[dropcap]W[/dropcap]ird die Rechtspartei PVV und ihr Führer Geert Wilders die Parlamentswahlen in den Niederlanden am Mittwoch, 15. März gewinnen? Hans-Gerd Öfinger befragte Zowi Milanovi (VONK/IMT) aus Amsterdam zur Ausgangslage im Land unmittelbar vor den Wahlen und möglichen Perspektiven nach dem Urnengang.
Es hat jüngst Berichte über einen Aufschwung der niederländischen Wirtschaft gegeben. Wie ist der wirtschaftliche Hintergrund der Wahlen in den Niederlanden, die Stellung des niederländischen Kapitalismus und die Lage der ArbeiterInnenklasse?
Nach vielen Krisenjahren und einer Verschlechterung der sozialen Lage gibt es endlich Zeichen für eine relative Verbesserung. Die Arbeitslosigkeit ist z. B. zurückgegangen. Der Konsum ist gestiegen und die Haus- und Grundstückspreise steigen. Aber diese wirtschaftliche Erholung wird nicht von allen Schichten der Bevölkerung gleich empfunden. Bei den offenen Stellen, deren Zahl zugenommen hat, handelt es sich überwiegend um so genannte „flexible Arbeitsplätze“, zusätzlich haben die Menschen erleben müssen, dass ihre Mieten gestiegen sind.
Es gibt seitens der PolitikerInnen und WirtschaftwissenschaftlerInnen keine ernsthaften Analysen über die Art und Weise der wirtschaftlichen Erholung. Von uns wird erwartet, dass wir darüber nicht sprechen, das wäre ein negatives Gerede, weil wir doch positive Gedanken brauchen, um die Erholung in Schwung zu halten. Diese Entspannung wird als Tatsache präsentiert und wir sollten das Kapitel schließen und die Auswirkungen der Austeritätspakete der letzten Jahre vergessen.
In Wahrheit basiert diese “großartige Erholung” auf einige wenige Faktoren und die Regierung des Ministerpräsidenten Mark Rutte hat damit nichts zu tun. Die Niederlande erhöhten ihre Exporte auf 80% des BIP und hatten in den letzten Jahren einen Handelsbilanzüberschuss von ca. 10 Prozent, was dem IWF Sorgen bereitet. Das lag an der niedrigen Bewertung des Euro im Verhältnis zur Produktivität des niederländischen Kapitalismus. Hätten die Niederlande noch eine eigene Währung, wäre der Kurs dieser Währung in den letzten Jahren gestiegen. Man sollte sagen, dass die Niederlande eine kleine wirtschaftliche Entspannung auf dem Rücken der Länder Südeuropas erlebt haben.
In Hinblick auf die Haus- und Grundstückspreise hat es Versuche gegeben, die Immobilienblase anzuheizen. Im historischen Zeitraum vor 2008 bedeutete die Förderung des Hausbesitzes in Verbindung mit steigenden Preisen, dass Menschen aus der Mittelklasse und besserverdienenden Schichten der ArbeiterInnenklasse mit Hilfe einer (bezuschussten) Hypothek vorankommen konnten. Es wurde die Illusionen geschürt, dass jeder „durch harte Arbeit“ vorwärtskommen konnte. Nun versuchen sie mit verschiedenen Maßnahmen die Blase aufs Neue anzuheizen. Eine davon war die steuerfreie Geldschenkung von den Eltern an die Kinder, um Immobilien zu erwerben, mit dem Ziel das Fett der älteren Generation auf die viel magere jüngere Generation zu übertragen. Der Immobilienmarkt ist vor allem jedoch durch schwere Angriffe auf Sozialwohnungen und MieterInnen allgemein stimuliert worden. Menschen, die „zu billig wohnen“, sind durch Maßnahmen angegriffen worden, welche Sozialwohnungen begrenzen und das Preisniveau anheben wollen, während viele Sozialwohnungen verscherbelt und privatisiert wurden. Die Menschen werden gezwungen, Hypotheken aufzunehmen. Das ist die Realität der so genannten Erholung, die auf dem Rücken der arbeitenden Menschen erreicht wurde.
