Das Verschwinden von 43 Studenten hat die offensichtliche Kollaboration der Regierung mit den Drogenkartellen deutlich gemacht. Über den explosiven Charakter der Studentenproteste in Mexiko berichtet Willy Hämmerle.
Es ist nicht das erste Mal, dass in Guerrero auf Studenten geschossen wurde. 2011 wurden beispielsweise während einer Demonstration gegen Kürzungen des Bildungsbudgets zwei Studenten der Normal Rural Schule in Ayotzinapa („Normalistas“) von der Polizei getötet. Niemand wurde für dieses Verbrechen jemals verfolgt. Die Ereignisse vom 26. September allerdings waren von einer Brutalität, die in den letzten Jahrzehnten ihresgleichen sucht. Während einer Rede der Ehefrau des Bürgermeisters von Iguala, Abarca protestierten Studenten der Normal Rural Schule und sammelten Spenden. Auf Anordnung Abarcas wurden sie beim Verlassen der Stadt von der Polizei gestoppt, die sofort das Feuer eröffnete. 23 Personen wurden niedergeschossen, 6 davon starben sofort. Die restlichen 43 Studenten wurden in Polizeibusse verfrachtet und dem Drogenkartell Guerreros Unidos übergeben. Einen makaberen Beigeschmack lieferte der Zweck der Spendensammlung: Die Entsendung einer Delegation zu einem Gedenkmarsch für das Tlatelolco Massaker von 1968, im Zuge dessen hunderte Studenten ermordet, entführt und gefoltert wurden.
Das Verhalten der Behörden demonstriert eindrucksvoll die Verflechtung des Staatsapparats mit dem organisierten Verbrechen. Zwar wurden einige Verhaftungen vorgenommen, doch wurde schnell klar, dass keine ernsthaften Ermittlungen betrieben werden. Präsident Enrique Peña Nieto sprach von einem „lokalen Problem“ und der Gouverneur des Staates Guerrero, Angel Aguirre, verzichtete auf eine Intervention mit dem Hinweis, dass Abarca seinen Anruf nicht beantwortet habe! In der Zwischenzeit zeigte sich, dass die Verbindungen zwischen Abarca und dem Drogenkartell Guerreros Unidos ein absurdes Ausmass haben – der Führer des Kartells ist sogar sein Schwager.
Seine kriminelle Widerwärtigkeit beschränkte sich aber nicht nur auf seine Verwandtschaftsverhältnisse. Bereits im Mai 2013 wurde ihm vorgeworfen, bei der Entführung und Ermordung dreier Aktivisten der Organisation Iguala Peoples‘ Unity beteiligt zu sein. Eines der Opfer, Arturo Hernandez, war Mitglied der Partei der demokratischen Revolution (PRD), der Partei Abarcas! Die Zeugenaussage eines Überlebenden, nach dem Abarca persönlich die Todesschüsse abgab, wurden der Staatsanwaltschaft sowie der Partei vorgelegt. Nichts geschah.
Links? Rechts?
Die Verbindungen der PRD zu den Beteiligten des Massakers sind ein Skandal für sich. Die Partei gründete sich 1989 und zog schnell weite Teile der sozialen Bewegungen, Gewerkschaften und anderen linken Kräfte an. Vor allem in Guerrero starben zahlreiche Mitglieder der Partei für ihre politischen Aktivitäten. Über die Jahre wurde die Partei jedoch immer weiter von rechten Fraktionen bürokratisiert und verlor dadurch ihre Rolle als Stimme der Armen und Unterdrückten. In Guerrero drückte sich dieser Wandel auf besonders abscheuliche Art und Weise aus. Die PRD nominierte den aktuellen Gouverneur Angel Aguirre als ihren Kandidaten, nachdem unter seiner Amtszeit als Mitglied der PRI zahlreiche Aktivisten der PRD in Guerrero ermordert wurden. Die Studentinnen und Studenten von Ayotzinapa verlangten, dass Aguirre vor ein politisches Tribunal gestellt wird. Sogar heute, nachdem seine Verwicklungen in zahlreiche Mordfälle bekannt wurden, wird er von der PRD verteidigt!
