In wenigen Wochen beginnt in Brasilien die Fussball-WM. Soziale Proteste, Streiks und Polizeirepression lassen europäische Fans aufhorchen. Wir führten aus diesem Anlass ein Interview mit dem brasilianischen Sozialisten Serge Goulart.
Proteste gegen die kommende Fussball-WM in Brasilien lassen europäische Fans aufhorchen. Was geht da ab?
Im Juni beginnt in Brasilien die Fussball-WM. Seit Juni 2013 laufen Proteste und Demonstrationen, weil die Kosten für den Umbau der Stadien in die Milliarden gehen. Gleichzeitig werden Bildung und Gesundheitswesen von der Regierung vernachlässigt. Die Demonstranten fordern nicht nur, dass das Geld für den Ausbau des öffentlichen Sektors, für Gesundheitswesen und Bildung ausgegeben wird. Sie fordern eine Rücknahme der Sondergesetze für die Durchführung der WM. Diese Gesetze wurden vom Parlament auf Antrag der Regierung verabschiedet. Der Weltfussballverband FIFA hat alles auferlegen.
Diese WM-Gesetze erklären die Zonen rund um die Stadien für exterritorial. Rund um die WM-Stadien gelten also das Recht und die Exekutiv-Vollmacht der FIFA. So hat sie auch das Monopol zum Verkauf und Ausschank alkoholischer Getränke in den Stadien. Die Gesetze greifen direkt in die nationale Souveränität und Hoheitsrechte Brasiliens ein. Dies ist eine Unterordnung von Regierung und Parlament unter die Interessen der Milliardäre, die die Fussballwelt bestimmen.
In allen grossen Austragungsorten sind Demos gegen die WM geplant. Die Regierung hat schon Antiterrorgesetze erlassen, die auch gegen diese Demonstranten gerichtet sein können. Kürzlich hat ein Senator der sozialdemokratischen Arbeiterpartei (PT) ein Gesetzesprojekt vorgelegt. Demnach droht allen Demonstranten gegen die WM eine Haftstrafe von maximal 20-30 Jahren, wenn sie den Ablauf der WM und den Zutritt von Spielern und Zuschauern in die Stadien oder auch die Arbeit von Sportorganisatoren wie der FIFA behindern. Damit wäre dieses Gesetz noch drakonischer als das Strafrecht, das bei Tötungsdelikten eine Höchststrafe von 20 Jahren vorsieht. Wer einmal entsprechend verurteilt ist, soll auch nicht auf Amnestie hoffen und mit einer Kaution auf Freilassung hoffen können. Der Repressionsapparat ist immens und der Staat hat eine Sondereinheit von 10.000 spezialisierten Polizeikräften bereitgestellt, um diese Gesetze auch umzusetzen. Das ist ein gigantischer Skandal.
Und lassen sich die WM-Kritiker dies gefallen?
Landesweit gibt es eine Gegenkampagne mit Demos in allen Austragungsorten und der Forderung nach Rücknahme und Aufhebung der Sondergesetze und nach Umwidmung der WM-Gelder für Bildung und Gesundheit. An den Protesten wirken soziale Bewegungen, Gewerkschaften, linke und Jugendorganisationen mit.
Es wurde auch über Proteste von Jugendlichen in Einkaufsmeilen berichtet.
Das sind die sogenannten Rolesinhos, also Flashmob-artige Aktionen, die von Jugendlichen aus den Armenvierteln in Sao Paulo ausgehen. Sie schliessen sich in grossen Gruppen zusammen und gehen gemeinsam in die grossen Luxus-Schickimicki-Einkaufszentren. Die grosse Mehrheit sind sehr arm und meistens dunkelhäutig und damit schon durch ihre Hautfarbe ausgegrenzt. In den Stadtvierteln gibt es keine öffentlichen Parks oder Freizeiteinrichtungen für Jugendliche. Vielfach schliessen die Verwalter der Einkaufsmeilen und Geschäfte dann panikartig die Tore. Dies hat aber eine Empörung ausgelöst, Jugendliche kommen dann in noch grösseren Gruppen in die Einkaufszentren. All das ist ein Ausdruck der schlechten Lebens- und Arbeitsverhältnisse der Arbeiter und Jugend in diesen Vierteln.
Zeigt diese Bewegung auch Ansätze einer Politisierung?
