrise auf der Insel. Der Marxismus geht davon aus, dass in letzter Instanz die Überlebensfähigkeit eines sozioökonomischen Systems von seiner Fähigkeit zur Entwicklung der Produktivkräfte bestimmt wird. Solange das System den Menschen ein gutes Gesundheitswesen, Bildung und sichere Jobs zur Verfügung stellen konnte, konnte es sich halten, und die herrschende Partei genoss eine gewisse Legitimation. Aber wenn das nicht mehr der Fall ist, kann es zu sozialen Unruhen kommen, das System wird in Frage gestellt und vor allem in der Jugend machen sich Zynismus und Skepsis breit.
Zwei miteinander verwobene Faktoren führten zu dieser Wirtschaftskrise: der Zusammenbruch der UdssR und die Krise des Weltkapitalismus. Der Zusammenbruch des Ostblocks führte dazu, dass Kuba keine Subventionen mehr erhielt und keine günstigen Handelsbeziehungen mehr hatte. Damit war das Land dem Weltmarkt ausgeliefert.
Die Idee vom “Sozialismus in einem Land” ist eine reaktionäre Utopie. Wenn sich die Sowjetunion und China, beides riesige Länder mit enormen menschlichen und materiellen Ressourcen, nicht gegen den Druck des kapitalistischen Weltmarkts verteidigen konnten, wie soll dann eine kleine Insel mit wenigen Ressourcen und einer kleinen Bevölkerung überleben können? Die einzig wirkliche Lösung liegt in der Weltrevolution, der erste Schritt dazu wäre die Ausweitung der Revolution auf Lateinamerika. Kuba ist heute extrem abhängig vom Weltmarkt und dementsprechend schwer betroffen ist das Land von der Krise des Weltkapitalismus. Dienstleistungen repräsentieren 75 Prozent des BIP. Der Export von Gesundheitsleistungen (kubanische ÄrztInnen in Venezuela) ist doppelt so hoch wie die Einnahmen aus dem Tourismus. Daher hat sich die Abhängigkeit der kubanischen Wirtschaft von der UdssR in eine Abhängigkeit von Venezuela gewandelt.
Die weltweite Krise des Kapitalismus führte zu einem Verfall der Preise für Kubas wichtigsten Exportartikel (Nickel), zu einem Rückgang der Überweisungen von KubanerInnen, die in den USA arbeiten, zu einem Einbruch der Einnahmen aus dem Tourismus und zu niedrigeren Direktinvestitionen aus dem Ausland. Drei Wellen von Hurrikans zwischen 2008 und 2009 haben die Lage zusätzlich noch verschärft und verursachten Schäden an der ohnehin schon sehr schlechten Wohnsubstanz in der Höhe von 10 Mrd. US-$.
2009 hatte Kuba ein Leistungsbilanzdefizit in der Höhe von 1,5 Mrd. US-$. Kuba konnte seine Schulden 2009/2010 nicht mehr bedienen. Das führte zu einer Herabstufung des Kreditrankings für künftige Kredite, was es noch schwieriger macht Geld zu borgen. Die Belastung auf den Schultern der Bevölkerung nimmt damit weiter zu. Kuba war gezwungen massiv die Lebensmittelimporte zu kürzen und andere Strukturanpassungsprogramme umzusetzen.
Ein grosser Teil des “Lohns”, den kubanische ArbeiterInnen erhalten, wird nicht in Geld ausbezahlt sondern in Form von Sozialleistungen. Wohnen ist mehr oder weniger kostenlos, der Zugang zum hochqualitativen Gesundheits- und Bildungswesen ist frei, und man zahlt fast nichts für Strom und Telefon. Die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel ist nahezu gratis, aber auch sehr mangelhaft. Und auch im Gesundheitssystem erodierten in den vergangenen 20 Jahren die Standards. Kuba hat das höchste Verhältnis von ÄrztInnen zur Gesamtbevölkerung, doch viele von ihnen sind nicht in Kuba. Das Bildungssystem steckt ebenfalls in der Krise. Lehrer verdienen weniger als ein Taxifahrer und entscheiden sich oft dafür den Lehrerberuf aufzugeben. Die Arbeitsproduktivität ist sehr niedrig. Nachdem der Staat keine ausreichenden Löhne oder Subventionen garantieren kann, ist praktisch jeder gezwungen irgendwelchen illegalen oder halblegalen Aktivitäten nachzugehen, um alle Bedürfnisse befriedigen zu können. Die Menschen müssen auf dem Schwarzmarkt versuchen konvertible Pesos zu besorgen. Auf diese Weise hat sich eine Parallelwirtschaft herausgebildet, wo Produkte des täglichen Bedarfs überteuert zu bekommen sind.
Schritt für Schritt setzt sich so die Idee durch, dass “privates Unternehmertum” besser sei. Die Planwirtschaft wird so von innen ausgehöhlt. Die Idee, dass der Individualismus zum Fortschritt führt, herrscht immer mehr vor. Mangels ArbeiterInnenkontrolle nehmen Korruption und Bürokratismus zu, was die Planwirtschaft weiter unterminiert. Alle wissen, dass es so nicht weitergehen kann, dass sich etwas ändern muss. Aber was? Raul Castro sagt: Wir müssen effizienter werden? Es gibt nur zwei Optionen dazu: Entweder eine Rückkehr zur kapitalistischen Marktwirtschaft oder die Errichtung leninistischer Normen einer ArbeiterInnendemokratie.
Ein Sektor der Bürokratie steht für eine Rückkehr zum Kapitalismus, auch wenn sie nicht offen über ihre wirklichen Ziele reden können. Sie bezeichnen das chinesische und vietnamesische Modell als “Sozialismus”. Sie sagen, sie wollen den Sozialismus nicht aufgeben, sondern “ihn verbessern”. Aber auf diesem Weg liegt die kapitalistische Restauration. Die ökonomischen Massnahmen, die bereits unternommen wurden, gehen alle in Richtung einer Wiedereinführung marktwirtschaftlicher Mechanismen. Sukzessive werden die Menschen ins private Kleinunternehmertum gezwungen. All das öffnet die Tore, durch die der kapitalistische Weltmarkt mächtigen Druck erzeugen kann und die kubanische Planwirtschaft zersetzt wird.
In letzter Instanz wird das Schicksal Kubas auf der internationalen Ebene entschieden. Die generellen Perspektiven für die Weltrevolution könnten sich für das Überleben Kubas mit einer Planwirtschaft als günstig erweisen, sofern eine leninistische ArbeiterInnendemokratie, die mit der internationalen ArbeiterInnenbewegung verbunden ist, errichtet wird. Aber je länger sich diese Perspektive verzögert, desto stärker werden die prokapitalistischen Kräfte auf Kuba und desto eher könnte der Umschlagspunkt erreicht werden.
Für uns liegt der Schlüssel in der Frage der Eigentumsverhältnisse über die Produktionsmittel. Spaltungen in der Bürokratie treten vermehrt auf. Wir müssen einen Weg zu den besten Elementen finden, die bereit sind den Kampf gegen die kapitalistische Restauration zu führen und die staatliche Planwirtschaft zu verteidigen, und die gleichzeitig für ArbeiterInnenkontrolle und die Ausweitung der sozialistischen Revolution auf Lateinamerika als einzigen Ausweg eintreten.
Der Sieg der sozialistischen Revolution in Venezuela wäre ein gewaltiger Schritt zur Durchbrechung der Isolation Kubas auf dem kapitalistischen Weltmarkt. Doch die kubanische Bürokratie mit seiner engstirnigen nationalistischen Mentalität sieht nicht, dass die kubanische Revolution ernsthaft bedroht ist, wenn die Revolution in Venezuela nicht zu Ende geführt wird. Indem sie der Venezolanischen Revolution ständig die Zügel anlegt, handelt sie wie ein Mann, der den Ast absägt, auf dem er selber sitzt.
Lenin definierte einst Politik als konzentrierte Ökonomie. Aus marxistischer Sicht liegt die Bedeutung der Ökonomie vor allem darin, welchen Effekt sie auf den Klassenkampf hat. Auf dem 2. Weltkongress der Kommunistischen Internationale wies Trotzki darauf hin, dass jede Massnahme der Bürgerlichen zur Bekämpfung der Krise den Klassenkampf intensivieren wird. Die Beweise für diese These sind allgegenwärtig.
