Nach dem gewaltsamen Tod eines Fischverkäufers kam es in Marokko zu grossen Protesten. Teils wurde gar die Forderung nach Absetzung des Königs erhoben. Geht die Arabische Revolution damit in die nächste Runde? Wie sind die Proteste in Marokko einzuordnen?
Mohsin Fikri verdiente sein Geld als Fischverkäufer im nordmarokkanischen al-Hoceima. Am 28.10. hatte die Polizei seine Ware konfisziert und in den Container eines Müllfahrzeugs geworfen. Während dem Versuch seine Ware zu retten, wurde das Kompressionssystem aktiviert. Zwei Helfer konnten sich retten, aber Mohsin wurde von der Maschine erfasst und getötet. Darauf gingen zehntausende Menschen auf die Strassen Marokkos und beteiligten sich an Demonstrationen in Städten wie Casablanca, Fès, Rabat. Sie lehnten sich auf gegen die Korruption und Skrupellosigkeit der Polizei.
Auf sozialen Netzwerken wurden Bilder des Verstorbenen veröffentlicht. Diese lösten eine Welle von Empörung und Wut aus. Viele erkennen sich im Schicksal des Fischverkäufers wieder. Während den Demos riefen sie: „Hier fühlt sich jeder von dem Müllwagen zerquetscht“. In der Maschine sehen sie die Unterdrückung des Systems. „Mohsin wurde ermordet, Makhzen ist dafür verantwortlich“, war eine andere Parole. Makhzen ist der Begriff für die königliche Institution des Staates. Die Protestierenden verstehen also, wie eng die örtliche Polizei mit dem Staatsapparat und dem Wirtschaftssystem verbunden ist.
Mohsins Tod scheint unwürdig und zugleich symbolisch für die erschütternden Lebensverhältnisse vieler MarokkanerInnen. An den Demos wurde gerufen: „Wo auch immer du hingehst: Hogra! Kommissariat: Hogra! Krankenhäuser: Hogra!“ Hogra heisst auf arabisch Demütigung oder Erniedrigung. Diese wird durch Schläge, Bespucken und Beschimpfungen erlebt, zugefügt von jemandem, gegen den man sich nicht wehren kann.
Kein Vertrauen in die Regierung
Die Demonstrierenden und AktivistInnen auf sozialen Netzwerken glauben der offiziellen Darstellung nicht, dass es ein Unfalltod oder Selbstmord war. Nun veranlasste der König Mohammed VI eine Untersuchung des Falles. Acht Personen wurden festgenommen. Es wäre nichts Neues, wenn ein paar Polizeibeamte geopfert würden, um zu versuchen, die empörte und wütende Masse zu beruhigen. Doch das ändert nichts an den Problemen der Bevölkerung.
Es geht um mehr: Europäische Investitionen, Ausbeutung durch die Fischindustrie und unwürdige Lebensbedingungen. Der Fischfangvertrag zwischen Marokko und der EU von 2014 gefährdet die Existenz vieler. Wenige MarokkanerInnen können vom Fischfang leben. Ihnen wurde aber das Fischen verboten oder ihre Waren werden konfisziert und zerstört.
Fortsetzung der Arabischen Revolution?
Mohsin Fikris Tod und die ausgelösten Proteste erinnern an den Beginn des Arabischen Frühlings. Doch auch dieser Tod war kein Einzelfall. In Marokko kommt es immer wieder zu ähnlichen Fällen. Oft werden StrassenhändlerInnen systematisch von der Polizei unter Druck gesetzt, enteignet und geschlagen.
Sie alle sind die Opfer eines korrupten Staates. Sie stehen auf der Schattenseite der international gelobten Modernisierungsprozesse im Land, die von der EU in den vergangenen Jahren mitfinanziert wurden. Öffentliche Dienstleistungen wurden an europäische InvestorInnen verkauft. Die Folge war, dass die Preise für Wasser und Strom in die Höhe schossen. Für Selbstständige aus ärmeren Bevölkerungsteilen wird es so immer schwieriger zu überleben.
Was die Menschen erleben, ist ein Gewaltsystem, das ihnen mangelnde Gesundheitsversorgung, schlechte Bildung und fehlende politische Repräsentation anzubieten hat. Erhöhte Sterberaten, starke Verbreitung von Depressionen, Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit, Kriminalität, sexuelle und polizeiliche Gewalt sind Folgen davon. Frauen werden oft auch in die Sexindustrie getrieben. Viele junge Frauen und Männer fliehen nach Europa, in der Hoffnung auf bessere Lebensqualität und eine Lebensperspektive.
Kapitalismus und König führen Marokko nur weiter auf dem eingeschlagenen Weg und haben keine Rezepte für das Land inmitten der globalen Krise. Im Tod von Mohsin Fikri konnten sich viele wiedererkennen. Obwohl die Proteste mittlerweile wieder abgeflaut sind, offenbarten sie wie leicht entflammbar die Situation in Marokko ist.
Wo auch immer du hingehst: Hogra!
Makhzen ist dafür verantwortlich!
Soukina Fries
Basel
Kunst & Kultur — von Sylvain Bertrand, Genf — 14. 10. 2024
Arbeiterbewegung — von Martin Kohler, Bern — 10. 10. 2024
Nah-Ost — von Revolutionäre Kommunistische Internationale (RKI) — 09. 10. 2024