Angesichts der ausser Kontrolle geratenen Inflation heben Zentralbanken die Leitzinsen an und provozieren eine Rezession. Die herrschende Klasse ist zunehmend gespalten, während sich die Krise des Kapitalismus vertieft. Nur die sozialistische Revolution kann einen Weg aus der Sackgasse zeigen.
Vor zwölf Monate bezeichneten gelassene Zentralbanker die schleichende Inflation als «temporäres» Phänomen. Unterbrüche in Lieferketten und Arbeitskräftemangel wiederum wurden von den Kapitalisten als vorübergehende Ärgernisse bezeichnet. Wirtschaftsanalysten sahen einen robusten post-Lockdown-Aufschwung voraus.
Heute können alle sehen, wie die Preise unkontrolliert in die Höhe schiessen. Hoffnungen auf Erholung sind der Angst vor der Rezession gewichen. Anstelle von Selbstgefälligkeit und Grössenwahn ist die herrschende Klasse nun auf der Suche nach der sprichwörtlichen monetären Handbremse: ein verzweifelter Versuch, sich selber davor zu bewahren, über die Klippe zu rasen.
Aber auf der anderen Seite sehen sie sich mit einem neuen weltweiten Wirtschaftseinbruch. In einem Effort, die Situation zu entschärfen und die Alternative fürchtend, drängt ein Flügel der herrschenden Klasse tatsächlich auf dieses katastrophale Ergebnis. Es ist so: Im Kapitalismus führen alle Wege in die Krise. Revolutionäre Explosionen stehen uns bevor.
Die Inflation ist mit offiziell 8,3% in den USA, 9,1% in der Eurozone und 9,9% in Grossbritannien sicher nicht länger vorübergehend. Tatsächlich sind politische Entscheidungsträger zunehmend besorgt, dass sich die Inflation verstetigt und sich auf jede Industrie und Ware ausbreiten wird. Hintergrund sind der Ukrainekrieg, der weiter Energiepreise anhebt und die Preisanstiege bei weiteren zentralen Gütern.
In der Folge haben die Führungspersonen der wichtigsten Zentralbanken – wie der US Federal Reserve (Fed), der Europäischen Zentralbank (EZB) und der Bank of England (BoE) – seit kurzem eine «falkenhafte» Wendung durchgemacht: Sie nehmen eine kriegerische Haltung gegenüber der Inflation ein und bekräftigen ihr harte Linie, die Preise runter zu drücken.
Diese Woche haben sowohl die Fed als auch die BoE bedeutende Erhöhungen der Leitzinsen verkündet. Damit wollen sie eine straffe Geldpolitik bezwecken, Kredite weniger zugänglich machen und die Nachfrage in den US- und britischen Märkten abkühlen.
Fed, EZB und BoE teilten der Öffentlichkeit jedenfalls mit, dass weitere scharfe Leitzinserhöhungen im kommenden Jahr zu erwarten seien, möglicherweise auf das Doppelte des jetzigen Niveaus bis zum nächsten Sommer. Dem Beispiel der Fed folgend, hat eine Reihe von Zentralbanken auf der ganzen Welt, von der Schweiz bis Südafrika, kürzlich ähnliche Schritte unternommen.
Diese neuesten Entscheidungen folgen auf ein Treffen der weltweit führenden Zentralbanker Ende August, wo diese neue aggressive Haltung gegenüber der Inflation öffentlich erklärt wurde. «In diesem Umfeld müssen Zentralbanker energisch handeln», erklärte Isabel Schnabel von der Geschäftsleitung der EZB. «Sie müssen sich mit Nachdruck gegen das Risiko wehren, dass die Leute beginnen, an der langfristigen Stabilität unserer Fiat-Währungen zu zweifeln.» «Es gibt keine Tauben mehr bei der EZB, nur durchschnittliche Falken und Über-Falken», sagte Katharina Utermöhl, eine führende Ökonomin bei der deutschen Versicherung Allianz in einer Antwort auf die Kommentare ihrer Landsfrau.