1921 schrieb Trotzki:
“So lange der Kapitalismus nicht von der proletarische Revolution zerschmettert sein wird, wird er in Zyklen fortleben: auf und ab. Die Krisen und Prosperitätsperioden waren dem Kapitalismus schon seit seiner Geburt eigen; sie werden ihn bis ans Grab geleiten. Damit wir aber das Alter des Kapitalismus und seinen Allgemeinzustand bestimmen können, ob er sich entwickelt, ob er die Reife erreicht hat, ob es mit ihm bergab geht, müssen wir den Charakter der Zyklen analysieren, genauso wie man den Zustand des menschlichen Organismus danach beurteilen kann, wie er atmet: gleichmässig oder stossweise, tief oder oberflächlich.” (Die ersten fünf Jahre der Kommunistischen Internationale, Bd.1, Bericht über die Weltwirtschaftskrise und die neuen Aufgaben der Kommunistischen Internationale)
Marx erklärte vor langer Zeit schon, dass kein ökonomisches System verschwindet, bevor es nicht sein volles Potential ausgeschöpft hat. Heute zeigt das kapitalistische System klare Anzeichen der Erschöpfung. Doch der Kapitalismus hat schon seit langem aufgehört als globales System eine fortschrittliche Rolle zu spielen. Er hat seine historisch progressive Rolle erfüllt und ist mittlerweile an seine Grenzen gestossen. Der Kapitalismus ist nicht mehr imstande das kolossale Potential der Produktivkräfte weiterzuentwickeln. Die gegenwärtige Krise ist der beste Beweis dafür. Die beiden wichtigsten Hindernisse auf dem Weg zu menschlichem Fortschritt sind einerseits das Privateigentum und andererseits der Nationalstaat. Es gab eine Vielzahl von Faktoren, die den Nachkriegsaufschwung verursachten. Doch der wichtigste Grund ist in der gewaltigen Expansion des Welthandels zu sehen. Diese Entwicklung ermöglichte es dem Kapitalismus – teilweise und für eine gewisse Zeit – die Grenzen, die ihm durch das Privateigentum und den Nationalstaat gesetzt sind, zu überkommen. Diese Tendenz wurde in den letzten drei Jahrzehnten enorm ausgedehnt. Doch nun scheint auch dies an seine Grenzen zu stossen.
Die gegenwärtige Krise unterscheidet sich vollständig von dem, was wir in der Vergangenheit gesehen haben. Diese Krise erinnert in vielem an die Situation, über die Trotzki 1938 schrieb. Was wir heute sehen, ist keine normale zyklische Krise des Kapitalismus. Es handelt sich um etwas viel tiefgehenderes und ernsthafteres: eine organische Krise des kapitalistischen Systems, aus der es keinen Ausweg gibt, ausser durch weitere Krisen und tiefe Einschnitte beim Lebensstandard. Diese Situation ist völlig neu, und daraus erklärt sich auch, warum die bürgerlichen Ökonomen so ratlos sind. Sie haben ihre Orientierung verloren und taumeln wie ein blinder Mann in einem dunklen Raum herum. Die Bürgerlichen sind ernsthaft besorgt. Eine neue Rezession wäre „ein Desaster“, so Roger Altman, einst ein hoher Beamter im Finanzministerium in der Clinton-Administration. „Wir könnten kurz davor stehen, die Erfahrung von 1937, als Amerika nach drei Jahren der Erholung von der Grossen Depression in eine Rezession zurückfiel“, schrieb er in der „Financial Times“. Die bürgerlichen Strategen verstehen, dass eine neue globale Rezession ernsthafte soziale und politische Konsequenzen zeitigen würde. Ihre Prognosen werden immer düsterer.
Derselbe UBS-Bericht, den wir bereits weiter oben zitiert haben, warnte vor der Gefahr ziviler Unruhen als eine Folge der Wirtschaftskrise in Europa: „Wenn wir die Folgen der Arbeitslosigkeit berücksichtigen, ist es völlig unmöglich, sich ein Szenario des Auseinanderbrechens (des Euro, Anm. d.Ü.) ohne ernste soziale Konsequenzen vorzustellen. … In der Vergangenheit ging das Aufbrechen von Währungsunionen tendenziell mit zwei Resultaten einher. Entweder es kam zu autoritären Regierungsformen, um die soziale Unordnung einzudämmen oder zu unterdrücken (ein Szenario, das tendenziell einen Wechsel von einer demokratischen zu einer autoritären oder Militärregierung erforderlich machte), oder alternativ dazu, die soziale Unordnung entfaltete sich in der Gesellschaft, führte zu Bruchlinien, die das Land spalteten und zu einem Bürgerkrieg führten. Das sind keine unvermeidlichen Schlussfolgerungen, weisen aber daraufhin, dass das Aufbrechen von Währungsunionen nicht wie eine gewöhnliche Frage der Wechselkurspolitik behandelt werden kann. Es ist sicherlich wert anzumerken, dass mehrere Länder der Euro-Zone auf eine Geschichte interner Spaltung zurückblicken – Belgien, Italien und Spanien gehören zu jenen, wo das ganz offensichtlich ist. Es ist weiters richtig, dass der Zusammenbruch von Währungsunionen in der Geschichte fast immer mit extremem Widerstand gegen die Staatsgewalt oder Bürgerkrieg einherging.“ (UBS Global Economic Perspectives 6, September 2011)
Die Schlussfolgerungen könnten kaum pessimistischer sein:
„Die Frage ist nicht wie sich eine liberale Demokratie entwickelt, sondern ob eine liberale Demokratie den sozialen Unruhen, die mit dem Aufbrechen einer Währungsunion einhergehen, standhalten kann. Uns fehlt es an Beweisen, um die Vorstellung, dass sie das schaffen kann, auch unterstützen zu können.“ Diese Zeilen zeigen, wie besorgt die Kapitalstrategen sind. Sie sehen derzeit keine Möglichkeit ein dauerhaftes soziales und politisches Gleichgewicht herzustellen. Sie verstehen ausserdem, dass die normalen Instrumente bürgerlicher Demokratie durch „extremen Widerstand gegen die Staatsgewalt“ bis an die Grenzen einem Test unterzogen werden.
Das ist so weit auch korrekt. Aber es ist unwahrscheinlich, dass die Bürgerlichen das Risiko eingehen, in Griechenland oder irgendeinem anderen entwickelten kapitalistischen Land direkt auf einen Bürgerkrieg zuzusteuern. Nur wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft wurden, wird die Bourgeoisie die Option eines Militärputschs in Erwägung ziehen, weil damit auch grosse Gefahren verbunden sind.
In der jüngsten Vergangenheit sahen wir vor allem in Südeuropa bereits grosse Klassenkampfbewegungen. Natürlich beginnt es nicht in den stärkeren Ländern in Nordeuropa. Aber auch sie werden an die Reihe kommen, wie wir bereits in Grossbritannien und Frankreich sehen können. Schon im Herbst 2009 gab es eine grosse Protestwelle gegen die Kürzungspolitik in Frankreich mit 3,5 Millionen ArbeiterInnen auf den Strassen. Diese Proteste fanden nicht nur in den Grossstädten statt, sondern auch in hunderten Kleinstädten, wo oft bis zu einem Viertel der Bevölkerung auf der Strasse war. Erdölraffinerien wurden blockiert, und es kam zu grossen Bewegungen in den Schulen und Unis. Ausserdem unterstützten 65 – 70 Prozent der Bevölkerung die Bewegung.
Das war eine Vorwegnahme von dem, was noch kommen wird. Danach haben wir den grössten Generalstreik in Portugal seit der Revolution von 1975 gesehen. In Italien gab es Massendemos und einen Generalstreik. In Griechenland gab es in einem Jahr nicht weniger als 13 Generalstreiks. In Grossbritannien sahen wir die grösste Gewerkschaftsdemo in der Geschichte des Landes, daraufhin die grössten Streiks seit 1926.
Der Gouverneur der Bank of England, Mervyn King, hat gemeint, dass Grossbritannien vor dem grössten Rückgang des Lebensstandards seit den 1920ern steht. Die Pensionen werden bis zu 40 Prozent gekürzt, während die Profite weiter steigen. Die Barclays Bank verzeichnete Rekordprofite, zahlte aber nur 2 Prozent Steuern. Die Einkommen der Direktoren der Top-FTSE 100-Unternehmen stiegen 2011 um 49 Prozent. Das befeuert den Zorn in der Bevölkerung, der auch in den Jugendrandalen in London und vielen anderen Städten zum Ausdruck kam.