Auf die Dauer wird dieses Modell nicht funktionieren. Während es einerseits Versuche zur Stimulierung des Häusermarkts gibt, gibt es andererseits den besorgniserregenden Trend zur Prekarisierung der Arbeit, durch so genannte „flexible Arbeit“ mit befristeten Arbeitsverträgen, Teilzeit und geringen Arbeitsstunden (sogar Null-Stunden-Verträge). Die Niederlande sind nach Spanien das Land mit dem zweithöchsten Prozentsatz an flexiblen Arbeitsverträgen. Von allen Arbeitsplätzen, die 2016 neu geschaffen wurden, waren 41% flexible Leiharbeitsverträge. Hiervon ausgenommen sind „reguläre“ flexible Arbeitsplätze und die wachsende Zahl von unfreiwillig selbstständigen ArbeitnehmerInnen. Seit 2003 ist die Gesamtzahl der flexiblen und der selbständigen ArbeiterInnen um 65% gestiegen. Immer mehr Menschen haben mehrere Arbeitsplätze gleichzeitig, was früher nach allgemeiner Ansicht „in den USA auf der Tagesordnung stand, aber natürlich nicht hier in den Niederlanden“.
Viele ÖkonomInnen sind darüber besorgt, dass die Prekarisierung in der Zukunft zu Problemen führen wird, da diese ArbeiterInnen in ihren Unternehmen weniger Aus- und Weiterbildung erhalten und nicht in der Lage sein werden, Hypotheken zu bekommen. Hier erleben wir die internen Widersprüche des niederländischen Kapitalismus, der den Rahmen für die gegenwärtige Erholung einengt. Auch das extrem hohe Niveau der Exporte im Verhältnis zum BIP bedeutet, dass das Land gegenüber wirtschaftlichen Erschütterungen auf dem Weltmarkt verletzlich sein wird. Der Brexit und die Wahl von Donald Trump haben in der herrschenden Klasse bereits zur Beunruhigung geführt, ebenso die ungelösten Probleme in Südeuropa.
Die Niederlande waren Gründungsmitglied der EWG. Wie sehen die Massen die EU heute?
In den letzten Jahren hat sich die Meinung über die EU verschlechtert, das geht auf die Einführung der Euro-Währung zurück, die für viele Menschen zu höheren Lebenshaltungskosten geführt hat. Die EU wird als arrogante Institution betrachtet, welche den NiederländerInnen unpopuläre Regeln auferlegt. Andererseits besteht die Ansicht, dass ein EU-Austritt aufgrund der Abhängigkeit des niederländischen Kapitalismus von der EU keine Lösung ist. Die Mehrheit ihrer Exporte geht in andere EU-Länder. Das Brexit-Referendum und dessen Nachwirkung haben deutlich gemacht, dass ein „Nexit“ keine einfache Lösung für die arbeitenden Menschen in den Niederlanden ist.
Die Kritik an der EU kommt heutzutage vor allem von rechten NationalistInnen. Sie verbinden die Enttäuschungen über die EU-Institutionen mit Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, ob es nun die angeblich „faulen“ SüdeuropäerInnen sind, deren Banken gerettet werden (Geld, was meist an die Banken im Norden des Kontinents geht) oder OsteuropäerInnen, welche die Arbeitsplätze wegnehmen. Den Zustrom von Flüchtlingen 2015 hat Wilders‘ ultrarechte PVV (Partei für Freiheit) benutzt, um eine hysterische Angstkampagne zu entfachen, indem sie dazu aufrief, zu Grenzkontrollen zurückzukehren und der EU die Schuld für „offene Grenzen“ gab (wobei die Mauern der Festung Europa komplett ignoriert wurden).
Innerhalb der Linken besteht zu diesem Thema sehr viel Verwirrung. Die liberale Linke lobt die „EU-Werte der Demokratie und des Friedens“ und ignoriert dabei vollkommen die Tatsache, dass die EU ein ausgeweiteter gemeinsamer Markt ist, ein kapitalistisches Projekt im Interesse der Großunternehmen und Banken.
In der Sozialistischen Partei (SP) sehen wir jedoch ein anderes Gesicht der Linken, das den Linksreformismus mit chauvinistischen Elementen verbindet. Die SP will die Freizügigkeit von ArbeitnehmerInnen beenden, um „unsere eigenen ArbeiterInnen zu schützen“, und fordert ein Referendum zur Abschaffung der Europäischen Kommission. Dabei handelt es sich um eine konfuse Forderung, da ein einzelnes Land nicht die Europäische Kommission abschaffen kann und ein Europa ohne Kommission keinen grundlegend anderen Charakter hätte. Statt dieser konfusen Begünstigung des Chauvinismus brauchen wir eine klare sozialistische und internationalistische Alternative.