Aber wenn man durch das Dickicht von Beschönigungen und Doppeldeutigkeiten blickt, was bedeuten diese Schritte konkret? Sie bedeuten einen bewussten Versuch, eine Rezession zu provozieren, um die wirtschaftliche Nachfrage zu dämpfen, Arbeitslosigkeit zu erhöhen und Löhne niederzudrücken. Wie Powell selbst betonte, ist sein Ziel «eine gewisse Aufweichung der Arbeitsmarktbedingungen» herbeizuführen, um «die Inflationserwartungen stabil zu halten». Das heisst, die Löhne der ArbeiterInnen tief zu halten, um den Teufelskreis von steigenden Löhnen und Preisen zu verhindern. Anders gesagt, ArbeiterInnen werden auf schändliche Weise für die Inflation verantwortlich gemacht, weil sie den Preisen hinterherrennen und für höhere Löhne kämpfen. Und es sind die ArbeiterInnen, die auf dem einen oder anderen Weg für die Krise bezahlen sollen.
Bis vor kurzem hatte Powell darauf beharrt, dass er und die Fed eine «weiche Landung» einfädeln könnten: die Wirtschaft graduell verlangsamen (Inflation reduzieren) ohne sie am Boden zu zerschmettern. Aber er und der Rest der kapitalistischen Klasse klingen immer weniger optimistisch über diese Perspektive heutzutage. Stattdessen warnen sie nun Haushalte und Unternehmen, sich auf eine holprige Fahrt einzustellen. «Wir müssen die Inflation hinter uns bringen», meinte Powell zur jüngsten Entscheidung der Fed, die Zinsen anzuheben. «Ich wünschte, es gäbe einen schmerzlosen Weg, das zu tun. Es gibt ihn nicht.» «Es gibt die Chance auf eine milde Rezession und die Chance auf eine harte Rezession», kommentierte Jamie Dimon, Chef des Bankenriesen JPMorgan Chase. «Und wegen dem Krieg in der Ukraine und der Unsicherheit des globalen Strom- und Lebensmittelangebots gibt es eine Chance, dass es sehr viel schlimmer werden könnte.»
Ebenso wird vorausgesagt, dass Europa und Grossbritannien auf eine langanhaltende Rezession zusteuern, oder schon am Anfang einer solchen stehen. Rapide steigende Energiekosten und Leitzinsen beissen die Konsumentennachfrage und drängen kleine Geschäfte in den Bankrott. In Deutschland zum Beispiel drohen Gasdefizite aus dem Ukrainekrieg ganze Reihen von Industrien durcheinanderzubringen oder zu zerstören. Es ist unwahrscheinlich, dass eine harte Landung die Inflation auf 2% bringen wird, wie von den meisten westlichen Zentralbanken angestrebt. Erstens wird die Inflation in Europa und in UK hauptsächlich durch den Schock auf die Gaslieferungen getrieben. Das ist primär das Resultat des Krieges. Aber selbst wenn irgendwann ein Waffenstillstand zustande käme, könnte die Energiekrise nicht gelöst werden und die Preise würden sprunghaft bleiben. Europäische Regierungen versuchen sich bereits vom russischen Gas zu trennen und suchen nach grösserer Energiesicherheit. Das wird aber einige Zeit in Anspruch nehmen, zusammen mit bedeutenden Investitionen in Infrastruktur und Technologien. Investitionen, die die Kapitalisten und ihre Repräsentanten vollkommen verfehlt haben, bis jetzt zur Verfügung zu stellen. Gleichermassen haben die Dürren und Hitzewellen diesen Sommer entblösst, wie verletzlich Europas existierende Energienetzwerke gegenüber der Klimakatastrophe sind, die nur schlimmer werden wird. Die ganze Zeit über verlangsamt sich der Welthandel, die Globalisierung geht zurück, Märkte brechen ein, Lieferketten werden verschoben, da PolitikerInnen auf protektionistische Massnahmen setzen. Und all das dient dazu, Preise auf lange Zeit nach oben zu drücken. Die negativen Folgen der Pandemie und des Krieges kommen auf diese inflationären Kräfte oben drauf.
