Im folgenden Dokument der International Marxist Tendency (IMT) wird Zwischenbilanz über die Folgen der Krise gezogen und angesichts der Ereignisse in der Türkei, Brasilien und in Ägypten eine Perspektiven für die künftigen Klassenauseinandersetzungen skizziert.
„…,die Strömung, die zusammen mit der Revolution erwächst und fähig ist, ihre eigene Zukunft vorherzusehen, sich klare Ziele setzt und weiss, wie sie sie verwirklichen kann.“ (Leo Trotzki, Über die Politik der KAPD, Rede auf der Sitzung des EKKI, 24. November 1920)
Die dramatischen Ereignisse in der Türkei, in Brasilien und Ägypten sind ein klares Indiz dafür, dass wir uns auf der ganzen Welt in einer völlig neuen Situation befinden. Unsere Aufgabe besteht darin, die diesen Ereignissen zu Grunde liegenden Prozesse zu analysieren. Es darf jetzt keinen Platz für Routinismus geben.
Seit dem Zweiten Weltkrieg gab es sieben Rezessionen, aber die jetzige ist die tiefste Rezession der Geschichte. Die Rate, mit der sich die Wirtschaft erholt, ist bei weitem geringer als bei jedem anderen ökonomischen Einbruch der letzten hundert Jahre. Fünf Jahre nach dem Beginn der Krise schwankt die Wirtschaft nur noch zwischen Stagnation und Rezession.
Die Erholung in den USA ist sehr fragil und langsam, und Europa befindet sich in einer schweren Rezession. Die ehemalige Wachstumslokomotive Deutschland steht am Abgrund der Rezession. Die schwächeren Wirtschaften Südeuropas sind am Tiefpunkt angelangt. Währenddessen sorgt auch das langsamere Wachstum der chinesischen Wirtschaft für Besorgnis und die sogenannten BRICS-Staaten treten ebenfalls in die Krise ein.
Nordamerika, Europa und Japan machen 90% des Privatvermögens aus. Wenn diese Länder nicht konsumieren, kann China nicht produzieren. Und wenn China nicht – oder auch nur weniger – produziert, können Länder wie Brasilien, Argentinien und Australien ihre Rohstoffe nicht verkaufen.
Demnach offenbart sich die Globalisierung als eine globale Krise des Kapitalismus. Die riesigen Schuldenberge drücken die Wirtschaft nach unten und verhindern jede wirkliche Erholung. Indem die Lebensstandards herabgesetzt werden, wird die Nachfrage überall gesenkt und die Krise vertieft sich.
Die Versuche der US Federal Reserve, die Zinssätze niedrig zu halten und Geld in die Wirtschaft zu pumpen („quantitative easing“) haben sich als Mittel zur Steigerung der Produktion als nutzlos herausgestellt. Die Kapitalisten borgen sich Geld zu niedrigen Zinsraten und nutzen es dann aber nur für spekulative Börsengeschäfte. Damit übernehmen sie entweder fremde Firmen oder treiben die Preise ihrer eigenen Aktien in die Höhe, indem sie sie selbst kaufen. Das erklärt, warum an der Börse ein Boom stattfindet, obwohl die US-Wirtschaft nur langsam wächst.
Mit dem „quantitative easing“ wurde alles auf eine Karte gesetzt. Man hoffte, die Inaktivität auf den Märkten würde einem Anstieg der Inflation entgegenwirken. Also wurde mehr Geld in die Wirtschaft gepumpt, um diese wiederzubeleben, wie wenn ein Drogenabhängiger seinem Kreislauf eine weitere Dosis zusetzt, um „high“ zu werden. Doch diese Politik fiel dem sogenannten Ertragsgesetz zum Opfer, welches besagt, dass der Ertrag eines Produktionsprozesses zunächst steigt, wenn ein bestimmter Produktionsfaktor (Kapital oder Arbeit) erhöht wird, ab einem bestimmten Punkt jedoch wieder zu fallen beginnt.
Die Monetaristen wiesen richtigerweise darauf hin, dass das „quantitative easing“ früher oder später in einer explodierenden Inflation enden musste. Das wird wiederum zu einem rapiden Anstieg der Zinsraten und so zu einem noch tieferen Einbruch führen. Doch sobald die US-Notenbank FED ankündigte, das “quantitative easing” zu beenden, brachen die Aktienkurse ein. Das ist ein Beweis sowohl für die Nervosität der Bourgeoisie als auch die extreme Fragilität dieser „wirtschaftlichen Erholung“.
Es gab noch nie eine Krise von vergleichbar globalem Ausmass. Zwar stimmt es, dass es keine „Endkrise“ des Kapitalismus gibt, die zu seinem Zusammenbruch führt. Aber die einfache Feststellung, dass der Kapitalismus sich von Krisen erholen kann, sagt uns noch nichts über die spezifische Phase, die er gerade durchlebt.
Man muss folgende Fragen beantworten: Wie lange wird die Krise anhalten? Wie kann man sie lösen? Und zu welchem Preis? Einige bürgerliche Ökonomen sagen voraus, dass die Lösung der Eurokrise 20 Jahre dauern wird. Zwei Jahrzehnte fallender Lebensstandards würde aber in einem Land nach dem anderen zu einer Explosion des Klassenkampfs führen. Davor hat die herrschende Klasse grosse Angst.
