Der Bundesrat der Kapitalisten hat die Zertifikatspflicht ausgeweitet. Hinter dem Schein von konsequenter Gesundheitspolitik versteckt sich dasselbe wie immer: Politik im Interesse der Kapitalisten auf Kosten der Massen. Endlich konsequenter Kampf gegen die Pandemie heisst Kampf der Arbeiterklasse gegen die Bourgeoisie.
Wir stecken mittlerweile in der vierten Welle der Corona-Pandemie. Intensivstationen und Personal in den Spitälern sind wieder am Anschlag. Die Fälle an den Schulen schnellen in die Höhe. Knapp die Hälfte der Bevölkerung ist der Delta-Variante ungeimpft ausgeliefert. Vor diesem Hintergrund beschloss der Bundesrat am Mittwoch die Ausweitung der Covid-Zertifikatpflicht. In Restaurants, Kinos usw. kann man nur noch mit dem Zertifikat, also wenn man genesen, geimpft oder gerade eben getestet wurde.
Der Bundesrat präsentiert sich als harter Kämpfer gegen die Pandemie. Klammheimlich bricht er hintendurch eigentlich alle Massnahmen gegen die Pandemie ab. Das Covid-Zertifikat ist nur ein Feigenblatt. Der Bundesrat macht dasselbe wie seit Beginn der Pandemie: Er opfert die Gesundheit der Massen den Profiten der Kapitalisten.
Eine Antwort auf die neuen Massnahmen kam nur von weit rechts. Die reaktionäre kleinbürgerliche Organisation «Massvoll» organisierte spontan eine Gegendemo in Bern. Unter dem Deckmantel von «Liberté» usw. fordern sie – die Freiheit des Virus, uns alle anzustecken. Die SVP schlägt in dieselbe Kerbe.
Niemand zeigt einen wirklichen Ausweg. Wir haben die Wahl zwischen Pech und Schwefel. Keine Bourgeoisfraktion will und kann die Pandemie bekämpfen. Das ist der Nährboden für Verwirrung und Spaltung. Wir brauchen endlich einen konsequenten Kampf gegen die Pandemie. Nur die Arbeiterklasse, mit ihren eigenen Kräften und vereint, kann diesen Weg gehen. Kampf gegen Verwirrung, Spaltung und Pandemie heisst Kampf der Arbeiterklasse gegen die Bourgeoisie und ihr System!
Feigenblatt
Die Impfung ist notwendig. Der indirekte Impfzwang mit der Ausweitung des Covidzertifikats wird einige zum Impfen bringen. Aber die Prognose sieht düster aus. Erst um Weihnachten sollen Anteile wie in Spanien usw. erreicht sein – was nicht unbedingt hinreichend ist. In der Zwischenzeit mutiert das Virus weiter und zirkuliert global. Es braucht eine breiteste Informationskampagne in allen Betrieben, Quartieren usw. Alle nötigen Ressourcen müssen reingesteckt werden. Zwang ist der falsche Weg. Die Impfkampagne des Bundesrats ist eine Farce.
Parallel zur Impfkampagne wäre eine nicht minder konsequente Test- und Contact Tracing-Kampagne nötig. Das ist der einzige Weg zur wirklichen Bekämpfung der Pandemie. Was macht der Bundesrat? Er kürzte schon vor einem Monat die Ausgaben für die Testkampagne und macht die Tests kostenpflichtig. Er würgt die Testkampagne ab. Das Contact Tracing hat er längst aufgegeben.
Die Verantwortung für die Gesundheit an den Schulen schiebt der Bundesrat an die Kantone ab. In vielen Schulen wird gar nicht mehr getestet. Oft gibt es keine Klassenquarantäne mehr. Der Kampf gegen die Ausbreitung des Virus wurde hier faktisch aufgegeben. Einige sprechen nicht grundlos von einer «Durchseuchung der Kinder». Langfristige gesundheitliche Schäden durch das Virus bleiben unklar. Sie werden in Kauf genommen.
Das Zertifikat ist maximal ein Feigenblatt. Dahinter werden Massnahmen abgebaut. Der Bundesrat führt keinen richtigen Kampf gegen die Pandemie. Die Regierung der Bosse pfeift auf die Gesundheit der Massen!