Tatsache ist also, die Inflation stieg schon vor dem Ukrainekrieg und wird auch nicht so schnell verschwinden. Die Leitzinsen anzuheben, wird sicher nichts tun, um diese langfristigen Probleme zu lösen. Stattdessen wird es die Last der Schulden für Haushalte, Firmen und ganze Staaten erhöhen, was verheerende Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft haben wird. Trotzdem sind die EZB und die BoE gezwungen, dem Beispiel ihres amerikanischen Pendants zu folgen, was Zinserhöhungen betrifft. Ohne diese würde der Dollar gestärkt, der Euro und das Pfund würden weiter geschwächt. Importe nach Europa und UK würden teurer werden und die Inflation nähme zu. In den USA andererseits ist die Inflation stärker nachfragegesteuert als anderswo. Der Fehler liegt hier nicht an den Löhnen der ArbeiterInnen, die tatsächlich immer noch hinter den Preisen hinterherhinken. Vielmehr ist es die Konsequenz von Runden keynesianischer Stimuluspakete des Weissen Hauses, die künstlich Billionen in die amerikanische Wirtschaft gepumpt haben. Zugleich hat es die monopolistische ‘Preissetzungsmacht’ US-Konzernen ermöglicht, weiterhin Rekordprofite einzufahren. Es handelt sich also keineswegs um eine «Lohn-Preis-Spirale», da die grossen Unternehmen den Konsumenten höhere Preise aufzwingen, um ihre Profite zu schützen. Und zwar auf Kosten der Kaufkraft der ArbeiterInnen.
Wenn die Sprache auf die wuchernde Inflation kommt, sollten wir fest auf die Kapitalisten zeigen, auf deren politische Repräsentanten und ihr System. Nicht auf ArbeiterInnen, die darum kämpfen, über die Runden zu kommen. Falkenhafte Geldpolitik, Leitzinserhöhungen und harte Landungen sind keine Lösung.
Trotz ihrer Propaganda lässt die herrschende Klasse zwischen den Zeilen durchblicken, was die wahren Ursachen der Inflation sind. Die verschiedenen neuesten Ausgabenpakete der Biden-Administration kommentierend, merkte beispielsweise Jerome Powell an: «Unsere nationale Finanzpolitik ist nicht auf einem nachhaltigen Pfad, und das schon seit geraumer Zeit nicht mehr. Wir müssen zu einem nachhaltigen Pfad zurückkehren. Je früher, desto besser.»
Was wir sehen, ist ein regelrechtes Tauziehen zwischen aggressiven (ungewählten) Zentralbankern, die eine Rezession provozieren und die Inflation runterbringen wollen, und besorgten (gewählten) PolitikerInnen, die Angst vor den sozialen und politischen Konsequenzen dieses Weges haben. Auch in China schwelt ein Konflikt zwischen den Finanzministern, die sich angesichts einer platzenden Immobilienblase und einer wirtschaftlich katastrophalen Nullzinspolitik Sorgen um das Wachstum machen, und dem bonapartistischen KPCh-Chef Xi Jinping, dem es in erster Linie um die Aufrechterhaltung der Stabilität (und vor allem um sein eigenes Ansehen) geht.
Die herrschende Klasse ist überall zunehmend gespalten. Diese Risse sind besonders auffallend in Verbindung zu den Spannungen zwischen der Fed und dem Weissen Haus. Aber sie existieren auf die eine oder andere Art in der herrschenden Klasse jedes Landes, bei jeder grossen Frage. Der monetaristische Flügel will die Zinsen anheben. Zum Teufel mit den Folgen! Der andere setzt eher auf keynesianische Methoden und greift zu staatlichen Konjunkturprogrammen und Rettungspaketen. Erstere trachten danach, die Arbeiterklasse sofort und frontal anzugreifen. Letztere versuchen währenddessen Zeit zu schinden. Aber damit bereiten sie lediglich die Bedingungen für eine noch tiefere Krise und schärferen Klassenkampf vor. Beide aber sind angetrieben durch eine Sache: das kapitalistische System zu verteidigen und die Profite, die Macht und die Privilegien der Milliardärsklasse zu bewahren. Und für ArbeiterInnen laufen beide Wege aufs Gleiche hinaus. Es ist eine «Wahl» zwischen Tod durch Erhängen und Tod durch tausend Schnitte.
Die Monetaristen und Keynesianer haben beide Recht und beide Unrecht. Was auch immer für eine Entscheidung die herrschende Klasse trifft, es wird sie ins Desaster führen. Wenn sie die Zinssätze weiter anheben, werden sie die Weltwirtschaft in einen neuen Abschwung stürzen. Wenn sie jedoch weiterhin durch staatliche Unterstützung intervenieren, heizen sie die Inflation nur weiter an und lassen den ohnehin schon riesigen Schuldenberg weiter anwachsen. Tatsächlich ist der wahrscheinlichste Ausgang eine Mischung aus beidem: sogenannte «Stagflation», wo die Preise hoch bleiben, während die Wirtschaft zum Stillstand kommt oder abstürzt. Während all dem wird der Klassenkampf in allen Ländern intensiver, da die Bosse in die Offensive gehen, um ihre Profite zu steigern und ArbeiterInnen in Aktion treten, um ihren Lebensstandard zu verteidigen.