Die herrschende Klasse kann nicht nur keine neuen Reformen zulassen, sie kann nicht einmal die Errungenschaften der Vergangenheit weiter dulden. Sie befolgt damit eine idiotensichere Methode, Klassenkämpfe herbeizuführen. Vor uns liegen also Jahre, vielleicht Jahrzehnte, in denen die Lebensstandards fallen werden. Das wird einen tiefen Effekt auf das Bewusstsein haben.
Von der Türkei bis Brasilien
Der Boom des Kapitalismus half, die in der Gesellschaft zugrunde liegenden Widersprüche zu überdecken, doch aufheben konnte er sie nicht. Die Früchte des wirtschaftlichen Fortschritts wurden nicht gerecht verteilt. Laut der UNO besitzen die reichsten 2% mehr als die Hälfte des weltweiten Reichtums, während die ärmste Hälfte der Weltbevölkerung gerade einmal ein Prozent des globalen Reichtums besitzt.
Eine unüberwindbare Kluft hat sich überall zwischen Reich und Arm aufgetan. Marx schrieb: „Die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol ist also zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradation auf dem Gegenpol, d.h. auf Seite der Klasse, die ihr eignes Produkt als Kapital produziert.“ (Marx, Kapital Bd. I, 23:4)
Vor diesem ökonomischen Hintergrund fanden die sozialen Explosionen in der Türkei und Brasilien statt, durch die sich die Situation plötzlich verändert hat. Beide Länder wurden als Beispiele für Wirtschaftswachstum und politisch-soziale Stabilität gelobt. Dies hat sich nun in sein Gegenteil verwandelt.
Der Kapitalismus befindet sich in einer Sackgasse, und das findet seinen Ausdruck in plötzlichen Bewusstseinssprüngen der Massen. Jähe, scharfe Wendungen sind in der Situation angelegt und wir müssen uns darauf vorbereiten. Überall schwelt unter der Oberfläche die Wut. Dies ist die eigentliche Antriebskraft der Massenbewegungen in Tunesien, Ägypten, Spanien, Griechenland, der Türkei, Bulgarien, Rumänien, Brasilien. In Russland, China und Saudi-Arabien sind ähnliche Entwicklungen in Vorbereitung.
Wir sehen heute die ersten Anfänge der Weltrevolution. Ereignisse in einem Land haben grosse Auswirkungen auf das Bewusstsein in anderen Ländern. Moderne Kommunikationsmittel machen es möglich, dass sich die Nachrichten über solche Ereignisse mit Lichtgeschwindigkeit verbreiten. Die Revolution springt von einem Land auf das nächste über, als spielten die alten Grenzen keine Rolle mehr.
Diese Explosionen waren Reaktionen auf scheinbar zufällige Ereignisse: Der Plan, ein Einkaufszentrum in einem Istanbuler Park zu bauen, die Erhöhung der Buspreise in Sao Paulo. Aber tatsächlich widerspiegeln sie ein und dasselbe Phänomen: Der Zufall ist die Ausdrucksform der Notwendigkeit. Was wir hier sehen, ist die Widerspiegelung von Widersprüchen, die sich jahrzehntelang angestaut haben. Sobald dieser Prozess einen kritischen Punkt erreicht, kann jedes noch so kleine Ereignis die Massen in Bewegung versetzen.
Die bürgerlichen Analysten waren von den Geschehnissen in der Türkei völlig überrascht. Doch innerhalb weniger Tage brach eine ähnliche Massenbewegung in Brasilien, dem ökonomischen Riesen Lateinamerikas, aus. Hunderttausende füllten die Strassen. Es waren die grössten Demonstrationen seit über 20 Jahren. Sie warfen Licht auf die Widersprüche in diesem Land, die sich in der Gestalt einer schlechter Gesundheitsversorgung, eines armseligen Bildungswesen und himmelschreiender Korruption manifestierten.
Was die Bourgeoisie bislang am Leben hält, ist das Fehlen einer adäquaten Organisation und Führung dieser Massenbewegungen. Das zeigt sich am deutlichsten in Ägypten.
Die zweite ägyptische Revolution
Perioden scharfen Klassenkampfes wechseln sich mit Perioden der Müdigkeit, Apathie und sogar der Reaktion ab. Doch all das stellt nur das Vorspiel neuer, und noch explosiverer Entwicklungen dar. Die ägyptische Revolution ist das beste Beispiel dafür.
In Ägypten sind 17 Millionen auf die Strassen gestürmt und haben einen nie da gewesenen Volksaufstand durchgeführt, nachdem monatelang Enttäuschung und Müdigkeit die Stimmung der Massen geprägt hatte. Ohne Partei, ohne Organisation oder Führung schafften sie es in nur ein paar Tagen, die verhasste Mursi-Regierung zu stürzen.
Die westlichen Medien versuchten das als Putsch darzustellen. Doch ein Putsch ist seiner Definition nach der Akt einer kleinen Minderheit, die sich verschworen hat, um hinter dem Rücken der Gesellschaft die Macht zu ergreifen.
Hier waren jedoch die revolutionären Volksmassen auf der Strasse die eigentliche Triebkraft hinter den Ereignissen. In jeder echten Revolution ist die Bewegung der Massen die elementare Triebkraft. Anders als der Anarchismus gehen MarxistInnen aber nicht blauäugig an das Phänomen der Massenspontanität, die ihre Stärken, aber auch ihre Schwächen hat, heran – wir müssen die Grenzen der Spontanität verstehen.