Profite vor Gesundheit
Nach der wirtschaftlichen Coronakrise gibt es jetzt eine oberflächliche Erholung. Die Kapitalisten tun alles, um diese nicht auszubremsen. Sie wollen unter keinen Umständen wieder Schliessungen von Teilen der Wirtschaft und Kompensationen für die Arbeiter. Das Regime der Kurzarbeit wird nun ab Oktober abgebaut.
Die Ausweitung des Zertifikats soll Massnahmen wie Lockdowns – und entsprechender Stop der Profitmacherei – ersetzen. Die Gesundheit wird auf dem Altar der Profite geopfert. Das ist im Wesentlichen dieselbe Politik wie seit eineinhalb Jahren und seit vier Wellen.
Die Opposition der SVP und von Kapitalistenverbänden wie Gastrosuisse gegen den Impfzwang ihrer Klassenbrüder ist oberflächlich. Sie verfolgen dasselbe Programm: der Rubel muss rollen, die Gesundheit ist egal. Nur ihre Umsetzung ist anders. Sie wollen einfach gar keine Massnahmen gegen die Pandemie. Die einen versuchen zu vertuschen, dass sie keinen Kampf gegen die Pandemie führen; die anderen setzen offen auf die Durchseuchung.
Wir lassen die kapitalistische Handelszeitung kurz ihre Position selber darlegen. Die «natürliche Immunität nach (!) Genesung» sei die «wichtigste Ressource im Kampf gegen Infektionskrankheiten … Somit ist es jetzt nicht Zeit für einen indirekten oder gar direkten Impfzwang, sondern für die freudige (!) Vorbereitung des Ausstiegs aus dem Corona-Modus». Sie scheinen zu vergessen, dass man zuerst krank sein muss, bevor man genesen ist. Sie scheinen zu übersehen, dass ihnen, den Kapitalisten in ihren abgeschirmten Luxusvillen und Privatspitälern, es vielleicht Freude bereitet, mitten in einer Corona-Welle «aus dem Corona-Modus» auszusteigen. Für uns Arbeiter und Jugendliche bedeutet es das Gegenteil von Freude, nämlich Unsicherheit, Krankheit und Tod.
Versteckte Angriffe
Die Einhaltung der Zertifikatspflicht wird von der Polizei kontrolliert und sanktioniert werden. Von Polizisten, von denen immerhin ein geschätzter Drittel ungeimpft ist. Diese unterstehen selbst nicht der Zertifikatspflicht. Man brauche eben das ganze Personal für den Kampf gegen das Virus, so der Präsident der Konferenz der Kantonalen Polizeidirektoren sinngemäss. Nicht unwahrscheinlich, dass bei der Zertifikatskontrolle eines Restaurants die grösste Gefahr vom Kontrolleur selbst, vom ungeimpften Polizisten, ausgeht. Es geht nicht um den Kampf gegen die Pandemie. Unter dessen Deckmantel sollen die Rechte des Repressionsapparats ausgeweitet werden.
Die neuen Massnahmen erlauben den Patrons in den Betrieben die Einsetzung der Zertifikatspflicht. Das ist einerseits ein Freipass für die Kapitalisten, die Arbeiter im Betrieb entlang der Impffrage zu spalten und die Arbeitsbedingungen von Ungeimpften anzugreifen. Es ist andererseits ein Mittel für die Bosse, um Testmassnahmen usw. im Betrieb abzubauen und die Belegschaft noch weniger zu schützen.
Das staatliche Zertifikat gilt für Kunden in der Kulturbranche, nicht aber für Arbeiter selbst. Das ist natürlich völlig inkonsequent, aber kein Zufall. Um die wirkliche Bekämpfung der Pandemie geht es nicht. Die Willkür der Patrons wird ausgeweitet – darum geht es! In diesem Sinn ist die Zertifikatspflicht kohärent. Wenn die Patrons gerade Entlassungen und Angriffe nötig haben, dann haben sie nun mit der betrieblichen Zertifikatspflicht legal ein Mittel zur Verfügung, um das zu tun. Wenn sie aber gerade alle Arbeiter brauchen – ob nun geimpft, getestet, genesen oder eben auch krank – dann müssen sie es nicht einsetzen.