Diese Entwicklungen spiegeln und unterstreichen, was Leo Trotzki vor über hundert Jahren erklärte, jeder Versuch der herrschenden Klasse, wirtschaftliches Gleichgewicht zu schaffen, wird nur soziale und politische Instabilität provozieren.
Und das gleiche gilt für den umgekehrten Fall. Die herrschenden Klassen der grossen imperialistischen Mächte haben Benzin ins Feuer eines bereits wütenden Feuers gegossen durch ihre konsequent kurzsichtigen politischen Entscheide. Alles zur Verfolgung ihrer eigenen engen Interessen. Sie haben den Weg des Protektionismus eingeschlagen, was den Handel verteuert. Sie verlängern bewusst den Konflikt in der Ukraine. Und zunehmend hat es die herrschende Klasse mit unzuverlässigen Demagogen an der Regierungsspitze zu tun, die nicht im Interesse der Kapitalisten handeln. Das Resultat sind Stellvertreterkriege, Handelskriege und Kulturkämpfe, die nur eine bereits prekäre Situation anheizen und destabilisieren.
Heute kann Trotzkis Annahme also in dahingehend neu formuliert werden: Jeder Versuch der Bourgeoisie, das ökonomische Gleichgewicht wiederherzustellen, also auf der Geldseite durch Inflation, wird unausweichlich die andere Seite stören, also Nachfrage und Wachstum – und umgekehrt. Und beide dienen dazu, das soziale und politische Gleichgewicht zu untergraben, auch in den internationalen Beziehungen, was zu weiterer wirtschaftlicher Instabilität und zu revolutionären Umwälzungen in der Gesellschaft führt. Es gibt keine Lösung für diese Sackgasse im Kapitalismus. Nur eine sozialistische Revolution kann diesen gordischen Knoten durchtrennen.
Wir sehen, wie sich diese Dynamik bei allen Drehungen und Wendungen in der Krise des Kapitalismus zeigt. Um ihr System nach dem 2008er Crash zu retten, hat die herrschende Klasse die Banken gerettet und dann den ArbeiterInnen und der Jugend die Rechnung präsentiert in Form von Sparmassnahmen und Kürzungen. Das führte zu Massenmobilisierungen auf den Strassen und später zu politischen Formationen am linken Rand, wie Syriza in Griechenland, Podemos in Spanien oder die Corbyn-Bewegung in Grossbritannien. Dann wiederum, als die Pandemie einschlug, händigten die Regierungen der Welt den grossen Unternehmen Blankoschecks aus – alles finanziert durch weitere Schulden und mittels Gelddrucken – in der Hoffnung, eine wirtschaftliche Implosion und eine soziale Explosion zu verhindern. Aber das hat den Weg geebnet für die schwindelerregend hohe Inflation, die wir heute sehen, in dem ein Schwall von fiktivem Kapital in die Weltwirtschaft geblasen wurde.
Und nun, mit der Aussicht, dass Millionen in Europa und Grossbritannien in Energiearmut gestossen werden, sehen wir kapitalistische Politiker umherwühlen, um mit verschiedenen verzweifelten Massnahmen eine Lösung für die Energiekrise zu finden. Alle davon haben eine Sache gemeinsam: Über kurz oder lang zahlt die Arbeiterklasse. Währenddessen ziehen die Imperialisten den Ukrainekrieg in die Länge und fahren ihre Handelskriege auf, womit sie die Saat für langgezogene Inflation und wilde Schwingungen der Preise sägen, was die bereits fragile Weltwirtschaft weiter destabilisiert.
Und es ist die Arbeiterklasse in allen Ländern, die gezwungen wird, die Konsequenzen zu durchleiden. Die «Lebenskosten»krise ist also kein isoliertes Problem, das durch Flickwerk und Einzelreformen gelöst werden kann. Vielmehr ist sie ein weiteres Symptom eines kranken Systems, das nächste Kapitel der anhaltenden Krise des Kapitalismus. Aber das Ende dieser Geschichte ist noch nicht geschrieben. Es ist an uns, uns zu organisieren, die Kräfte des Marxismus aufzubauen und sie mit einer revolutionären Schlussfolgerung auszustatten.
Adam Booth, IMT
23.09.2022
https://www.marxist.com/hawks-hikes-and-hard-landings-new-chapter-in-the-crisis-of-capitalism.htm
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