In Spanien gab es gewaltige Jugendproteste, die direkt von den Protesten auf dem Tahrir Square in Ägypten inspiriert waren. Wie in Ägypten führte auch in Spanien die hohe Jugendarbeitslosigkeit zu dieser explosiven Bewegung der Indignados. In weiterer Folge inspirierten die Proteste in Spanien ähnliche Besetzungen von Plätzen in Griechenland. In Athen setzte die Polizei im Namen der sozialdemokratischen Regierung Tränengas ein, um die revolutionäre Jugend auseinanderzutreiben. Selbst in den Niederlanden demonstrierten 15000 Studierende in De Haag. Ereignisse, Ereignisse und noch mal Ereignisse sind der Schlüssel in dieser Situation. Und grosse Ereignisse sind zweifelsohne in Vorbereitung, welche die Gesellschaft bis in ihre Tiefen erschüttern und dramatische Wendungen im Bewusstsein herbeiführen werden. Wir haben das bereits in Tunesien, Ägypten, Spanien und Griechenland gesehen. Selbst in Osteuropa sahen wir grosse Bewegungen in Albanien und Rumänien. In Bulgarien streikte sogar die Polizei. In Russland sahen wir die massiven Stimmenzuwächse der KP, welche sogar zum Anziehungspunkt für eine Schicht der Jugend wird. Das ist ein klares Anzeichen, dass sich auch dort die Lage ändert. Das sind extrem bedeutsame Entwicklungen, die einen Wendepunkt für Europa darstellen. Andere werden früher oder später folgen, je nach den konkreten Bedingungen in den einzelnen Ländern.
Was für Europa zutrifft, zeigt sich weltweit, wie etwa in der Arabischen Revolution und der Protestbewegung in den USA.
Über Jahre jammerten die sogenannten Linken über das „niedrige Bewusstsein“ der Massen. Sie sind unfähig die Dinge dialektisch zu betrachten. Sie sind wie hypnotisiert durch den Status quo und können die Dinge nicht in ihrer Entwicklung und Veränderung sehen. Sie sind unfähig die wirkliche Bewegung der Arbeiterklasse zu verstehen und werden von neuen Ereignissen immer wieder überrascht. Sie sind dazu verurteilt die Geschichte zu studieren, indem sie die Ereignisse im Nachhinein beobachten. Diese Herangehensweise hat nichts mit Marxismus zu tun. Es handelt sich vielmehr um eine Mischung aus Empirismus und Idealismus. Ihr Ausgangspunkt ist eine Art ideale Norm von Bewusstsein, und sie verurteilen die Realität, weil sie nicht mit dieser Idealnorm übereinstimmt. Aus ihrer Sicht wird die Arbeiterklasse nie über das nötige Bewusstsein verfügen. Nichtsdestotrotz wurden in der Geschichte Revolutionen nicht von den gebildeten Prinzipienreitern gemacht sondern genau von den „politisch ungebildeten Massen“.
Entgegen den Vorurteilen dieser idealistischen Strömungen ist das menschliche Bewusstsein weder revolutionär noch fortschrittlich sondern grundlegend konservativ. Die Menschen mögen keine Veränderungen. Sie bevorzugen stabile Verhältnisse, weil diese bequemer sind. Sie werden so lange es geht an der herrschenden Ordnung, ihrer Moral und ihren Vorurteilen, an den herkömmlichen Parteien und politischen Führern festhalten, bis grosse Ereignisse sie dazu zu zwingen neue Wege zu beschreiten. Das Bewusstsein ändert sich erst unter dem Eindruck handfester Erfahrungen, die die Massen machen. Das ist kein gradueller Prozess, sondern Ergebnis gewaltsamer und konvulsiver Erschütterungen. Revolutionäres Bewusstsein entwickelt sich nicht stetig in einem kontinuierlichen Prozess, von rechts nach links über die Zeit hinweg. Eine Revolution ist genau jener kritische Punkt, wo in einem grossen Sprung vorwärts Quantität in Qualität umschlägt.
Wie entwickelte sich revolutionäres Massenbewusstsein in Russland? Als 1904 der Streik in den Putilov-Werken ausbrach, standen die Bolschewiki und Menschewiki nicht an der Spitze der Bewegung. In der ersten Etappe der Revolution von 1905 führte ein Priester, Vater Gapon – der noch dazu ein Polizeispitzel war – mit all seinem rückständigen Denken und seinen Vorurteilen die Bewegung, und zwar genau deshalb, weil er das Bewusstsein der Massen in diesem Stadium verkörperte und reflektierte. In den ersten Stufen der Revolution von 1905 waren die Revolutionäre von den Massen völlig isoliert. Als die Bolschewiki mit ihren Flugblättern ankamen und den Sturz der Monarchie und die Einberufung einer Verfassungsgebenden Versammlung forderten, zerrissen die Arbeiter die Flugblätter und nicht selten verprügelten sie die Bolschewiki. Doch am Abend des 9. Januars, unmittelbar nach dem Massaker vom Blutigen Sonntag, wandten sich dieselben Arbeiter an die Bolschewiki und wollten von diesen Waffen haben.
Jede andere Strömung unterschätzt wie ernstzunehmend die gegenwärtige Situation ist, die in der jüngsten Geschichte seinesgleichen sucht. Es stimmt, dass das Bewusstsein der ArbeiterInnen der objektiven Realität hinterherhinkt. Sie haben bisher nicht realisiert, dass diese Krise einen völligen Bruch mit ihren bisherigen Erfahrungen darstellt. Die meisten Menschen glauben, dass mit ein paar Reformen eine Rückkehr zur Normalität möglich sein wird. Doch wie The Economist völlig richtig schrieb: „Ja, früher oder später werden wir zur Normalität zurückkehren. Aber es wird eine völlig neue Normalität sein.“
Eine Rückkehr zur „guten alten Zeit“, als die herrschende Klasse in den entwickelten kapitalistischen Ländern Zugeständnisse und Reformen gewähren konnte, um den Klassenfrieden zu erkaufen, ist undenkbar. Jetzt sind alle Errungenschaften der europäischen und der US-Arbeiterklasse unter Beschuss. Vom Standpunkt der Bourgeoisie aus sind es genau diese Errungenschaften, die heute der kapitalistischen Klasse im Weg stehen, auf dem Weg zur Lösung der Krise.
Das Bewusstsein der herrschenden Klasse hat sich bereits dramatisch verändert. Vor 20 Jahren, nach dem Fall der UdssR, waren die Bürgerlichen voller Selbstbewusstsein. Das ist jetzt vorbei. Ihr einstiges Selbstvertrauen ist verschwunden, und sie blicken mit Sorge in die Zukunft. Während des Booms entwickelten die Kapitalisten eine Art Grössenwahn, vor allem nach dem Zusammenbruch des „Kommunismus“. Sie glaubten wirklich, ihr System würde ewig halten. Die angebliche Überlegenheit der Marktwirtschaft würde alle Probleme lösen, wenn sich nur der Staat zurückzieht und den Markt seine Wunder vollbringen lässt.
Mittlerweile steht alles auf dem Kopf. Gegenwärtig sind die Kapitalisten völlig abhängig von den Staaten, die ihr Überleben sichern. Sie erwarten, dass ihre Verluste von den Staaten übernommen werden – d.h. von den Steuergeldern der Arbeiterklasse und der Mittelschichten, auf deren Schultern die ganze Last der Krise abgeladen wird. Aber das wird tiefgreifende Effekte auf die sozialen Beziehungen, die politischen Verhältnisse und den Klassenkampf haben. Und dieser Prozess hat bereits begonnen. In der Vergangenheit erkauften sich die Bürgerlichen den sozialen Frieden, indem sie Zugeständnisse gewährten und einen Teil des Mehrwerts, den die ArbeiterInnen schufen, an diese zurückgaben. Sie hatten genügend Spielraum für derartige Manöver auf der Grundlage enormer Profite, die sie in Boomzeiten lukrierten. Doch das ist vorbei. Die einzigen, die noch an die Marktwirtschaft glauben, sind die Führer der Arbeiterbewegung, die in Zeiten der Krise das wichtigste Bollwerk des kapitalistischen Systems darstellen. Das wird bedeuten, dass die Organisationen der Arbeiterklasse von einer Krise nach der anderen erschüttert werden. Früher oder später werden die alten rechtsreformistischen Führer ausgespuckt und durch andere Führungen ersetzt werden, die mehr auf den Druck von unten reagieren.
Die Millionen Menschen, die auf den Strassen und Plätzen Spaniens und Griechenlands gegen Sparpakete protestierten, haben kein Vertrauen in die Politiker und Gewerkschaftsführer. Und wer kann es ihnen verübeln? Sowohl in Griechenland wie auch in Spanien waren die Regierungen, die diese Sparpolitik umsetzen, angebliche „Sozialisten“. Die Massen haben diesen Regierungen anfangs ihr Vertrauen geschenkt und fühlten sich dann verraten. Sie kamen zu dem Schluss, dass sie ihre Interessen nur verteidigen können, wenn sie ihre Geschicke nicht den Politikern überlassen, sondern selbst aktiv werden. Damit legen sie einen guten revolutionären Instinkt an den Tag. Jene, die über diese Bewegung lästern, weil sie „nur spontan“ sei, haben nichts von der Essenz einer Revolution verstanden. Diese besteht nämlich gerade in der direkten Einmischung der Massen in die Politik. Diese Spontaneität stellt eine enorme Stärke dar – doch gleichzeitig kann sie auch zur fatalen Schwäche einer Bewegung werden. Natürlich wird sich eine Massenbewegung zwangsläufig in ihren ersten Anfängen durch konfuse Ideen auszeichnen. Die Massen können diese Unzulänglichkeiten nur durch ihre direkten Erfahrungen im Kampf überwinden. Doch es ist absolut notwendig für die Massen die anfängliche Verwirrung und Naivität zu überwinden, zu wachsen und zu reifen und die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen.