Meinungsumfragen weisen auf eine gewisse Zersplitterung der politischen Landschaft und eine Erosion der traditionellen Parteien hin. Wie konnte es dazu kommen? Wer sind jetzt die wichtigsten Gruppierungen?
Es hat immer schon viele Parteien gegeben, das wurde durch ein Verhältniswahlrecht ohne Wahlhürden möglich. Jetzt bekommt aber bei den Meinungsumfragen keine Partei mehr als 20% der Stimmen, das ist tatsächlich ein Zeichen für die Zersplitterung und Erosion. Zwei Drittel der niederländischen WählerInnen sind so genannte „WechselwählerInnen“, die sich erst kurz vor der Wahl entscheiden, wem sie ihre Stimme geben.
Die christdemokratische CDA hat in den letzten Jahrzehnten einen langfristigen Niedergang erlebt, verursacht wurde dies durch den Rückgang ihrer traditionellen Basis in der Landwirtschaft und im ländlichen Raum sowie durch die Verstädterung. Die CDA war die traditionelle Partei der Mitte, auf welche die Stabilität des niederländischen Kapitalismus basierte. Diese Partei bildete Koalitionen entweder mit der rechten VVD und den Sozialdemokraten (PvdA). Letztere befinden sich nach Jahren des Verrats und der Unfähigkeit, die Errungenschaften der Vergangenheit zu verteidigen, im freien Fall.
Es gibt noch einige andere wichtige Parteien. Die beiden größten in den Meinungsumfragen sind die rechtsliberale VVD und Geert Wilders rechtspopulistische PVV, die beide bei ca. 15% liegen. Sie werden gefolgt von der CDA und der liberalen D66, beide bei 12%. Dann gibt es die beiden linken Parteien GroenLinks (Grün-Links) und die Sozialistische Partei SP (beide bei ca. 10%). Die PvdA liegt in Umfragen bei miserablen 8%.
Die niederländische Sozialdemokratie, die PvdA, war einst sehr stark und scheint jetzt total zusammengeschrumpft zu sein. Woher kommt das?
Im letzten Wahlkampf 2012 positionierte sich die PvdA taktisch als “vernünftige” und “erfahrene” Alternative zur SP, die damals die Nr. 2 in den Meinungsumfragen war. Mit medialer Unterstptztung und aufgrund einiger Fehler der SP konnte die PvdA die SP überholen. Dies war nur möglich, weil ihr damaliges Wahlprogramm viel linker war als viele Programme in den Vorjahren.
Doch am Tag nach der Wahl vollzog die PvdA einen Kursschwenk um 180 Grad und ging angeblich “im nationalen Interesse” in die Koalition mit dem rechten Rivalen VVD. So bildeten beide Parteien die derzeitige Austeritätsregierung mit zahlreichen Ausgabenkürzungen und einer katastrophalen “Dezentralisierung” der Gesundheitsversorgung, wobei viele Kommunen ohne ausreichende Finanzierung die Aufgaben des Gesundheitswesens übertragen bekamen.
Die PvdA hat inzwischen wieder ein linkeres Programm angenommen und plötzlich versucht, sich von der Politik der VVD abzusetzen. Ihre Botschaft lautet: “Die Kürzungen der letzten Jahre waren nötig, aber jetzt ist die Krise vorüber und daher werden wir unser Programm diesmal auch umsetzen.” Zu diesem Zweck wurde eine Scheinwahl des Spitzenpersonals anberaumt, in deren Folge die Führung von Diederik Samsom an Lodewijk Asscher überging. Beide sind sich übrigens in allen wesentlichen Fragen einig. Andere Kandidaten wurden durch bürokratische Maßnahmen ausgeschlossen. Asscher war stellvertretender Ministerpräsident und wurde jetzt als neuer “frischer Führer” präsentiert. Jeroen Dijsselbloem, international bekannt als Präsident der Eurogruppe, der auf Konfrontationskurs mit der griechischen Syriza-Regierung ging, spricht sich jetzt für einen Kampf gegen Steuerflucht durch multinationale Konzerne aus. Als Finanzminister war er für Steuerdeals zugunsten multinationaler Konzerne verantwortlich. Solche Beispiele zeigen, wie lächerlich die PvdA geworden ist. Fast niemand traut ihr noch. Daher ihr historischer Tiefstand in den Meinungsumfragen.