Hammerschläge
Mehr als eineinhalb Jahre Pandemie haben Narben im Bewusstsein der Massen hinterlassen. Arbeits- und Lebensbedingungen von bedeutenden Teilen der Arbeiterklasse wurden angegriffen. Teile des Kleinbürgertums kamen hart unter die Räder. Viele erlebten tragische Schicksalsschläge. Die Jugend und gewisse Teile der Arbeiterklasse wie die Pflege haben besonders gelitten. Breiteste Teile der Massen sind erschöpft von mittlerweile vier (unnötigen!) Pandemiewellen.
Das sind Hammerschläge aufs Bewusstsein der Massen. Wut, Müdigkeit, Depression und Verwirrung haben sich angestaut und vermischen sich. Das Vertrauen in die ehemals granitfeste Schweizer Regierung ist im Vergleich zum vor-Corona-Niveau zusammengebrochen.
Keine linke Massenorganisation zeigt einen wirklichen, rationellen, konsequenten Ausweg aus der Pandemie auf. Unmut und Müdigkeit suchen sich darum verwirrte, teils irrationale Ventile. Die Mehrheit der Arbeiterklasse und Jugend setzen alle Hoffnungen in die Impfung. Ressentiments gegen die Ungeimpften können sich in diesen Teilen entfalten. Andere Teile wünschen sich die Pandemie einfach weg. Verwirrtes – aber berechtigtes! – Ressentiment von Arbeitern und Jugendlichen mit dem Establishment drückt sich in Form von Impfskepsis aus.
Diese Polarisierung des Bewusstseins in entgegengesetzte Richtungen ist der Nährboden für die Spaltungs- und Sündenbockpolitik der Bourgeoisie.
Teile und herrsche
Was wir am 9. August schrieben, gilt weiterhin: «Mit ungleichem Vorzeichen betreiben sie (verschiedene Fraktionen der Bürgerlichen) alle dieselbe Sündenbockpolitik. Sie spalten die Arbeiterklasse entlang der Impffrage, spielen verschiedene Teile der Klasse gegeneinander aus und machen sie gegenseitig zum Sündenbock. Die einen (Bundesrat, FDP usw.) stützen sich auf die berechtigte Hoffnung auf ein endliches Ende der Pandemie. Sie spielen die ‘Verantwortungsvollen’ gegen die ‘Dummen’, die ‘Egoisten’ aus. Teile der SVP stützen sich auf die verbreitete Skepsis mit der Impfung und spielt diesen Teil gegen die ‘unterdrückerische’ Mehrheit der Arbeiterklasse aus.»
Die Massen der Ungeimpften sind nicht verantwortlich für das Anhalten der Pandemie. Sondern die Bourgeoisie, ihre Regierung, ihr System sind Schuld an der tiefen Impfquote und -bereitschaft. Teile der Ungeimpften sind nicht oder falsch informiert. Das ist direktes Produkt der erbärmlichen Informationskampagne der Regierung der Kapitalisten. Prekär Beschäftigte haben Angst vor Jobverlust, weil sie weder fürs Impfen noch zum Auskurieren allfälliger Nebenwirkungen frei bekommen. Das ist direkte Folge von kapitalistischer Arbeit. Verwirrter Unmut gegen das Establishment, der sich in Impfskepsis und Wissenschaftsfeindlichkeit ausdrückt, ist Produkt der Politik der Bourgeoisie, mit ihrer inkohärenten, offen widersprüchlichen Coronapolitik als Punkt auf dem I.
Fassen wir zusammen: 1) Die Ausweitung der Zertifikatspflicht ist das neue Feigenblatt des Bundesrats, um die Pandemie nicht zu bekämpfen. 2) Er nutzt sie, um die Arbeiterklasse zu spalten und dieselbe «Profite vor Gesundheit»-Politik wie seit Anbeginn der Pandemie durchzubringen. 3) Sie ist ein Mittel, um die staatliche Repression hochzufahren und um die Willkür der Kapitalisten im Betrieb zu verschärfen. Die Schlussfolgerung ist klar: Gegen die Zertifikatspflicht und für einen konsequenten Kampf gegen die Pandemie im Interesse der Lohnabhängigen und durch diese selber!