Jene „anarchistischen“ Führer – ja, die Anarchisten haben auch Führer bzw. Leute, die eine Führungsrolle anstreben – die glauben, dass Verwirrung, organisatorische Strukturlosigkeit und das Fehlen einer klaren ideologischen Ausrichtung positiv und notwendig seien, spielen eine schädliche Rolle. Es ist, als wolle man ein Kind davon abhalten sich zu entwickeln, sodass es nie sprechen, gehen und selbständig denken lernt. Oft schon in der Geschichte der Kriegsführung wurde eine grosse Armee von mutigen aber schlecht ausgebildeten Soldaten von einer kleineren aber disziplinierten, gut ausgebildeten, professionellen Truppe, die von fähigen und erfahrenen Offizieren geführt wurde, besiegt. Öffentliche Plätze zu besetzen ist ein Mittel zur Mobilisierung der Massen zur Aktion. Doch für sich genommen ist das nicht genug. Die herrschende Klasse mag nicht imstande sein auf den ersten Schlag die Protestcamps mit Gewalt aufzulösen, aber sie kann es sich leisten zu warten, bis die Bewegung beginnt schwächer zu werden, um dann mit Entschlossenheit diesem „Ungemach“ ein Ende zu setzen. Es ist selbstredend, dass die MarxistInnen in jeder Schlacht, in der es um die Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeiterklasse geht, immer an vorderster Front stehen werden.
Wir werden für jede noch so kleine Verbesserung kämpfen, weil der Kampf für den Sozialismus undenkbar ist ohne den tagtäglichen Kampf für den Fortschritt im Kapitalismus. Nur durch eine Reihe von Teilkämpfen von defensivem und offensivem Charakter können die Massen ihre wahre Stärke entdecken und das nötige Selbstvertrauen erlangen, das es braucht, um den Kampf bis zum Ende zu führen. Es gibt gewisse Umstände, unter denen Streiks und Massendemos die herrschende Klasse zu Zugeständnissen zwingen können. Aber in der jetzigen Situation sind wir davon weit entfernt. Um unter diesen Bedingungen erfolgreich sein zu können, muss die Bewegung auf eine höhere Ebene gehoben werden. Das ist aber nur möglich indem soziale Bewegungen enge Verbindungen mit der Arbeiterbewegung in den Fabriken und Gewerkschaften herstellen. Die Losung des Generalstreiks steht unter diesen Umständen auf der Tagesordnung. Doch selbst ein Generalstreik für sich allein genommen kann die Probleme der Gesellschaft nicht lösen. Der Generalstreik muss ein unbefristeter sein, der direkt die Machtfrage stellt.
Verwirrte und schwankende Führungen werden nur Niederlagen und Demoralisierungen produzieren. Der Kampf der ArbeiterInnen und der Jugend wäre unendlich einfacher, wenn er von mutigen und weitsichtigen Leuten geführt würde. Doch solche Führungen fallen nicht vom Himmel. Im Laufe des Kampfes werden die Massen alle Strömungen und Führungen einem Test unterziehen. Sie werden so auch bald schon die Unzulänglichkeiten jener Zufallsprodukte, die zu Beginn der revolutionären Bewegung ähnlich dem Schaum auf dem Wellenberg auftauchen und genauso schnell wieder verschwinden, erkennen.
Durch ihre Erfahrungen werden immer mehr AktivistInnen die Notwendigkeit eines konsistenten revolutionären Programms sehen. Dieses Programm kann nur der Marxismus bieten. Ideen, die über Jahrzehnte nur von kleinen Gruppen vertreten wurden, werden dann begierig von Hunderten und dann Tausenden aufgenommen werden. Was es braucht, ist einerseits die geduldige Vorbereitungsarbeit marxistischer Kader und andererseits die konkrete Erfahrung der Massen selbst.
Taktik und Strategie sind zwei unterschiedliche Paar Schuh und können sich unter gewissen Umständen widersprechen. Unsere langfristige Strategie ist ganz klar und wir behalten diese auch bei. Wenn sich die Massen zu bewegen beginnen, dann werden sie sich in erster Linie an die bestehenden Massenorganisationen der Arbeiterklasse wenden. Doch um eine marxistische Strömung aufzubauen, ist es nicht ausreichend allgemeine Aussagen, so korrekt sie auch sein mögen, einfach nur zu wiederholen. Wir müssen immer von den konkreten Umständen der Bewegung ausgehen. Und diese Bedingungen sind nicht immer dieselben sondern ändern sich ständig. Taktik muss per definitionem flexibel sein, und wir müssen imstande sein sie binnen 24 Stunden zu ändern. Im Krieg kann eine Strategie bedeuten, einen ganz bestimmten Punkt erobern zu müssen. Aber wenn diese Position zu gut abgesichert ist und unsere Kräfte nicht stark genug sind, müssen wir unsere Taktik überdenken. Anstatt eines Frontalangriffs auf diese eine Stellung mag es Sinn machen die eigenen Kräfte zu konzentrieren, um ein zweitrangigeres aber erreichbares Ziel einzunehmen. Wenn wir dieses Ziel abgesichert haben, werden wir in einer stärkeren Position sein, um zum Hauptangriffspunkt zurückzukehren.
Die neue Situation spiegelt sich derzeit in den Massenorganisationen noch nicht wider, mit Ausnahme der Gewerkschaften, die näher an der Klasse sind als die Parteien. Daraus ergeben sich einige Punkte. Wenn die Stimmung in der Gesellschaft keinen Ausdruck in den Massenorganisationen findet, dann wird sie andere Ausdrucksformen finden.
Bewegungen wie die Indignados in Spanien entstehen, weil die meisten ArbeiterInnen und Jugendlichen sich von niemandem vertreten fühlen. Diese Leute sind keine AnarchistInnen. Sie zeichnen sich nur durch eine gewisse politische Konfusion aus und haben kein klares Programm. Aber von wo sollen sie auch klare Ideen haben? Diese spontanen Bewegungen sind die Folge von Jahrzehnten bürokratischer und reformistischer Degeneration der traditionellen Parteien und Gewerkschaften. Zum Teil handelt es sich dabei um eine sehr gesunde Reaktion, wie Lenin schon in „Staat und Revolution“ in Bezug auf die AnarchistInnen schrieb.
Aufgrund ihres üblichen Impressionismus gehen die Sekten völlig begeistert in diesen neuen Bewegungen auf. Doch wir dürfen unser Urteilsvermögen nicht von kurzlebigen Phänomenen trüben lassen. Wir müssen auch die Grenzen dieser Bewegungen rechtzeitig verstehen, die sich in der Praxis sehr schnell zeigen werden. Die neuen Bewegungen sind entfremdet von den Massenorganisationen und haben das Gefühl von diesen nicht vertreten zu werden. Auf der anderen Seite haben diese neuen Bewegungen selbst den Ernst der neuen Situation nicht erkannt. Sie versuchen Druck auf die bürgerlichen Regierungen auszuüben, damit diese ihre Politik ändern, verstehen aber nicht, dass die objektive Situation das nicht erlaubt. Das wird diese Bewegungen letztendlich in eine Sackgasse führen.
Ab einem gewissen Zeitpunkt werden diese neuen Bewegungen an Kraft verlieren und die Massenorganisationen als die einzige relevante politische Ausdrucksform der ArbeiterInnen übrig lassen. Der Druck der Massen auf diese Organisationen wird steigen und sie von oben bis unten erschüttern. Dies wird zu Krisen und Abspaltungen führen, was ab einem gewissen Punkt zur Herausbildung eines linken Massenflügels führen wird. Wir müssen diese Perspektive immer fest im Kopf haben, wenn wir nicht zu einer isolierten Sekte degenerieren wollen.
Das Schicksal der Sekten muss uns eine Warnung sein. Sie sind in der Krise, weil alle ihre Versuche, „revolutionäre“ Parteien ausserhalb der traditionellen Massenorganisationen des Proletariats aufzubauen, völlig gescheitert sind. Ihr Versagen, die Bewegungsgesetze der Arbeiterklasse zu verstehen, verdammt sie zu politischer Ohnmacht. Sie werden zur Seite geschoben werden, sobald sich die Klasse zu bewegen beginnt.