Dies gestaltet sich derzeit schwierig, die Bewegung ist total spontan und von der Jugend in den Vierteln selbst organisiert. Wir als Marxistische Linke in der PT und MNS kritisieren den rassistischen Charakter dieser panikartigen Schliessungen in den Geschäftszentren. Der Kapitalismus bietet diesen Jugendlichen weder Freizeit noch Vergnügen an. Ein Ausdruck der Fäulnis des Kapitalismus.
Wie sieht Eure Jugendarbeit aus?
In unserer Jugendarbeit der Juventude Marxista fordern wir öffentliche und kostenlose Bildung, ÖPNV und Krankenversicherung für alle und ein Ende der Repression. Die Regierung soll das Geld nicht für Schuldentilgung oder Spekulation ausgeben. Wir verlangen eine Aufhebung aller Gesetze, die eine Kriminalisierung der Proteste von Jugend und Arbeiterklasse zur Folge haben. Einige GenossInnen von uns sind seit den Juni-Protesten selbst von Strafverfolgung betroffen.
Und was tut sich in Betrieben und Gewerkschaften?
Nach den Demos im letzten Juni riefen die grossen Gewerkschaften zu zwei landesweiten Aktionstagen und Massendemos im August und September auf. Aber richtig organisiert wurde nichts. Allerdings hat sich die Anzahl der Streiks 2013 gegenüber 2012 verdoppelt. Meistens gelang es dabei, Lohnerhöhungen oberhalb der Inflationsrate durchzusetzen. Die herrschende Klasse nahm dies sofort zum Anlass, um kampagnemässig Arbeitsmarktreformen zur Einschränkung von Arbeitnehmerrechten zu fordern, mit denen angeblich die „Wettbewerbsfähigkeit“ des Landes erhöht werden soll. In den Branchen Banken und Post gab es grosse Bewegungen, bei den Banken war dies der grösste Streik seit 30 Jahren. Wir erwarten für 2014 neue Streiks von einem ganz anderen Kaliber und Ausmass.
2014 finden Wahlen statt. In welchem Zustand befindet sich die PT, die das Land regiert?
Präsidentin Dilma Roussef wird wahrscheinlich die Präsidentschaftswahlen im Oktober gewinnen. Ein Grund liegt in der schweren Krise der bürgerlichen, rechten Oppositionsparteien, die total zersplittert sind. Keiner der potenziellen rechten Gegenkandidaten kommt auf 10 oder 20 Prozent der Stimmen. In Brasilien besteht Wahlpflicht. Wer nicht wählt, macht sich strafbar. Man kann aber auch ungültig wählen. Viele Leute wählen das scheinbar kleinere Übel. Die PT hat in Grossstädten viele Wähler verloren. Aber abtrünnige Stimmen wandern nicht nach rechts, sondern in das Lager der Stimmenthaltung oder ungültigen Stimmen.
Dilma hat ihre Basis in den ländlichen Gebieten Zentralbrasiliens, wo die höchste Armut herrscht. Dort hat die Regierung eine Art Soziales Hilfsprogramm für arme Familien aufgelegt und zahlt jetzt ein Familiengeld zwischen 30 und 60 Dollar monatlich für Familien, die vorher nichts bekamen und nichts hatten. 48 Millionen Menschen und Habenichtse auf dem Land kamen in den Genuss dieser an sich sehr bescheidenen Zahlungen. Diese Loyalität der treuen Wähler kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine tiefe Krise in der Partei herrscht.
Die kämpferischsten, ehrlichsten und konsequentesten Aktivisten treten aus. Sie treten aber nicht in andere Parteien über. Es herrschen Demoralisierung und Distanzierung, Entfremdung und Distanzierung vor.
Jetzt hat die PT zusammen mit der herrschenden Klasse die grösste Privatisierungswelle eingeleitet, das trifft auch den inzwischen teilprivatisierten Erdölkonzern PetroBras.
Damit einher geht eine Repressionswelle gegen die Belegschaft, die gegen die Privatisierung Widerstand leistet. All dies wird schwerwiegende Konsequenzen für die Partei haben.
Serge Goulart war in den 1970er Jahren Mitbegründer der brasilianischen Arbeiterpartei PT und des Gewerkschaftsbunds CUT. Ab 2002 jahrelanges Engagement bei der Besetzung der Chemiefabrik Cipla und der lateinamerikanischen Vernetzung von Belegschaften besetzter Betriebe. Sprecher der Esquerda Marxista (Marxistische Linke in Brasilien – www.marxismo.org.br) und Redakteur der Zeitschriften Luta de Classes und América Socialista.
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