Die Massen in Ägypten hätten Ende Juni die Macht ergreifen können. Tatsächlich hatten sie die Macht in ihren Händen, wussten es jedoch nicht. Diese Situation ähnelt jener im Februar 1917 in Russland. Lenin stellte damals klar, dass der Grund, warum die ArbeiterInnen die Macht zu diesem Zeitpunkt nicht ergriffen, nichts mit den objektiven Bedingungen zu tun hatte, sondern rein dem subjektiven Faktor geschuldet war.
„Warum ergreifen sie die Macht nicht? Steklow sagt: Aus diesem und jenem Grund. Das ist Blödsinn. Die Tatsache ist, dass das Proletariat nicht organisiert und klassenbewusst genug ist. Man muss es zugeben: Die materielle Macht ist in den Händen des Proletariats, aber die Bourgeoisie hat sich als vorbereitet und klassenbewusst herausgestellt. Das ist eine gigantische Tatsache und sie sollte offen und ehrlich zugestanden werden, und man muss den Menschen erklären, dass sie die Macht nicht ergriffen haben, weil sie unorganisiert und nicht zureichend bewusst waren.“ (Lenin, Werke, Bd. 36)
Die ägyptischen ArbeiterInnen und Jugendlichen lernen schnell in der Schule der Revolution. Deshalb war der Juniaufstand weit umfassender, weiteichender, schneller und bewusster als die erste Revolution, die vor zweieinhalb Jahren stattfand. Aber noch immer fehlt ihnen die notwendige Erfahrung und die revolutionäre Theorie, die es der Revolution ermöglichen würde, einen relativ schnellen und schmerzlosen Sieg zu erlangen.
Die Situation ist derart festgefahren, dass derzeit keine Seite den Sieg erlangen kann. Das erlaubt es der Armee, sich über die Gesellschaft zu stellen, und sich als oberster Wächter der Nation zu präsentieren, obwohl sich die wahre Macht in Wirklichkeit auf den Strassen befand. Der Bonapartismus ist eine ernsthafte Gefahr für die ägyptische Revolution. Das Vertrauen, das manche Leute für die Armee bekunden, zeugt von extremer Naivität, doch die raue Schule des Lebens wird diese Naivität aus dem Bewusstsein der Massen vertreiben.
Den offenen Konterrevolutionären der Muslimbruderschaft ist die Macht entrissen worden. Doch wegen der Grenzen des rein spontanen (unorganisierten) Wesens dieses Umsturzes hat es die Revolution nicht an die Macht geschafft. Auf der einen Seite organisieren die islamistischen Reaktionäre einen konterrevolutionären Aufstand, der droht, das Land in den Bürgerkrieg zu stürzen. Auf der anderen Seite arbeiten die bürgerlichen Elemente, Generäle und Imperialisten daran, die Massen des Sieges zu berauben, der mit ihrem Blut erkämpft wurde.
Die Revolution war stark genug, ihr unmittelbares Ziel zu erreichen: Mursi und die Muslimbruderschaft zu stürzen. Doch sie war nicht stark genug, um zu verhindern, dass ihr die Früchte ihres Sieges von den Generälen und der Bourgeoisie gestohlen wurden. Sie wird durch eine weitere, harte Schule gehen müssen, um sich auf das Niveau zu heben, das sie braucht, um den Verlauf der Geschichte zu verändern.
Revolutionen helfen den Leuten, schnell zu lernen. Hätte es in Ägypten vor zwei Jahren so etwas wie die bolschewistische Partei von Lenin und Trotzki gegeben, wäre die ganze Situation eine völlig andere gewesen, selbst wenn sie nur die 8000 Mitglieder gehabt hätte, die die Bolschewiki im Februar 1917 hatte. Aber solch eine Partei gab es nicht. Sie wird unter dem Trommelfeuer der Ereignisse entstehen müssen.
Die Strategen des Kapitals wurden von diesen Vorgängen sehr erschreckt. Von allen zweitrangigen und zufälligen Elementen abgesehen, waren all diese Bewegungen von den gleichen Dingen inspiriert und angetrieben. Was wir hier haben, ist ein internationales Phänomen, die Tendenz hin zu einer weltweiten revolutionären Bewegung. Eine ähnliche Entwicklung sehen wir in ihren Anfängen in Europa.
Die Krise des Euro
Die Krise in Europa ist der deutlichste Ausdruck des kranken Weltkapitalismus. Die Bürgerlichen sind von der Idee beseelt, dass die ArbeiterInnenklasse für die Krise zahlen soll. Das ist die Absicht der Austeritätspolitik, die überall umgesetzt wird. Aber die Bereitschaft der Massen, eine weitere Senkung des Lebensstandards hinzunehmen, hat ihre Grenzen, und an genau diese Grenzen stösst mittlerweile die Austeritätspolitik. In Portugal hat das ständige Drücken des Lebensstandards soziale und politische Spannungen hervorgerufen, die zu einem Generalstreik und Massendemonstrationen geführt haben, was die Regierung in eine Krise gestürzt hat.
Der Euro ist nicht die Ursache für die Krise, aber alle Versuche, den Euro zu retten, haben die Bourgeoisie gezwungen eine harte Austeritätspolitik aufzufahren („interne Abwertung“), was die Wirtschaften wiederum in noch tiefere Rezessionen stürzt. Das Ergebnis sind steigende Arbeitslosigkeit, eine kränkelnde Wirtschaft, rückläufige Steuereinnahmen und wachsende Defizite.