Die Massenbewegung kann nur durch die traditionellen Organisationen der Arbeiterklasse ihren Ausdruck finden. Natürlich wird dieser Prozess nicht über Nacht und geradlinig vor sich gehen. Es wird viele Zickzack-Bewegungen und widersprüchliche Entwicklungen geben, und deshalb muss auch unsere Taktik flexibel sein. Doch letztendlich werden die zentralen Entwicklungen über die Massenorganisationen gehen.
Die Bourgeoisie befindet sich heute in der schwersten Krise ihrer Geschichte. Aber wir müssen vorsichtig sein, wenn wir diesen Prozess erklären. Lenin legte schon dar, dass es keine Endkrise des Kapitalismus gibt. Die Geschichte zeigt, dass die Kapitalisten immer einen Ausweg aus der Krise finden werden, auch wenn diese noch so tief ist. Ausser sie werden bewusst von der Arbeiterklasse gestürzt. Doch die reine Feststellung, dass die Kapitalisten einen Ausweg aus der gegenwärtigen Krise finden werden, sagt noch nicht viel aus. Was wir uns fragen müssen: wie lange wird das dauern und was werden die Kosten dieser Politik sein?
1939 wurde die Krise durch einen Weltkrieg gelöst. Ist das auch heute möglich? Der polnische Finanzminister Jacek Rostowski sagte vor dem Europaparlament in Strassbourg: „Wenn die Eurozone auseinander bricht, wird die EU nicht überleben können.“ Er warnte sogar davor, dass es zu einem Krieg kommen könnte, wenn die Krise die EU weiter unterminiert. Aber die Perspektive ist nicht die eines neues Weltkriegs wie 1914 oder 1939, sondern eine Intensivierung des Klassenkampfs. Die Analogie zu 1939 ist oberflächlich und irreführend. Die Situation ist nicht mit damals zu vergleichen. Der Krieg in Europa war damals nur auf der Grundlage entscheidender Niederlagen der Arbeiterklasse in Italien, Deutschland, Österreich und Spanien möglich, wie Trotzki damals erklärte. Das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen ist heute ein völlig anderes. Die Arbeiterorganisationen sind weitgehend intakt, und die Bürgerlichen können nicht unmittelbar zu den Mitteln der Reaktion in Form einer Militär- oder Polizeidiktatur greifen.
Ganz abgesehen vom Kräfteverhältnis zwischen den Klassen, das einen Weltkrieg ausschliesst, gibt es einen anderen Grund warum die europäische Bourgeoisie nicht so schnell in Richtung Faschismus oder Bonapartismus gehen kann. Sie hat sich in der Vergangenheit die Finger verbrannt, als sie die Macht an diese Bande faschistischer Abenteurer und Diktatoren ausgehändigt hat. Im Fall von Deutschland führte das zu einer verheerenden Niederlage im Zweiten Weltkrieg und den Verlust grosser Teile des einstigen Staatsgebietes. Aus der jüngeren Vergangenheit haben wir den Fall der Machtübernahme durch die griechische Junta im Jahr 1967. Das führte zum revolutionären Aufstand von 1973. Die Bürgerlichen werden es sich gut überlegen, ob sie noch mal auf diese Karte setzen sollen. Nur wenn die ArbeiterInnen entscheidend geschlagen wurden, würde die Perspektive einer Diktatur real werden. Zusätzlich zum Kräfteverhältnis zwischen den Klassen im eigenen Land muss man auch das Kräfteverhältnis zwischen den Grossmächten berücksichtigen. Um sich mit der Kriegsfrage auseinanderzusetzen, muss man die Frage konkret stellen: Wer soll gegen wen kämpfen? Das ist eine sehr konkrete Frage! Es gibt Spannungen zwischen Europa und den USA, die in Zukunft zu Handelskriegen führen können. Doch die Überlegenheit der USA bedeutet, dass es weltweit keine Macht gibt, die deshalb gegen die USA Krieg führen kann. Alle europäischen Länder zusammen können gegen die USA nicht Krieg führen.
Trotz seiner industriellen Stärke wäre Deutschland heute nicht imstande in Russland einzumarschieren, wie es 1941 der Fall war. Im Gegenteil, Deutschland ist in zunehmendem Masse den Interessen Russlands in Europa untergeordnet. Wir sehen eine ähnliche Verschiebung der Kräfteverhältnisse in Asien, wo das einstmals rückständige China zu einer beachtlichen Industrie- und Militärmacht aufgestiegen ist. Könnte Japan heute China überfallen wie in den 1930ern? Sie sollen es nur versuchen! Das ist nicht dasselbe China wie in den 1930ern. Aus demselben Grund können die USA gar nicht auf den Gedanken kommen China auf die Position einer Kolonie zu reduzieren, wie dies in der Vergangenheit geplant war.
Wir sehen wachsende Spannungen zwischen verschiedenen Ländern. China steigert immer mehr seine Militärausgaben. Peking kauft einen Flugzeugträger und entwickelt Langstreckenraketen. Als Gegenreaktion halten die USA gemeinsame Truppenübungen mit Vietnam ab und verlagern mehr Truppenteile in die Region. Auch Vietnam rüstet auf und hat von Russland U-Boote und Jets gekauft. Auf der koreanischen Halbinsel nehmen die Spannungen im Zuge der Krise des nordkoreanischen Regimes, das jederzeit implodieren könnte, zu. China ist besorgt, dass das Regime an seiner Grenze zusammenbrechen könnte. Unter bestimmten Umständen könnten diese Bruchlinien aufbrechen und zu militärischen Konflikten führen. Doch ein Weltkrieg zwischen den Grossmächten ist ausgeschlossen.
Auf der anderen Seite wird die Krise dazu führen, dass wir andauernd kleinere Kriege erleben werden – wie die Kriege im Irak und in Afghanistan. Das wird zu einer Zunahme der sozialen Unzufriedenheit und einem Aufschwung des Klassenkampfes in Europa und den USA führen. Die Macht des US-Imperialismus ist gewaltig aber nicht grenzenlos. Wir sahen die Grenzen der militärischen Macht der USA sowohl im Irak wie auch in Afghanistan. Sie haben den Irak erst angegriffen als dessen Armee nach Jahren der Blockade schon schwer angeschlagen war. Selbst dann wurden die USA noch durch einen Guerillakrieg besiegt. Die grösste Macht der Erde muss nach dem Rückzug aus dem Irak auch aus Afghanistan seine Truppen abziehen, was eine chaotische Situation zurücklassen wird.
Wir haben wiederholt dargelegt, dass alle Versuche der Bürgerlichen, das ökonomische Gleichgewicht wieder herzustellen, das soziale und politische Gleichgewicht zerstören werden. Griechenland ist der beste Beweis dafür. Dort ist die soziale und politische Stabilität bereits zerstört. Und wenn die Menschen erkennen müssen, dass alle Opfer umsonst waren, wird die Austeritätspolitik nicht mehr toleriert werden. Das Ergebnis wird eine turbulente Periode der Revolution sein – und der Konterrevolution – die über Jahre andauern kann.
Die Arbeiterklasse wird viele harte Schläge erleiden, die das Bewusstsein der ArbeiterInnen und der Jugendlichen schwer erschüttern wird. Die schrecklichen Ereignisse in Norwegen seien als Warnung für die Zukunft verstanden. Das einstmals friedliche, wohlhabende, demokratische Norwegen, das gegenüber der Krise unverwundbar schien, wurde durch die Ermordung von JungsozialistInnen durch einen Faschisten erschüttert. Die Wahrheit ist, dass die Klassenbeziehungen in den skandinavischen Ländern nach dem Zweiten Weltkrieg sehr abgemildert wurden.
Mangels grosser Klassenauseinandersetzungen wurden die scharfen Klingen des Klassenkampfes abgestumpft. Diese sanfte Entwicklung hatte auch einen zersetzenden Effekt auf die Arbeiterbewegung, indem sich klassenfremde Ideologien ausbreiteten: kleinbürgerlicher Feminismus, Pazifismus und andere kleinbürgerliche Ideen haben die Bewegung durchsetzt und dadurch geschwächt. Und das gilt nicht nur für Skandinavien. Über Jahrzehnte erschienen die skandinavischen Länder als Modell für einen friedlichen Reformweg. Das glaubten sie auch in Norwegen, bis dieses bequeme Schema durch das schreckliche Massaker gegen die Jugendorganisation der Arbeiterpartei durcheinander gebracht wurde. Anders als öffentlich dargestellt, war das nicht die Tat eines Verrückten. Sie war Ausdruck für die Widersprüche, die sich in der kapitalistischen Gesellschaft aufgetürmt haben und die den inneren Zusammenhalt und die Stabilität selbst der am meisten entwickelten kapitalistischen Staaten, einschliesslich der USA, zu zerstören drohen.