Dies ist aber nicht nur in den Niederlanden so. In ganz Europa erleben wir diesen Niedergang der Sozialdemokratie: Griechenland (PASOK), Spanien (PSOE), Frankreich (PS). Der Hauptgrund liegt darin, dass sie unter den Bedingungen der kapitalistischen Krise nicht einmal die Errungenschaften der Vergangenheit verteidigen, geschweige denn wirkliche Reformen erreichen. Die Sozialdemokraten sind in der Krise, ganz gleich, ob sie wie in den Niederlanden in einer Koalition regieren oder wie in Frankreich die Regierung führen
Linke und Gewerkschafter in ganz Europa blicken bang auf die Niederlande und fürchten, dass ein Wahlsieg von Wilders und seiner Partei PVV die gesamte europäische Rechte stärkt. Wie steht es um die PVV? Ist sie faschistisch? Ist sie mit der AfD, FN, Vlaams Belang, UKIP, FPÖ und anderen vergleichbar?
Die PVV ist eine äußerst reaktionäre rechtspopulistische Partei mit dem besonderen Merkmal, dass sie eine Ein-Mann-Partei ist, in der Geert Wilders alles entscheidet. Sie will den Koran, islamische Schulen und Moscheen verbieten und die Grenzen für alle Flüchtlinge schließen. Faschistische Elemente kommen zu Wilders` Kundgebungen und sehen sich durch seine Forderung nach “zivilem Widerstand” gegen neue Asylunterkünfte bestärkt. So sind viele Faschisten aus ihren Löchern gekrochen und organisierten sich.
Die PVV selbst ist aber keine faschistische Partei. Sie hat im Gegensatz zum alten Faschismus der Vergangenheit keine organisierte Massenbasis zur Zertrümmerung der Arbeiterbewegung. In diesem Siene ähnelt sie der UKIP, Front National und AfD. Natürlich dürfen wir die PVV nicht unterschätzen. Denn die anderen “respektablen” Parteien übernehmen ihre Rhetorik in einer Light-Version und normalisieren damit den von Geert Wilders vorgegebenen Rassismus und Hass auf Muslime. Dies kam besonders deutlich in einem Offenen Brief von Ministerpräsident Mark Rutte an das niederländische Volk zum Ausdruck. Darin forderte er alle Menschen, “die niederländischen Werte nicht mögen”, auf, sich “normal” zu verhalten oder sonst das Land zu verlassen. Später beteuerte Rutte, er habe damit nicht die Migranten gemeint, aber wir wissen genau, was er damit bezweckt.
Das Original ist immer besser als die Kopie. Darum hat der jahrelange Versuch von PolitikerInnen, Wilders‘ Rhetorik nachzuahmen, nicht zum Verschwinden der PVV geführt, sondern den Rechtspopulismus von Wilders nur weiter radikalisiert. Das zeigt seine Rede gegen Marokkaner ebenso wie seine engen Kontakte zu Vlaams Belang, Front National und Lega Nord.
Es gibt in den Niederlanden seit Jahrzehnten ein Auf und Ab rechter Parteien. Wohin treibt die PVV?
Es gab immer Auf- und Abschwünge für Rechte. Das hat ihre Kritiker zu der Auffassung verleitet, man müsse sie nur ignorieren oder im Parlament isolieren. Seit 2002 ist der Rechtspopulismus im Parlament verankert. Hauptgrund ist die Unzufriedenheit mit der Sozialdemokratie. Wenn diese Parteien mitregieren oder – wie es Wilders 2010 tat – eine Regierung tolerieren, dann geht ihr Rückhalt wieder nach unten. Wenn sie in der Opposition sind und es eine breite Regierungskoalition gibt, dann können sie immer die “Linke” kritisieren und den Mitte-Rechts-Parteien vorwerfen, dass sie nicht hart genug seien. Unter aktuellen Bedingungen können sie wachsen. Ein wichtiger Faktor ist die Frage, ob es eine starke linke Oppositionspartei gibt oder nicht.
Vor wenigen Jahren erlebte die Sozialistische Partei (SP) ein spektakuläres Wachstum. Das scheint abgebremst zu sein. Woher kommt das und warum steht GroenLinks (Grün-Links) in Umfragen besser da?
Die SP wuchs von 2002 bis 2007 stark an. Bei der Wahl 2006 errang sie etwa 17 Prozent der Mandate im Parlament. Ihre Mitgliedschaft wuchs von 27.000 auf 50.000. Die Partei war zum Eintritt in die Regierung bereit, aber die Christdemokraten legten ihr Veto ein. Seither gibt es in der Partei Versuche, das eigene Programm zu verwässern und “reifer” zu werden. Auf kommunaler Ebene hat die SP mehrfach mit bürgerlichen Parteien in Rathäusern koaliert.