Die EU ist gekennzeichnet durch eine wachsende Kluft zwischen Deutschland und den schwächeren Ökonomien Südeuropas, sowie zwischen Deutschland und Frankreich, das aufgrund seiner Schwäche immer mehr in eine den südeuropäischen Staaten ähnliche Situation abzugleiten droht. Deutschland will die ganze Last auf die schwächeren Mitglieder der Eurozone abwälzen, was die Einheit zwischen den Euro-Ländern stark strapaziert. Es ist nicht auszuschliessen, dass dies letztendlich zu einem Auseinanderbrechen nicht nur der Eurozone, sondern auch der EU führt.
Diese Perspektive versetzt die Bourgeoisie in Angst und Schrecken, nicht nur auf dieser Seite des Atlantik, sondern auch in den USA. Sollte die EU auseinanderbrechen, würde ein Währungskrieg ausbrechen, wobei Währungsabwertungen und Handelskriege den Boden für einen tiefen Wirtschaftseinbruch mit weltweit katastrophalen Folgen bereiten würde.
Viele Ökonomen reden inzwischen offen über die Möglichkeit eines Auseinanderbrechens der EU. Aus Angst vor einem solchen Szenario könnten die KapitalistInnen es vielleicht sogar schaffen eine Form von Zusammenarbeit zu erhalten, aber selbst wenn das der Fall sein sollte, wird nicht viel vom ursprünglichen EU-Projekt übrig bleiben.
Der Klassenkampf wird nun immer schärfer geführt; revolutionäre Explosionen stehen nun auch in Europa auf der Tagesordnung. Das revolutionäre Potential in Europa zeigt sich am deutlichsten in Ländern wie Griechenland, Spanien und Italien. Aber Frankreich steht ihnen nicht um Vieles nach und auch die Jugendunruhen in Grossbritannien sind als ein Hinweis zu sehen, dass Ereignisse dieser Art in der nächsten Periode durchaus auch dort möglich sind.
Die Bourgeoisie sieht sich mit einem ernsthaften Problem konfrontiert: Sie müssen all die Zugeständnisse, die in den vergangenen 50 Jahren gemacht wurden, zurücknehmen. Aber das Kräfteverhältnis der Klassen steht nicht zu ihren Gunsten.
In Ländern wie Griechenland kann man sagen, dass die Revolution bereits in ihre erste Phase eingetreten ist. Der Prozess ist natürlich unregelmässig, entwickelt sich in einigen Ländern mit höherer Geschwindigkeit und Intensität – insbesondere im Süden Europas – und in einem langsameren Tempo in jenen Ländern, die in der letzten Periode quasi Speck anlegen konnten. Aber überall bewegt sich der Prozess in dieselbe Richtung.
Griechenland
In Griechenland entwickeln sich die Verhältnisse Richtung Revolution. Die ArbeiterInnen und die Jugend zeigen immer wieder eine enorme Kampfbereitschaft, aber sie haben kein ausgearbeitetes Programm, mit dem man die Gesellschaft verändern kann. Obwohl es das ist, was sie wollen, können sie es nicht ausdrücken. Mit einer starken marxistischen Strömung stünde Griechenland kurz vor einem Aufstand. Aber unsere kleinen Kräfte sind nicht stark genug, um die notwendige Führung zu stellen.
Es gab eine vorübergehende Ruhephase, nachdem die ArbeiterInnen einen 24-stündigen Generalstreik nach dem anderen durchführten und trotzdem nichts erreichten. Die Stimmung bleibt aber weiterhin revolutionär. Die reformistischen Gewerkschaften und die stalinistische Führung halten die Arbeiterklasse zurück. Aber der Kampf um den staatlichen Rundfunkkanal (ERT) hat gezeigt, dass die Bewegung jederzeit wieder explodieren kann. Keines der Probleme ist bisher gelöst worden.
Die Samaras Regierung ist schwach und in sich gespalten. Samaras handelt rein empirisch: Er stolpert von einer Krise in die nächste ohne irgendeine Idee darüber, wohin er geht. Die Regierung ist zu schwach, um zu tun, was getan werden muss. Sie ist in sich gespalten und wird nicht lange halten. Früher oder später wird die Bourgeoisie den Schierlingsbecher an Tsipras und SYRIZA weiterreichen müssen.
Zweifelsohne liebäugelt ein Teil der herrschenden Klasse mit der Reaktion als Antwort auf diese Krise. Aber sie wissen, dass dies Bürgerkrieg bedeuten würde, welchen sie nicht mit Sicherheit gewinnen würden. Also schicken sie die ArbeiterInnen in die Schule des Reformismus, damit sie dort ihre Lektion lernt. Dies wird eine sehr harte Lektion sein. Eine SYRIZA-Regierung wäre mit einer klaren Entscheidung konfrontiert: Entweder sie brechen mit der Bourgeoisie und verteidigen die Interessen der Arbeiterklasse, oder sie kapitulieren vor dem Druck der Bourgeoisie und führen die von der Troika diktierte Politik durch. Es gibt keinen „dritten Weg“.
Tsipras wurde sehr beliebt, weil er für radikale Politik zu stehen schien – Bruch mit dem Memorandum etc. Aber je näher er an die Macht gelangt, so mehr mässigt er seine Worte. Er achtet darauf, nicht zu viel zu versprechen, um die Bourgeoisie nicht zu verschrecken und um die Erwartungen der Massen niedrig zu halten.
Die Erwartungen werden jedoch dennoch sehr hoch sein. Wenn eine linke Koalitionsregierung, angeführt von SYRIZA, nicht die notwendigen Schritte gegen das Kapital setzt, wird dies eine Welle von bitterer Enttäuschung erzeugen. Das würde den Weg für eine Koalition noch weiter rechts als die jetzige ebnen, möglicherweise mit Neo Demokratia und der Goldenen Morgenröte.