In den 1970ern zeigte die Gladio-Verschwörung wie fragil das Pflänzchen der bürgerlichen Demokratie ist. Die Bourgeoisie kann von Demokratie auf Diktatur so schnell umschalten, so schnell wie eine Person, die in einem Zug von einem Wagon zum nächsten geht. Dafür braucht es jedoch ein paar Voraussetzungen. Genauso wie die Revolution bestimmten Gesetzmässigkeiten unterliegt, so gibt es auch Gesetze, nach denen sich Konterrevolutionen vollziehen. Die Kapitalisten können nicht jederzeit eine Diktatur errichten, nur weil sie das für besser halten, genauso wie wir nicht einfach eine sozialistische Revolution durchführen können, nur weil wir uns das wünschen. Die CIA warnte laut der deutschen Tageszeitung BILD in einem Bericht vor kurzem, dass die Austeritätspolitik und die düstere Wirtschaftslage eskalieren könnten und in Griechenland sogar zu einem Militärputsch führen könnten. Diesem Bericht zufolge könnten die andauernden Strassenproteste im krisengeschüttelten Griechenland zu einer Rebellion ausufern, wobei die Regierung die Kontrolle über das Land verlieren könnte. Die Zeitung schreibt, dass der CIA-Bericht von der Möglichkeit eines Militärputschs schreibt, wenn die Situation sich verschärft und ausser Kontrolle gerät.
Es ist möglich, dass ein Teil der herrschenden Klasse in Griechenland mit dieser Idee spielt, um einen Ausweg aus dieser Situation zu finden, so wie sie es 1967 schon einmal versucht hat. Aber die griechischen ArbeiterInnen erinnern sich auch noch an 1967 und die Verbrechen der Junta. Jeder Schritt in diese Richtung würde einen Bürgerkrieg provozieren. Das hat auch jüngst der US-Politikwissenschaftler Barry Eichengreen (University of California, Berkley) in einem Artikel mit dem bezeichnenden Titel: „Europa am Rande eines politischen Zusammenbruchs“ schrieb: „In Griechenland selbst ist die politische und soziale Stabilität bereits sehr prekär. Ein schlecht gezieltes Gummigeschoss könnte schon ausreichen, um die nächsten Strassenproteste in einen offen Bürgerkrieg umschlagen zu lassen.“
Mit dieser Meinung ist Eichengreen nicht allein. Paul Mason, der Chef der Wirtschaftsredaktion von „Newsnight“ auf BBC2 schreibt: „In den Regierungssitzen Europas, allen voran in Berlin, sind das Fragen, die nicht erwähnt werden dürfen. Es gibt eine unvorstellbare Kluft zwischen politischer Erwartung und dem, was tatsächlich bevorsteht. Es erinnert mich – so wie vieles im Jahr 2011 mich erinnert – an 1848. Metternich lästerte noch ein paar Stunden vor seinem Sturz von seinem Fenster aus über den nichtsnützigen Mob, Guizot erleidet aus Schock einen Atemnotstand als er seinen Rücktritt erklärt, Thiers, Premierminister für einen Tag, wird von den Massen gejagt…“ Die seriöseren bürgerlichen Strategen sind ernsthaft alarmiert angesichts der Entwicklungen in Griechenland. Das Problem aus ihrer Sicht ist nicht so sehr, dass dies zu einem Bürgerkrieg führen könnte, sondern die Frage, ob die griechische Bourgeoisie solch einen Krieg gewinnen könnte. Die Arbeiterklasse wurde noch nicht entscheidend geschlagen. Sie verfügt unter der Masse der griechischen Bevölkerung über eine grosse Unterstützung – nicht nur unter den ArbeiterInnen und Bauern, nicht nur unter den Studierenden und Intellektuellen sondern auch unter den kleinen Gewerbetreibenden und Taxifahrern und selbst unter vielen pensionierten Armeeoffizieren, die angesichts des plötzlichen Einbruchs ihres Lebensstandards allesamt zu revolutionären Schlussfolgerungen kommen.
Gegenwärtig gibt es in keinem Land Europas die Voraussetzungen für einen bonapartistischen oder faschistischen Ausweg aus der Krise. Die faschistischen
Organisationen von heute sind in der Regel kleine Sekten ohne Masseneinfluss. Selbst das Attentat in Norwegen war nicht ein Ausdruck der Stärke, sondern ein Zeichen der Schwäche. Terror ist letztendlich immer ein Ausdruck der Schwäche und der Unfähigkeit, die Massen zu erreichen.
Die Bourgeoisie braucht die Faschisten derzeit nicht. Jeder Versuch Richtung
Bonapartismus oder Faschismus zu gehen, würde nur die Arbeiterbewegung provozieren und auf den Plan rufen. Die Politiker in Brüssel fürchten, dass Griechenland unregierbar wird. Dass es nicht schon so weit ist, dafür sind die reformistischen Führer
verantwortlich. Aus diesem Grund werden die Bürgerlichen in absehbarer Zeit auf die
reformistischen Parteien und Gewerkschaften setzen.
In Griechenland hat die PASOK-Führung die Aufgabe den Kapitalismus zu retten auf
ihre Schultern genommen. Papandreou war ganz begierig seine „Fähigkeit zu
staatsmännischem Auftreten“ unter Beweis zu stellen, d.h. seine Unterwürfigkeit unter
die Interessen der Banker und Kapitalisten.
Es sind gerade die Reformisten, die die Sparpakete umsetzen, entweder direkt oder
indem sie die Angriffe der Rechtsregierungen auf den Lebensstandard aus
„patriotischem Pflichtgefühl“ unterstützen. In Griechenland beteiligen sie sich an der
Regierung der sogenannten „nationalen Einheit“ mit der konservativen Neuen
Demokratie und sogar der rechtsextremen LAOS-Partei. In Italien kollaborierten sie
ohne Vorbehalt bei der Einsetzung der „Expertenregierung“ von Monti. Sowohl in
Griechenland wie auch in Italien repräsentieren diese Regierungen der nationalen
Einheit die Einheit der Kapitalisten gegen die Arbeiterklasse bei dem Versuch weitere
schwere Angriffe gegen den Lebensstandard zu organisieren.
Als Resultat der jahrzehntelangen bürokratischen und reformistischen Degeneration, die im letzten halben Jahrhundert besonders offensichtlich wurde, wurden die Führungen der Massenorganisationen der Arbeiterklasse zu gewaltigen Hindernissen für die revolutionäre Bewegung. Dies ist eine nicht zu leugnende Tatsache. Es ist ein dialektischer Widerspruch, dass gerade in der tiefsten Krise des Kapitalismus in seiner
Geschichte, alle Führer der Arbeiterbewegung den „Markt“ akzeptieren.
Sobald man den Kapitalismus akzeptiert, muss man auch das Diktat des Kapitals
befolgen. Das erklärt das Verhalten der Reformisten, die überall als die Verwalter der
kapitalistischen Krise auftreten, Sparpakete umsetzen, um die Interessen der Banker und Kapitalisten zu verteidigen. In dieser Frage sind die „Linken“ um keinen Deut besser als jene am rechten Flügel. Sie teilen mit den rechten Reformisten die Sichtweise, dass es
keine Alternative zum Kapitalismus gibt und man dementsprechend handeln müsse.
Sie haben jede Perspektive einer sozialistischen Umwälzung der Gesellschaft
aufgegeben. Der Unterschied ist, dass die Rechten ihre Dienste dem Kapital
enthusiastisch und ohne zu zögern anbieten, während die Linken glauben, es könne
einen Kapitalismus mit menschlichem Gesicht geben. Sie wollen die bittere Medizin mit
einem Stück Zucker erträglicher machen. Doch das Leben hat für den Linksreformismus
eine harte Lektion vorbereitet. Unabhängig von den subjektiven Absichten agiert die
Linke als Feigenblatt für den Rechtsreformismus.
Dasselbe gilt auch für die ehemaligen „Kommunisten“, die zu ganz gewöhnlichen
Sozialdemokraten geworden sind. Diese Führer sind mittlerweile völlig abgehoben von
der wirklichen Stimmung in der Arbeiterklasse. Jeder, der glaubt, die italienischen,
spanischen oder belgischen ArbeiterInnen oder die ArbeiterInnen irgendeines anderen
Landes würden diese Kürzungen kampflos hinnehmen, der lebt auf einem anderen
Planeten.