In den Wahlen 2012 erlebte die SP ein “Comeback”. Es gab bis dahin eine Rechtsregierung mit Tolerierung durch die Wilders-PVV, die sich dadurch ein Stück weit entlarvte. So konnte sich die SP als linke Alternative zur Kürzungspolitik darstellen, aber die PvdA wurde medial als “vernünftige Alternative” präsentiert.
Seither gibt sich die SP wieder etwas “rebellischer”. Sie hat mit Ron Meyer einen neuen Vorsitzenden, der früher Gewerkschaftssekretär war, und begann eine Kampagne für ein staatliches Gesundheitswesen (statt der gegenwärtigen halbprivaten Einrichtungen). Die Jugendorganisation gibt sich linker und sozialistischer als je zuvor.
Die Partei hat in den Augen vieler abhängig Beschäftigter immer noch das Image (ob gerechtfertigt oder nicht), dass sie eine Partei der Armen, Alten und Kranken ist. Die Partei hat eine chauvinistische Position in der EU-Frage und gegenüber osteuropäischen Wanderarbeitern und Migranten, die sie durch Regulierungen fernhalten will. Sie unterstützt auch Gesetze, die den Geheimdiensten mehr Befugnisse einräumen, und unterstützt die Polizeigewerkschaften. Damit werden kaum Jugendliche aus Migrantenfamilien für die SP gewonnen.
GroenLinks hat mit Jesse Klaver einen neuen Spitzenkandidaten, der viel Rhetorik von nordamerikanischen Liberalen wie Barack Obama oder Justin Trudeau kopiert hat und viele Ex-Wähler der PvdA und Leute aus der intellektuellen Mittelschicht ebenso wie Studierende anzieht. Es ist möglich, dass GroenLinks die SP überrundet und als stärkste linke Fraktion im Parlament sitzt.
Damit gehen die Herausforderungen für Klaver aber erst los. Er will in einer breiten Koalition mitregieren und hofft darauf, dass in den nächsten Jahren einige Reformen möglich sind. Der Druck rechter Koalitionspartner und die Unsicherheiten der Weltwirtschaft könnten diese “Flitterwochen” rasch beenden.
Was sind die wahrscheinlichsten Optionen nach der Wahl?
Es gibt zwei große Optionen. Wenn Ruttes VVD und Wilders‘ PVV viel stärker sind als der Rest, dann wäre eine Koalition unter Einschluss kleinerer rechter und konservativer Parteien möglich, auch wenn Rutte beteuert, er wolle mit der PVV nicht regieren. Schon 2012 hat die VVD im Wahlkampf gegen die PvdA gewettert und hinterher mit ihr eine Regierung gebildet. Als Rechtfertigung lässt sich immer das “nationale Interesse” heranziehen und das Argument, dass man “den Aufschwung nicht gefährden” dürfe. Eine solche Option ist aber nicht die von der herrschenden Klasse bevorzugte Konstellation. Denn es gäbe von Anfang an Proteste antirassistischer Gruppen. Weil es keine “Sozialpartner” gäbe, wären die Gewerkschaften zur Mobilisierung gegen eine Rechtsregierung gezwungen.
Die herrschende Klasse bevorzugt eine breite Koalitionsregierung aus vier oder fünf Parteien, beispielsweise VVD, CDA, D66 and GroenLinks. Eine solche breite Koalition könnte man als “integrativ” darstellen. Allerdings besteht bislang auch eine breite Koalition, die sich auf weitere Parteien stützen muss, weil sie im Senat keine Mehrheit hat. Für Wilders wäre eine solche Koalition das ideale Geschenk, weil er sich dann als “Märtyrer” darstellen würde, den alle “ausgrenzen”. Theoretisch könnte auch die SP als Oppositionspartei gewinnen, aber sie müsste sich endlich als sozialistische und kämpferische Gegenkraft darstellen und nicht als “würdiger” und “respektabler” Koalitionspartner.
Beide Szenarien verheißen Instabilität. In wenigen Monaten wird in Frankreich und dann in Deutschland gewählt. Unabhängig vom konkreten Wahlausgang steht für mich fest: Europe ist in eine Epoche der Instabilität und Unsicherheit eingetreten. Diese Wahlen sind nur ein kleines Glied in einer längeren Kette.
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