Unter diesen Umständen würde die Goldene Morgenröte auf der Rechten gestärkt, während die KKE auf der linken Seite gewinnen würde. Für eine ganze Periode wird dann eine instabile Regierung der nächsten folgen. Linke Koalitionen werden den Weg bereiten für rechte Koalitionen. Aber keine Kombination parlamentarischer Kräfte wird imstande sein die Krise zu lösen.
Die herrschende Klasse wird sich vorsichtig vorwagen, indem sie graduell reaktionäre Gesetze und Massnahmen einführt, um demokratische Rechte zu unterbinden. Sie wird versuchen in Richtung eines parlamentarischen Bonapartismus zu gehen, bevor sie eine offene Diktatur errichtet.
Aber noch lange bevor die Reaktion siegen kann, wird es eine ganze Reihe von sozialen Explosionen geben, in denen die Machtfrage (seitens der Arbeiterklasse) gestellt werden wird. Unter diesen Umständen kann die revolutionäre Strömung ihre Kräfte schnell aufbauen. Die griechische Sektion trägt eine schwere Verantwortung auf ihren Schultern, und die Griechenland-Frage muss in der Internationalen oberste Priorität haben.
Bewusstsein
Es gibt einen Widerspruch zwischen dem Bewusstseinsgrad der Bewegung und den Aufgaben, die vom Lauf der Geschichte auf die Tagesordnung gesetzt werden. Dieser kann nur durch die Erfahrung der Massen gelöst werden.
Das Bewusstsein tendiert immer dazu, den Ereignissen hinterherzuhinken. Aber das Bewusstsein kann mit einem Ruck aufholen – das ist die wahre Bedeutung einer Revolution. Die Essenz einer Revolution ist eine blitzschnelle Veränderung in der Stimmung der Massen. Explosionen können plötzlich passieren, ohne Warnung, wenn sie am wenigsten erwartet werden. Unter diesem Licht sind auch die Ereignisse in der Türkei und Brasilien zu sehen.
Mit der Vertiefung der Krise verändert sich die Stimmung der Massen. Überall gibt es eine Reaktion auf die Sparpolitik. Das begreift auch ein Teil der Bourgeoisie. Es gibt eine Grenze dafür, was Menschen ertragen können. Diese Grenze wird in einigen Ländern gerade erreicht.
In einer Periode des Aufschwungs, trotz Überarbeitung und steigender Ausbeutung, können viele ArbeiterInnen individuelle Lösungen für ihre Probleme finden, wie zum Beispiel durch Überstunden. Doch dieser Weg ist ihnen nun versperrt. Nur indem sie kämpfen, wird es ihnen möglich sein, die bisherigen Bedingungen zu verteidigen, oder gar Verbesserungen zu erzielen. Die Psychologie der ArbeiterInnen ist im Begriff, sich fundamental zu wandeln. Die derzeit vorherrschende Stimmung ist von Wut und Bitterkeit gekennzeichnet.
Eine Schicht nach der anderen wird in diesen Kampf gesogen. Das traditionelle Proletariat erhält Beistand durch Schichten, die sich in der Vergangenheit als Teil des Mittelstands verstanden haben: LehrerInnen, öffentlich Bedienstete, ÄrztInnen etc.
Allerdings brauchen die ArbeiterInnen nach Jahrzehnten des Klassenfriedens eine „Vorrunde“, um ihre Muskeln in Form bringen zu können, wie ein Athlet, der etwas ausser Übung ist. Die Schule der Massenstreiks und -demonstrationen ist eine Vorbereitung für Auseinandersetzungen, die noch viel ernster geführt werden. Im Allgemeinen kann die Arbeiterklasse nur aus Erfahrung lernen.
Das Andauern der Krise hat zunächst einen Schock unter den ArbeiterInnen ausgelöst, die ein solches Ausmass nicht erwartet hatten. Sie waren traumatisiert und in vielen Fällen unfähig, zu reagieren. Aber das ändert sich jetzt. In einem Land nach dem anderen wählen ArbeiterInnen und Jugend den Weg des Kampfes und durch die dabei gemachten Erfahrungen beginnt sich die Klasse auch als solche zu verstehen.
Mit der Zeit werden all die alten, reformistischen Illusionen aus dem Bewusstsein der ArbeiterInnenklasse verbannt werden, welches sich im Kampf stählt. Früher oder später muss sich das auch in den Massenorganisationen der ArbeiterInnen widerspiegeln.
Die Massenorganisationen
Die Massenorganisationen hinken den Ereignissen weit hinterher. In den 1930er Jahren (und auch in den 1970er Jahren) entstanden relativ schnell zentristische Strömungen in den Arbeiterparteien. Wir sind noch nicht in dieser Phase angelangt. Im Gegenteil, die Wut der Massen spiegelt sich kaum in den Massenorganisationen wider.
Es ist ein Paradox, dass gerade jene Organisationen, die von der ArbeiterInnenklasse aufgebaut wurden, um die Gesellschaft zu verändern, nun zu monströse Hindernissen für die ArbeiterInnenklasse geworden sind. Nach Jahrzehnten des kapitalistischen Aufschwungs hat der Prozess der Degeneration all dieser Organisationen einen neuen Höhepunkt erreicht, dies gilt sowohl für die politischen Parteien (Sozialdemokratie und die ehemaligen „kommunistischen“ Parteien), als auch für die Gewerkschaften.