Ohne die reformistischen Führungen könnte der Kapitalismus nicht einmal eine Woche
lang überleben. Genau aus diesem Grund macht das ganze Gerede von Faschismus und
Bonapartismus derzeit keinen Sinn. Die herrschende Klasse muss sich zur Zeit in ganz
Europa auf die Führungen der Massenorganisationen der Arbeiterklasse stützen. Jeder
Versuch in Richtung Faschismus oder Bonapartismus zu gehen, würde nur die
Arbeiterbewegung provozieren.
Natürlich kann sich das ändern. Die gegenwärtige Krise kann sich Jahre lang hin
ziehen. Ab einem gewissen Zeitpunkt wird die herrschende Klasse sagen: Zu viele
Streiks, zu viele Demos, zu viel Unruhe. Wir müssen die Ordnung wieder herstellen!
Dann könnte es zu einer Wende hin zur Reaktion kommen. Doch selbst in so einem Fall
müsste die Bourgeoisie vorsichtig vorgehen und auf eine Art parlamentarischer
Bonapartismus setzen.
Die herrschende Klasse ist nicht in der Position eine Frontalattacke gegen die Arbeiterbewegung zu starten. Im Gegenteil, das Pendel wird in nächster Zeit nach links
schwingen. Die Arbeiterklasse wird genügend Möglichkeiten haben die Macht zu
erobern, bevor die Bourgeoisie zur Reaktion greifen kann. Natürlich bewegt sich die
Arbeiterklasse nie geradlinig. Wir haben Zeit, aber nicht unbegrenzt. Die Bourgeoisie
kann an diesem Punkt nicht zu offener Gewalt greifen. Aber das kann sich ändern, und
es wird sich ändern. Niederlagen sind dabei unvermeidlich. Ab einem gewissen
Zeitpunkt kann die Bourgeoisie die nötige gesellschaftliche Unterstützung für die
Losung nach Wiederherstellung der Ordnung erhalten. Aber das ist nicht die
unmittelbare Perspektive in den entwickelten kapitalistischen Ländern.
Zu den bemerkenswertesten Faktoren in den Bewegungen, die im letzten Jahr die Welt
erschüttert haben, zählten die grossen Jugendproteste. Jugendliche standen überall in den Kämpfen an vorderster Front. Junge StudentInnen und ArbeiterInnen sind aufgrund
ihrer Stellung in der Gesellschaft ein sehr sensibles Barometer für die in der
Gesellschaft vorhandenen Widersprüche. In der arabischen Welt sind fast 75 Prozent der Bevölkerung jünger als 35 Jahre. Davon sind rund 70 Prozent arbeitslos und die meisten von ihnen müssen in der informellen Wirtschaft ums Überleben kämpfen. Ausserdem spüren die Jugendlichen, die sich gegen jegliche Zwänge von Natur aus rebellisch zeigen, besonders stark die Unterdrückung demokratischer Rechte.
Die Stellung der Jugend in den entwickelten kapitalistischen Ländern ist heute nicht so
viel anders als die der Jugend in den rückständigeren Ländern. In Spanien beträgt die
Arbeitslosenrate der Unter25jährigen mehr als 40 Prozent, und die Situation im Rest von Europa bewegt sich sehr schnell in dieselbe Richtung. Zur selben Zeit verliert die
bürgerliche Demokratie sehr schnell ihre Legitimität in den Augen der Jugend, die im
Parlament und den etablierten Parteien eine Maske für die Diktatur der Banker erkennt.
Laut einer Studie des Pew Research-Instituts verfügen in den USA Haushalte, deren
Haushaltsvorstand jünger als 35 Jahre alt ist, über ein Vermögen von durchschnittlich
nur $3,662 (2009), das ist 47 Mal niedriger als Mediannettovermögen von Haushalten
mit einem Haushaltsvorstand von 65 Jahren oder älter. Mit Arbeitslosigkeit und einer
Privatverschuldung auf Rekordniveau gibt es für diese “verlorene Generation” kein
Licht am Ende des Tunnels.
Die junge Generation, die heute in den entwickelten kapitalistischen Ländern aufwächst,
ist die erste seit dem Zweiten Weltkrieg, die mit einem niedrigeren Lebensstandard als
ihre Eltern rechnen muss. Sie können sich nicht mehr an die “goldenen Tage” des
Reformismus erinnern, als der Kapitalismus noch eine Reihe kleinerer Reformen
zugestehen konnte, was es den reformistischen Führern ermöglichte eine Autorität
aufzubauen, die sie zur Aufrechterhaltung des sozialen Friedens einsetzten. Sie haben
keine Erinnerung an die Kämpfe der Nachkriegsperiode, als die ArbeiterInnen noch in
ihren traditionellen Massenorganisationen sich politisch ausdrückten. Die einzigen
Erfahrungen, die sie haben, sind jene an die Konterreformen der 1990er Jahre und den
ständigen Verrat durch die Sozialdemokratie und in gewissem Masse auch durch den
Stalinismus.
Daher misstraut die Jugend allen etablierten politischen Kräften. Die Autorität der
Führer der traditionellen Massenorganisationen liegt in der Jugend auf einem
historischen Minimum. Seit dem Beginn der Krise hat die Jugend harte Schläge
erdulden müssen, aber die reformistischen und stalinistischen Führungen repräsentieren ihre Interessen nicht. Die traditionellen Organisationen werden noch immer von einer alles erstickenden, nach Karriere gierenden Bürokratie niedergedrückt und spiegeln daher zum jetzigen Zeitpunkt nicht die Erwartungen der jetzt schon stattfindenden Bewegungen wider. Im Gegenteil, die Führer der Labour Party in Grossbritannien, der PASOK in Griechenland und der Demokratischen Partei in Italien geben dem Druck der kapitalistischen Klasse nach und tun ihr Bestes, um “staatsmännisch” zu erscheinen.
Diese Situation wird sich in der Zukunft ändern, beginnend mit den Gewerkschaften.
Schon jetzt können wir sehen, wie der Druck auf die Gewerkschaftsführungen zunimmt,
endlich zu handeln. In mehreren Ländern sahen sie sich gezwungen Generalstreiks
auszurufen. Aber wir sind noch immer in den frühesten Stadien eines Prozesses der
inneren Differenzierung in den Massenorganisationen.
Während die Jugend und speziell ihre aktivsten Schichten revolutionäre
Schlussfolgerungen zieht, halten die Führer der offiziellen Massenorganisationen
verzweifelt an der kapitalistischen Ordnung fest. Deshalb können sie der radikalisierten
Jugend, die nach Ideen Ausschau hält, wie man mit dem System vollständig brechenkann, auch nichts anbieten. Die Jugend agiert mutig und energetisch, und das eröffnet für die MarxistInnen grosse Möglichkeiten, die Jugend direkt unter ihrem eigenen Banner anzusprechen. Wenn die MarxistInnen eine flexible Herangehensweise an diese revolutionäre Jugend entwickeln, sind grosse Erfolge möglich.
Ein Perspektivdokument ist keine blosse Auflistung von Fakten und Zahlen. Es muss
sich mit den fundamentalen Prozessen der Weltrevolution beschäftigen. Wir sollten
versuchen, die Fäden zusammenzuführen und Schlussfolgerungen abzuleiten. Wir sind
jetzt in die stürmischste Zeit in der Geschichte der Menschheit, eingetreten, wo es in
jedem Land zu einem Aufschwung des Klassenkampfes kommen wird. Wir sind in eine
Periode eingetreten, in der bürgerliche Regime zusammenbrechen werden wie der
Stalinismus vor 20 Jahren. Die Bourgeoisie ist sich dessen bewusst und ist darüber
beunruhigt.
Überall sehen wir die Symptome des Niedergangs. Solche Symptome sind den
GeschichtestudentInnen vertraut, die sich mit dem Niedergang und Zusammenbruch des
Römischen Reiches auseinandergesetzt haben. Skandale erschüttern die Bürgerlichen in
Frankreich, Italien und Grossbritannien. Jener in Grossbritannien ist der stärkste, er
betrifft jede Institution: die Presse, die politischen Parteien, die Banken und die
Monarchie.
Die Ereignisse in Wisconsin sind Ausdruck eines beginnenden Gärungsprozesses in den
USA. Das heisst natürlich nicht, dass morgen die Rote Fahne über dem Weissen Haus
wehen wird. Aber es heisst, dass derselbe Prozess sich entfaltet, zwar in
unterschiedlichen Geschwindigkeiten und unter unterschiedlichen Verhältnissen, aber in allen Ländern, sogar in den reichsten und mächtigsten Ländern der Welt.