Auf der anderen Seite verlor der Apparat keine Zeit. Eine „Untersuchungskommission“, bestehend aus Vertretern aller lokalen Parteien, wurde zusammengestellt, die es schnell verstand die Schuld an dem Massaker den Opfern in die Schuhe zu schieben. Die Kommission kam zu dem Schluss, dass die Normales Rurales einer strengen Überprüfung unterzogen werden sollen, da sie der Hort von zukünftigen Guerillakämpfern seien. Die Attacken gegen die Schulen lassen keinen Zweifel an der politischen Motivation der Behörden aufkommen. Normales Rurales sind Schulen zur Ausbildung von Lehrern, deren Studenten zum grössten Teil einen indigenen, bäuerlichen Hintergrund haben. Sie sind tief mit den sozialen Kämpfen der ländlichen Bevölkerung im Bundesstaat Guerrero verbunden. Wer eine Normal Rural besucht wird kein gewöhnlicher Lehrer. Diese Schulen stehen für die Veränderung der Gesellschaft, nicht selten ausgedrückt durch Wandgemälde von Che Guevara oder Karl Marx. Nur ein Blinder übersieht, wieso die Opfer tatsächlich ermordet wurden.
In den ständigen Attacken gegen sie kristallisiert sich ein weit versponnenes Netz zwischen sämtlichen Parteien, sämtlichen Institutionen des Staatsapparates und den Drogenkartellen, denen nachgesagt wird bereits in zwei Dritteln aller Munizipalitäten entscheidenden Einfluss zu haben, heraus.
Die Macht der Kartelle scheint kein Ende zu nehmen. Längst ist sie ein Problem, die die Dimension von einfachen Verbrechen übersteigt. Tatsächlich ist es so, dass die Interessen der Kartelle und des Staates verschmolzen sind. Ein Witz, der gerne die Runde macht, fragt, ob es die Drogenkartelle sind, die die regierende PRI unterwanderten oder umgekehrt. Die Antwort auf die Frage: Es macht keinen Unterschied und es betrifft mittlerweile auch nicht mehr nur die PRI sondern sämtliche etablierten Parteien, einschliesslich der „linken“ PRD. Die Reichweite der Kartelle ist mittlerweile so hoch, dass man von einem Drogenkapitalismus spricht. Wie die letzten Ereignissen zeigten, zögert das organisierte Verbrechen, bestehend aus Staat und Kartellen, keine Sekunde damit jeden zu töten, der sich ihren Interessen in den Weg stellt.
Streiks und Selbstverwaltung
Die Antwort versuchen die Menschen in einigen Regionen selbst zu geben. Mit der Gewissheit, dass sie keiner öffentlichen Institution vertrauen können, gründeten sie Policias Comunitarias – selbstverwaltete Polizeieinheiten. Sie agieren ausserhalb des Staatsapparates, der in vielen Fällen mit den Kartellen gleichzusetzen ist. Während des Kampfes der Demokratischen Lehrergewerkschaft gegen die Konterreform im Bildungsbereich im Frühling 2013, wurden die Führer der Organisation in Guerrero verhaftet. Die Policias Comunitarias reagierten auf die Repressionen, indem sie gemeinsam mit den Aktivisten bewaffnet die Büros der etablierten Parteien stürmten und die Freilassung der festgenommenen Lehrer erreichten.
Zeitgleich zu den Ereignissen in Ayotzinapa regte sich eine Bewegung an der Nationalen Polytechnischen Hochschule (IPN) in Mexiko City. Sie ist mit über 150.000 StudentInnen und zahlreichen Instituten eine der grössten Universitäten in Mexiko. Nach einem Versuch des Rektorats, das Niveau des Curriculums zu senken, forderte eine kleine Gruppe von AktivistInnen die Besetzung der Schule. Am 24. September folgten über 2000 Studierende diesem Aufruf und bildeten eine Generalversammlung, die beschloss am nächsten Tag eine Demonstration abzuhalten. Der spontane Massencharakter dieser Demonstration überraschte selbst erfahrene AktivistInnen. Einen Tag nach dem Beschluss sammelten sich 25.000 Studierende, um dem Rektorat seine Forderungen zu übergeben, die zu dem Zeitpunkt nur daraus bestanden, die geplanten Veränderungen der Schule zurückzuziehen.
