Innerhalb weniger Tage sind kürzlich mehr als 1000 Menschen im Mittelmeer bei dem Versuch, ihr Leben und das Leben ihrer Kinder vor Krieg, Verfolgung und Hunger zu retten, ums Leben gekommen. Die tatsächliche Dimension dieser menschlichen Tragödie ist viel grösser. Denn diese Menschen sind jene, die überhaupt in Statistiken und Bildern auftauchen.
Die allermeisten der ca. 50 Millionen Flüchtlinge, die es laut UN weltweit gibt, werden überhaupt nicht wahrgenommen, da sie in keiner amtlichen europäischen Statistik auftauchen und über sie nicht berichtet wird.
Nach dem Sudan, der mit mehr als vier Millionen Flüchtlingen die höchste Zahl an Flüchtlingen aufweist, steht ein ganz anderes Land weltweit auf Platz 2, als es die meisten Menschen – zumindest im Westen – vermuten: Kolumbien. Es liegt nicht auf dem Krisenkontinent Afrika und verfügt über Erdölvorkommen und andere Bodenschätze wie auch einen grossen Kaffee- und Schnittblumenexport. Ein wohlhabendes Land – eigentlich.
Die Geschichte von Flucht
Die Landflucht in Kolumbien begann in der Mitte des 19. Jahrhunderts aufgrund der extrem ungleichen Verteilung des Bodens, ausbleibender Landreformen und des Mangels an Aussichten der Bauern, Pächter und Landarbeiter auf eine bessere Zukunft. Bis heute hält dieser Prozess an.
Hauptverantwortlich für gewaltsame Vertreibungen in den letzten Jahrzehnten sind die Paramilitärs. Deren Interesse an Land steht dabei im Vordergrund – zum einen für den Kokaanbau, zum anderen spielt aber auch das „Land Grabbing“ eine wichtige Rolle. Vor allem Menschen an der Pazifikküste werden vertrieben, um das Land als Anbau- und Produktionsfläche an Konzerne zu verkaufen.
Ein weiterer Grund für die massenhaften Fluchtbewegungen in Kolumbien sind die staatlichen Aktionen gegen den Anbau von Koka- und Mohnpflanzungen. Mit Flugzeugen werden ganze Landstriche aus der Luft mit Herbiziden besprüht. Die Verantwortlichen gehen dabei brutal vor. Allein im Jahr 2002 sollen nach Angaben der „Beratungsstelle Menschenrechte und gewaltsame Vertreibung“ (CODHES) durch diesen Gifteinsatz knapp 40.000 Menschen vertrieben worden sein – 15 Prozent der gesamten Flüchtlingsbewegung in jenem Jahr. Das US-Aussenministeriums setzt die Besprühungen gegen alle Kritik von Menschenrechtsorganisationen durch. Lokaler Kapitalismus geht hier Hand in Hand mit dem Imperialismus der USA und EU.
Freihandelsabkommen
Das Freihandelsabkommen (FTA) zwischen der EU und Kolumbien soll kolumbianischen Produzenten etwa von Bananen und Zucker erleichterten Zugang zum europäischen Markt und Kapitalisten aus der EU in Kolumbien Märkte für Lebensmittel, Autos und Maschinen eröffnen. Von Privatisierungen versprechen sich EU-Kapitalisten profitable Anlagemöglichkeiten in Kolumbien.
Was sind die Folgen dieses Freihandelsabkommens? Laut einer von der EU in Auftrag gegebenen Studie werden durch die Ausweitung der Agro- und Holzindustrie Waldrodungen zunehmen. Durch die Produktionssteigerungen in der Landwirtschaft sowie im Industrie- und Bergbausektor werden Belastungen für die Umwelt zunehmen. Die Intensivierung der Bergbauindustrie und die Abholzung von Waldgebieten führen überdies zu sozialen Konflikten und neuen militärischen Konflikten. Vor allem Zuckerrohranbau und Kohlebergbau führen zur Zerstörung von Lebensraum und Vertreibung indigener Gemeinden. Regenwälder sind durch diese Politik von der Abholzung bedroht.
Interessant ist auch, welches Land in Lateinamerika die meisten Flüchtlinge aufnimmt: Venezuela. Es beherbergt derzeit über 217.000 Vertriebene. Die Mehrheit stammt aus Kolumbien.
Fluchtursache Nr. 1 ist der Kapitalismus. Solange er Zugriff auf den letzten Winkel der Erde hat und die Jagd nach Profiten auf Kosten von Mensch und Umwelt rücksichtlos anhält, bleiben solche Fluchtbewegungen trauriger Alltag. Wirkliche Lösungen kann es innerhalb des kapitalistischen Systems nicht geben. Letztendlich kann nur die Überwindung des Kapitalismus und die Schaffung einer weltumspannenden sozialistischen Demokratie die Fluchtursachen beheben.
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