Wir dürfen jedoch keine oberflächliche und impressionistische Einstellung gegenüber
diesen Ereignissen entwickeln. Die Massen können nicht ständig auf die Strasse gehen.
Plötzliche Wendungen sind in dieser Situation angelegt. In einem Land nach dem
anderen sind die ArbeiterInnenklasse und die Jugend schon bereit für ihre Interessen zu
kämpfen. Das revolutionäre Gärmittel wird sich über Jahre oder vielleicht Jahrzehnte
entfalten. Wir müssen uns darauf vorbereiten, dass es dabei zu Ebbe und Flut kommt. Es
wird Momente des grossartigen Ausbruchs geben, aber auch Momente der Ermüdung
und Enttäuschung und sogar Perioden der Reaktion.
Es wird unweigerlich Rückschläge und Niederlagen geben. Aber in so einer Periode
werden Niederlagen nur ein Auftakt zu einem neuen revolutionären Aufschwung sein.
Erinnern wir uns, dass es sogar 1917 Auf und Ab‘s in der Revolution gab. Nach der
Niederlage der Julitage musste Lenin nach Finnland fliehen und fast bis zur
Oktoberrevolution im Untergrund bleiben. Aber die revolutionären Bedingungen
machten einen neuen Aufschwung der Bewegung möglich. Wir sehen genau die gleiche
Dynamik in der Spanischen Revolution in den 1930ern.
Der Weg, den wir gewählt haben, wird nicht leicht, sondern im Gegenteil sehr steinig
werden. Wir müssen unsere Kader stählen, damit sie nicht zu sehr von den
vergänglichen Entwicklungen des Klassenkampfes beeinflusst werden. Dies ist eine
Epoche der Revolutionen, aber auch des Krieges und der Konterrevolutionen. Das heisst,
dass sich überall enorme Möglichkeiten für die Marxistische Tendenz auftun. Die
vorrangige Bedingung für Erfolg ist jedoch, dass wir unsere Kader in den marxistischen
Methoden schulen.
Vor 20 Jahren brach ein stalinistischer Polizeistaat nach dem anderen mitsamt seinem
mächtigen Repressionsapparat unter dem Druck des Aufbegehrens der Massen
zusammen. Ted Grant schrieb damals, dass der Zusammenbruch des Stalinismus ein
dramatisches Ereignis sei, dass es aber nur der Auftakt zu etwas viel Grösserem war: zur
Krise des Kapitalismus. Und das ist es, was wir heute erleben.
Was so erstaunlich war am Zusammenbruch des Stalinismus, war die Leichtigkeit, mit
der die ArbeiterInnen die scheinbar allmächtigen Regime mit ihren riesigen
Repressionsapparaten zu Fall brachten. Das Gleiche kann im Kapitalismus passieren,
wie wir es in Tunesien und Ägypten gesehen haben. In der Stunde der Wahrheit brach
das alte Regime wie ein Kartenhaus zusammen. Situationen wie im Mai 1968 können
sich wiederholen und zwar nicht nur in einem Land.
Das, was in der revolutionären Situation in Tunesien, Ägypten und Griechenland
bislang gefehlt hat, war eine revolutionäre Führung. Das ist etwas, das nicht improvisiert
werden kann. Sie muss schon davor vorbereitet werden. Wie man das machen kann?
Was ist die Aufgabe der MarxistInnen in dieser Situation? Wir setzen uns noch nicht das
Ziel, die Massen mit unserer Propaganda zu erreichen. Das übersteigt unsere
Fähigkeiten. Wir richten uns gegenwärtig an die fortgeschrittensten Teile der
ArbeiterInnen und der Jugend. Wir schlagen nicht die „leichten“ Agitationsslogans vor,
die den ArbeiterInnen nur das sagen, was sie ohnedies schon wissen. Man muss den
ArbeiterInnen die Wahrheit sagen. Aber die Wahrheit ist, dass die einzige Zukunft für
sie unter kapitalistischen Verhältnissen eine Zukunft der ständigen Sparpolitik,
sinkender Lebensstandards, Arbeitslosigkeit und Armut sein wird.
Die ältere Generation ist meist müde und demoralisiert, sie wird tendenziell wegfallen
und durch jüngere und energischere Schichten ersetzt werden, die bereit sind zu
kämpfen. Wie wir erklärt haben, werden die Massen all ihre bestehenden Parteien und
Führungen einem Test unterziehen. Es wird zu einer ganzen Reihe von Krisen und
Abspaltungen nach rechts und nach links kommen. An einem bestimmten Punkt wird
sich ein linker Massenflügel herausbilden. Der rechte Flügel wird im Zuge der
Ereignisse zerbrechen.
Manche werden einwenden: „Aber die Massen in Griechenland und Spanien und Italien
wissen nicht, was sie wollen!“ Ja, aber sie wissen, was sie nicht wollen! Sie hinterfragen
den Kapitalismus, was zuvor nicht der Fall war. Wir müssen aber realistisch sein. Die
Massen können nicht unbegrenzt auf der Strasse demonstrieren. Es wird vergleichbar
einer Windstille unvermeidlich Perioden geben, in der die ArbeiterInnen darüber
nachdenken werden, was passiert ist, sie werden kritisieren, differenzieren und
Schlussfolgerungen daraus ziehen. In genau solchen Perioden können die Ideen des
Marxismus ein starkes Echo erreichen; unter der Voraussetzung, dass wir geduldig sind,
dass wir zuhören, was uns die Massen sagen, und dass wir die konkreten Slogans
vorbringen.
Unsere Aufgabe, um Lenins Formulierung zu verwenden, ist es, geduldig zu erklären.
Wir müssen erklären, dass nur die Enteignung der Banken und Konzerne und die
Einführung einer demokratischen Planwirtschaft statt der kapitalistischen Anarchie
einen Weg aus der Krise bieten. Konkret müssen wir das nationalistische Gift der
StalinistInnen, die, im Falle Griechenland, für eine Rückkehr zur Drachme sind,
bekämpfen, indem wir den Slogan der Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa
aufstellen, was die einzig reale Alternative zu der bankrotten EU ist.
In den kommenden revolutionären Ereignissen werden die fortgeschrittensten
ArbeiterInnen und Jugendlichen lernen. Natürlich legen Bewegungen wie die
indignados in Spanien ein gewisses Mass an Naivität und Verwirrung an den Tag, aber
das ist unvermeidlich. In den frühen Phasen einer Revolution herrscht immer
Verwirrung vor. Das liegt daran, dass die Massen nicht aus Büchern lernen, sondern aus
Erfahrungen. Wenn wir richtig arbeiten, können wir ihnen helfen revolutionäre
Schlussfolgerungen zu ziehen und die Notwendigkeit einer marxistischen Perspektive
und einer revolutionären Organisation zu verstehen.
Die Ideen des Marxismus sind die einzigen Ideen, die die ArbeiterInnenklasse zu einem
Sieg in Europa, im Nahen Osten und auf der ganzen Welt führen können. Sie sind
unsere Waffen. In den Militärakademien der Bourgeoisie studieren die zukünftigen
Offiziere vergangene Kriege, um sich auf die zukünftigen vorzubereiten. In der gleichen
Weise müssen wir unsere Kader als die zukünftigen Offiziere des revolutionären
Proletariats vorbereiten. Jeder Genosse/jede Genossin muss die vergangenen
Revolutionen studieren, um die Lehren in zukünftigen Revolutionen nutzbar machen zu
können.
In der Vergangenheit waren unsere Perspektiven zwar korrekt, aber sie haben vielleicht
ein wenig abstrakt gewirkt. Jetzt sind sie sehr konkret. Das spiegelt einerseits das Reifen
der Verhältnisse überall wider. Andererseits spiegelt es die Tatsache wider, dass die
IMT aktiv an den revolutionären Ereignissen teilnimmt. Wir sind keine einfachen
BeobachterInnen und KommentatorInnen mehr, sondern aktive TeilnehmerInnen.
Vor uns liegen enorme Möglichkeiten die Organisation aufzubauen.
Die Organisation wird sich jedoch nicht von selbst aufbauen. Es benötigt harte Arbeit und Aufopferung von allen GenossInnen. Wir brauchen Einsicht in die Notwendigkeit des Aufbaus der Kräfte für die revolutionäre Internationale. Wenn wir es nicht tun, wird es niemand tun. Was weltweit geschieht, sollte uns alle mit Enthusiasmus, Entschlossenheit und Vertrauen in die Zukunft des Sozialismus erfüllen. Indem wir uns auf eine wissenschaftliche Analyse stützen und in taktischen Fragen flexibel sind, können wir an die besten Teile der Jugend und der ArbeiterInnenklasse anknüpfen und die gesamte Internationale für die Aufgaben vorbereiten, die uns von der Geschichte gestellt sind.
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