Das Rektorat marginalisierte die Bewegung und schleuste sogleich „porros“, bezahlte Provokateure, ein. Dies radikalisierte die Bewegung jedoch nur und zog auch diejenigen StudentInnen an, die bisher unentschlossen oder misstrauisch waren. In der Folge nahmen am nächsten Protestmarsch am 30. September über 70.000 StudentInnen teil. Im Laufe des Tages beschloss die gesamte IPN in den Streik zu treten.
Trotz zahlreicher medialer Schmierkampagnen hat diese Bewegung ihren Höhepunkt noch nicht erreicht. Die Studentenstreiks verbreiten sich wie ein Lauffeuer auf allen mexikanischen Universitäten. Ein nationaler Streik aller Universitäten wurde für den 20. November angekündigt, den Jahrestag der mexikanischen Revolution. Zusammen mit den Protesten in Ayotzinapa sind sie bereits heute die grösste Studentenbewegung seit 1968. Sie offenbaren die Verzweiflung der Jugend, die im heutigen System keine Zukunft mehr sieht, aber auch ihre Bereitschaft für Veränderung zu kämpfen.
Perspektiven
Mehr als einen Monat nach dem Verschwinden der 43 Studenten zeigt sich also, dass die Hoffnungen der korrupten Regierung auf eine Beruhigung der Proteste nicht in Erfüllung gehen. Mexiko ist erschüttert, nachdem der Generalstaatsanwalt Jesus Murillo Karam am 7.11. den Mord an den Studenten durch Mitglieder der Guerreros Unidos bekanntgegeben hat. Sein Kommentar dazu: „Keine weiteren Fragen, ich habe genug davon“.
„Ich habe genug davon“ wurde der Slogan der mittlerweile weitreichenden Protestwelle. Was als Studentenbewegung gegen die Handhabung des Vorfalls durch die Behörden begann, zieht nun breitere Schichten der Bevölkerung an. Die radikalere Richtung der Bewegung wird schnell klar. Die Menge verlangt längst nicht mehr nur nach einer Handvoll Verhaftungen, sondern eine tiefe Untersuchung des Verbrechens und Bestrafung aller, die ihre Finger mit im Spiel hatten, sowie weitreichende Veränderungen im politischen System. Eine Aussendung der Normalistas vom 10.11. formuliert diese Radikalität konkret. Sie versprechen eine Eskalation der Proteste, verurteilen die Polizeirepression während der Demonstrationen und kritisieren aufs Schärfste die zögerliche Haltung der Regierung, die die Sache solange unter den Tisch kehrte, bis es aufgrund des inneren und äusseren Drucks nicht mehr möglich war.
Diese Bewegung hebt sich vor allem durch das Vorhandensein einer klaren Führung ab, in diesem Fall die Studenten der Normal Rural Schule und ihre Verbündeten in der Lehrerbewegung und der selbstverwalteten Polizei. Neben der Organisation der Massenproteste und dem Aufruf nach zivilem Ungehorsam in Guerrero, setzten sie landesweite Studierendenstreiks durch. Allein diese Tatsache ist schon ein Hinweis darauf, dass die Bewegung ihre Spuren hinterlassen wird.
Die Nachricht, dass die 43 Studenten in Ayotzinapa ermordet wurden, hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Die Lage in Mexiko ist äusserst explosiv und ein Ende der Massenproteste ist noch lange nicht in Sicht. Der verrottete Charakter des mexikanischen Kapitalismus, der untrennbar mit den Drogenkartellen verbunden ist, lässt nur einen Weg offen. Nur die Abschaffung des kapitalistischen Systems, nur der Sturz des ganzen verfaulten Staatsapparates und der Aufbau einer neuen Organisation, nur die sozialistische Revolution kann der scheinbar endlosen Spirale an Gewalt und Repression ein Ende bereiten.
Regelmäßige Updates zur Lage in Mexiko gibt es auf www.marxist.com.
Europa — von Emanuel Tomaselli, RKI Österreich — 16. 11. 2024
Berichte & Rezensionen — von Die Redaktion — 15. 11. 2024
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Europa — von Jack Halinski-Fitzpatrick, marxist.com — 11. 11. 2024