Die Dialektik der Geschichte hat am Reformismus grausame Rache genommen. Just in dem Moment, wenn das kapitalistische System in der tiefsten Krise seiner Geschichte steckt, klammern sich die reformistischen Führungen noch mehr als zuvor an den „Markt“. Sie werden zusammen mit ihm untergehen. Dies ist ein ausgemachtes Rezept für zukünftige Krisen in all diesen Organisationen.
In Frankreich brach Hollandes Wahlunterstützung nach nur wenigen Monaten auf das niedrigste Niveau seit 1958 ein. In Griechenland wurde die Pasok beinahe ausgelöscht. In Italien hat sich die alte Kommunistische Partei (die PCI) selbst aufgelöst und die PRC befindet in einem rasanten Zerfallsprozess als Strafe für ihren Verrat an den ArbeiterInnen in der Prodi-Koalition. In Spanien gewinnt die PSOE trotz der Unbeliebtheit der PP nicht dazu.
In Grossbritannien zittert die Führung der Labour Party vor der Aussicht, an die Macht zu kommen. Sie kämpft nicht einmal um eine Mehrheit, verspricht keine Reformen etc, weil sie fürchtet, dass das die ArbeiterInnen und Gewerkschaften dazu bringen wird, mehr zu verlangen. In ihren Reden wenden sie sich nicht an die ArbeiterInnen, sondern an die Bosse und Bankiers, um deren Zustimmung zu bekommen. Von einer Politik der Reformen sind sie längst bei der Umsetzung offener Gegenreformen übergegangen.
In den meisten Ländern ist die Linke zusammengebrochen. Die linken ReformistInnen gehen hoffnungslos empirisch vor, ebenso wie die Rechten. Sie repräsentieren lediglich zwei unterschiedliche Arten von Empirismus. Die Linken klammern sich noch an die überholten Rezepte des Keynesianismus, aber keiner von ihnen redet von Sozialismus.
Die ehemaligen StalinistInnen wurden von der Geschichte für ihre vergangenen Verbrechen bestraft. Sie haben eine scharfe Rechtswende durchgemacht, insbesondere nach dem Zusammenbruch der UdSSR, und sind jetzt nicht einmal mehr ein Schatten ihres vergangenen Selbst. Sie sind in ihrer überwältigenden Mehrheit sehr skeptisch gegenüber der Idee des Sozialismus und haben keinerlei Vertrauen in die Arbeiterklasse.
Die alten StalinistInnen waren immerhin eine Karikatur des Originals. Nun sind sie lediglich eine blasse Nachahmung des Reformismus. Dementsprechend haben sie sich in einer Zeit der tiefen, kapitalistischen Krise, in der kommunistische Ideen ein grosses Publikum haben sollten, als unfähig herausgestellt, die radikalsten Schichten unter den ArbeiterInnen und der Jugend zu erreichen. In manchen Ländern sind sie sogar ganz von der Bildfläche verschwunden.
Trotzki sagte, dass der Verrat dem Reformismus schon innewohnt. Wir reden hier nicht notwendigerweise von einem bewussten Verrat, aber Tatsache ist, wenn jemand den Kapitalismus akzeptiert, er auch die Gesetze des Kapitalismus akzeptieren muss. Unter diesen Umständen wird sich eine kritische Stimmung ausbreiten. Ab einem gewissen Punkt werden wir die Entstehung von Diskussionen an der Basis sehen und die Herausbildung eines linken Flügels.
Die ReformistInnen sehnen sich nach einer Rückkehr zur „Normalität“, aber das ist ein utopischer Traum. Den Kapitalismus in einer Epoche seines Niederganges zu verwalten, bedeutet den Zusammenbruch des Lebensstandards zu „verwalten“. Statt der Gegenwart oder die Zukunft reflektiert diese Führung die Vergangenheit. Es gibt keine unhinterfragte Unterstützung für die sozialistische und ex-kommunistische Führung seitens der ArbeiterInnen. Im Gegenteil, es herrscht eine kritische Haltung und sogar offener Zweifel ihnen gegenüber.
Das heisst allerdings nicht, so wie es sich die Sekten vorstellen, dass diese Parteien einfach verschwinden werden. Die ReformistInnen haben tiefe Wurzeln in der Klasse und können sich von Situationen erholen, die ausweglos erscheinen. Wenn die Massen nach einer Alternative suchen, dann schauen sie nicht auf die kleinen linken Organisationen, sondern sie werden die altbekannten, traditionellen Parteien und deren Führung wieder und wieder testen, bevor sie diese schlussendlich für unbrauchbar befinden und nach einem neuen politischen Bezugspunkt suchen.
Die ArbeiterInnen werden eine Partei und Führung nach der anderen testen, in dem verzweifelten Versuch, einen Weg aus der Krise zu finden. Sie werden eine nach der anderen zur Seite schieben. Das Pendel wird in diesem Prozess sowohl nach links und wie auch nach rechts ausschlagen. Im Gegensatz zu den 1930ern und 1970ern ist die Linke in der Sozialdemokratie schwach. Aber so wie sich die Krise verschärft, wird es innerhalb der Massenorganisationen Differenzierungen geben.
Der schnelle Aufstieg von SYRIZA in Griechenland und der Vorstoss Mélenchons und der Front de Gauche in Frankreich sind ein Hinweis auf Prozesse, die sich in der nächsten Periode in grösserem Masstab wiederholen werden. In beiden Fällen sind jedoch die Kräfte für neue linke Bewegungen nicht vom Himmel gefallen, sondern aus Spaltungen existierender Massenorganisationen entstanden (der KKE in Griechenland und der Sozialistische Partei in Frankreich).
Es wird eine ganze Reihe von Krisen, sowohl in den sozialistischen als auch in den kommunistischen Parteien geben, wodurch günstige Bedingungen für das Wachstum einer marxistischen Massenströmung entstehen werden.
Die Gewerkschaften
Trotzki sagte einmal, dass die Gewerkschaftsführung die konservativste Kraft in der Gesellschaft ist. Das trifft heute mehr zu als je zuvor. Dennoch können die ArbeiterInnen nirgends sonst hingehen. Eine Massenbewegung kann spontan von unten entstehen, ohne Führung von oben. Die ArbeiterInnen werden dann alle möglichen spontanen Basiskomitees und Kampagnen improvisieren.
Die AnarchistInnen und Sekten sehen diese Bewegungen als Alternative zu den Gewerkschaften. Aber die ArbeiterInnenklasse kann nicht auf die Gewerkschaften verzichten; diese werden später hinzustossen. Spontane ad-hoc Organisationen spielen eine Rolle, aber es gibt keinen Ersatz für geduldige, revolutionäre Arbeit, um die Gewerkschaften zu transformieren.
Die meisten GewerkschaftsführerInnen leben in der Vergangenheit und sind völlig unvorbereitet für die Periode, in die wir eingetreten sind. Gerade wenn das kapitalistische System überall wankt, klammern sie sich verzweifelt an den „Markt“ und versuchen ihn um jeden Preis zu retten – zu Lasten der ArbeiterInnen.
Aber die Massenorganisationen befinden sich nicht in einem Vakuum. Dies gilt insbesondere für die Gewerkschaften. Es wird einen Selektionsprozess geben, im Zuge dessen die hoffnungslosen, demoralisierten Elemente beiseite geschoben und durch jüngere, entschlossenere Leute ersetzt werden, die bereit sind, ihren Job zu riskieren, um sich den Bossen entgegen zu stellen und für die Rechte der ArbeiterInnen einzutreten.
Unter dem Druck der Basis wird sich die Gewerkschaftsführung entweder an die Spitze des Kampfes stellen, oder sie wird verdrängt und durch Leute ersetzt werden, die einen besseren Draht zu den Mitgliedern haben. Die Gewerkschaften werden im Zuge des Kampfes wieder und wieder transformiert werden.
Es wäre falsch, sich einzubilden, dass der Reformismus komplett diskreditiert wäre. Die Massen würden sich nach Reformen sehnen, aber unter den gegebenen Bedingungen müssen selbst die kleinsten Reformen erkämpft werden. Unsere Kritik an den ReformistInnen ist nicht jene, dass sie für Reformen stehen, sondern dass sie nicht für Reformen kämpfen und Gegenreformen akzeptieren und dass sie dem Druck des Grosskapitals nachgeben.
In Richtung einer Europäischen Revolution
Vor drei Jahren sprach die Financial Times von „schwierigen und gefährlichen Zeiten“. Diese Worte haben sich als nur zu wahr herausgestellt. Die herrschende Klasse hat schreckliche Angst vor den sozialen und politischen Folgen der Krise und den Massnahmen, die sie ergreifen wird müssen. Was die Situation bis jetzt gerettet hat, ist, dass die reformistische Arbeiterführung als loyale und verlässlichste Dienerin des Kapitals gehandelt hat.
Die Klassen werden für einen entscheidenden Show-Down formiert. Über die nächsten fünf oder zehn Jahre werden wir die härtesten Klassenauseinandersetzungen seit den 1930ern erleben. Es gibt viele Parallelen zwischen der jetzigen Situation und den 1930er Jahren. Aber es gibt auch wichtige Unterschiede.
Der wichtigste Unterschied ist ein radikaler Wandel im Kräfteverhältnis der Klassen. Die Arbeiterklasse ist nun eine entscheidende Mehrheit in allen entwickelten kapitalistischen Ländern und spielt eine zentrale Rolle in Ländern wie der Türkei, Brasilien, Ägypten und Indonesien. Vor dem Zweiten Weltkrieg hatte die europäische Bourgeoisie wichtige soziale Reserven in Form der Bauernschaft. Das erklärt zum Teil, warum sie in Italien, Deutschland und Spanien so schnell Richtung Faschismus gehen konnte.
Heutzutage ist eine schnelle Lösung aufgrund des veränderten Kräfteverhältnisses auszuschliessen. Die momentane Situation kann sich mit Auf- und Abschwüngen über Jahre ziehen. Die Bewegung wird eine Reihe von Wellen erleben, so wie einst in Spanien, wo die Revolution in Wirklichkeit bereits 1930 begann, also sogar vor dem Fall der Monarchie 1931.
In einer revolutionären Periode wie der jetzigen sind alle Ruhephasen und Rückschläge lediglich der Auftakt für erneute Explosionen, welche alle vergangenen Bewegungen in den Schatten stellen werden. Die spanische Revolution durchlebte eine Reihe von Phasen, bevor sie letztendlich im Mai 1937 in Barcelona niedergeschlagen wurde.
In diesen sieben Jahren gab es Perioden grossartiger revolutionärer Vorstösse, wie die Ausrufung der Republik 1931, aber auch Perioden, die von Verzweiflung und Enttäuschung geprägt waren. Es gab schreckliche Niederlagen, wie die Niederschlagung der Asturischen Kommune 1934, und sogar schwarze Reaktion, wie in den Bienio Negro (zwei Schwarzen Jahren) von 1933 bis 1935.
Im heutigen Europa sehen wir überall einen ähnlichen Prozess, der in schnellerem oder langsamerem Tempo fortschreitet, mit grösserer oder schwächerer Intensität. Griechenland ist das schwächste Glied in der Kette des europäischen Kapitalismus, aber es gibt viele schwache Glieder. Der Prozess in Griechenland ist weiter fortgeschritten als überall sonst, aber es zeigt lediglich in besonders scharfer Form, was in anderen europäischen Ländern noch passieren wird.
Der Mai 1968 in Frankreich war der grösste revolutionäre Generalstreik in der Geschichte. Aber in gewisser Hinsicht war nach Jahrzehnten des Wohlstands das Bewusstsein der Jugend von einer gewissen Naivität gezeichnet. Unter den weitaus ernsteren Bedingungen heute wird dieses Wesensmerkmal aus dem Bewusstsein der Jugend recht schnell verdrängt werden. Diese Generation wird weitaus härter sein als vorherige Generationen und die Kämpfe werden ebenfalls härter und brutaler sein.
Strategie und Taktik
Strategie und Taktik sind nicht dasselbe. Es ist notwendig ein allgemeines Verständnis der Vorgänge zu haben, aber die konkrete und praktische Anwendung kann sich von Moment zu Moment unterscheiden, und Taktik kann in bestimmten Phasen sogar in einem widersprüchlichen Verhältnis zur Strategie stehen.
Wir wissen, dass sich eine starke Polarisierung der Gesellschaft ab einem bestimmten Punkt in Differenzierungen innerhalb der Massenorganisationen, angefangen bei den Gewerkschaften, reflektieren wird.
Soziale Explosionen sind unvermeidlich. Aber ohne revolutionäre Führung wird dies nicht ausreichen. Die Bewegung der Platzbesetzungen in Spanien nahm beispielsweise sehr grosse Proportionen an, führte aber zu nichts und löste sich schliesslich auf. Die Kräfte des Marxismus sind zu klein, um den Ausgang einer solchen Massenbewegung zu bestimmen. In den meisten Ländern müssen sie sich mit Propagandatätigkeit beschränken. Aber wir müssen uns auf grosse Ereignisse vorbereiten.
Wir müssen in jeder Phase intelligente und angemessene Übergangsforderungen aufstellen. Aber das alleine reicht nicht unter den gegebenen Bedingungen. Während wir in jeden Kampf (Streiks, Generalstreiks, Massendemonstrationen etc.) aktiv intervenieren sollen, müssen wir gleichzeitig auch geduldig erklären, dass nur ein radikaler Bruch mit dem Kapitalismus das Problem lösen kann.
Eine verstaatlichte, geplante Wirtschaft könnte die Arbeitslosigkeit beseitigen, indem sofort der 6-Stunden-Tag bei einer 4-TagesWoche bei vollem Lohnausgleich eingeführt werden würde. In unserer Propaganda müssen wir den massiven Verlust von Produktion durch Millionen von Arbeitslosen betonen, die Auswirkungen auf die Jugend, die Frauen etc.
Zugleich müssen wir das enorme produktive Potential neuer Technologien erklären: Information, Computer, Just-in-time Produktion, Roboter etc. Wenn diese rational eingesetzt werden würden, könnte man die menschlichen Bedürfnisse mit weniger und nicht mehr Arbeitsstunden für die Menschen decken.
Wir müssen die revolutionärsten Elemente finden und sie in den Ideen des Marxismus schulen. In einer revolutionären Situation kann eine kleine Gruppe mit den richtigen Ideen schnell wachsen – Qualität kann zu Quantität, und Quantität zu Qualität werden. Unsere Aufgabe ist daher, die Kräfte des Marxismus mit einem Sinn für Dringlichkeit aufzubauen. In der jetzigen Phase wird insbesondere die Jugend radikalisiert und ist offen für revolutionäre Ideen, doch sie sind momentan nicht in den reformistischen Massenorganisationen zu finden.
Der Widerspruch zwischen dem Bewusstseinsgrad der Massen und den Aufgaben, die die Geschichte uns stellt, kann nur durch die Erfahrung grosser und explosiver Ereignisse gelöst werden. Diese sind in der Situation angelegt. Es wird scharfe Wendungen und plötzliche Veränderungen, vor allem im Bewusstsein, geben.
In der Vergangenheit wurde revolutionären Ideen mit Skepsis begegnet. Nun suchen die Menschen nach Ideen. In Griechenland sagen 63% der Menschen, dass sie eine fundamentale Veränderung der Gesellschaft wollen, und weitere 23% wollen eine Revolution. Das sind aussergewöhnliche Zahlen: Sie sagen im Grunde, dass 86% ihre Rettung in einer Revolution sehen.
Wir müssen inspiriert sein von der Vorstellung, dass wir am Beginn einer grundlegenden Umwälzung der objektiven Situation stehen, und uns mit einer gewissen Dringlichkeit dem Aufbau einer revolutionären Organisation widmen. Jeglicher Routinismus muss überwunden werden. Vor allem müssen wir der Theorie und der politischen Bildung besondere Aufmerksamkeit widmen, denn ohne diese, sind wir nichts.
Es gibt grosse Möglichkeiten. Vor allem gibt es neue Schichten der Jugend, die aktiv werden und nach Ideen des Marxismus suchen, nicht morgen oder übermorgen, sondern hier und jetzt. Wir müssen sie finden, mit ihnen in einen Dialog treten und sie für die Ideen des Marxismus gewinnen.
London, 11. Juli 2013
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