Arbeiterorganisationen
Im Kapitalismus bestimmt der kurzfristige Profit, nicht die Bedürfnisse der Massen. Im Kapitalismus verwalten bürgerliche Nationalstaaten die allgemeinen Profitinteressen der Bourgeoisie. Eine globale koordinierte Impfkampagne im Interesse der erdrückenden Mehrheit der arbeitenden Menschheit hätte die Pandemie bereits beenden können. Doch das steht im Widerspruch zur Aufspaltung der Welt in antagonistische Nationalstaaten mit egoistischem Eigeninteresse.
In der Schweiz war die SP die wichtigste Stütze des Pandemiepolitik der Bourgeoisie (siehe «Die nationale Einheit und die SP»). Ihre Führung fügt sich ein weiteres Mal der bürgerlichen Politik und unterstützt die reaktionäre Ausweitung des Zertifikats. Korrekt heisst es, es müsse mehr gemacht werden. Nur um die Hoffnungen wiederum in den Bundesrat der Kapitalisten zu setzen und an die «Eigenverantwortung» zu appellieren.
Ähnlich der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB). Er weist im Ansatz richtig auf Gefahren der Zertifikatspflicht unter der Kontrolle der Bosse hin. Aber seine Gegenwehr gegen den Freifahrtschein für Willkür der Bosse ist völlig zahnlos. Die Regierung soll klare Regeln für die Betriebe aufstellen. Als ob der Bundesrat der Kapitalisten ein Gesundheitsregime im Betrieb in unserem Sinn regeln könnte und wollte. Die Arbeitsinspektorate sollen kontrollieren, dass das Zertifikat von den Bossen nicht ausgenutzt wird, so der SGB weiter. Das sind aber bürokratische, machtlose Organe. Ihre Forderungen ändern nichts an der völligen Willkür der Bosse.
Es ist die Aufgabe der Führungen der Arbeiterorganisationen, einerseits den Klassencharakter der neuen Massnahmen aufzuzeigen und andererseits einen tatsächlichen Ausweg im Sinn der Arbeiterklasse aufzuzeigen. Aber die Spitzen der Arbeiterorganisationen ordnen sich im Wesentlichen der kapitalistischen Politik des Bundesrats unter. Die einzige «Opposition» kommt von rechts (SVP, «Massvoll»). So sind Arbeiterklasse und Jugend konfrontiert mit Pech und Schwefel: mit zwei bürgerlichen Krisenstrategien, die beide die Krise auf die Arbeiterklasse und Jugend abwälzen. Die reformistischen Spitzen der Arbeiterorganisationen sind mitverantwortlich, wenn sich Arbeiter zur SVP verirren oder sich vereinzelte Elemente aus der Arbeiterklasse sogar an die reaktionären Demos von «Massvoll» anschliessen.
Klassenkampf
Keine Kapitalfraktion und auch nicht der Bundesrat der Kapitalisten haben einen Ausweg aus der Pandemie. Im Gegenteil, der Ausweg aus der Pandemie bedeutet Klassenkampf gegen die ganze Bourgeoisie und ihre Regierung. Die Arbeiterklasse kann nur auf ihre eigenen Kräfte setzen. Sie hat – als erdrückende Mehrheit und Produzentin jeglichen Reichtums – die Macht dazu. Und sie hat, im Gegensatz zu den Kapitalisten, ein Interesse daran, weil nicht der Profit, sondern das Bedürfnis nach Gesundheit ihr organisches Motiv als Klasse ist. Sie muss das Zepter übernehmen, im Betrieb und öffentlichen Leben.
Die Pandemie endlich beenden heisst Kampf der Arbeiterklasse gegen die Kapitalisten und ihre Regierung, gegen die Bürgerlichen und ihr ganzes System. Der Kampf für eine global koordinierte Antwort im Interesse der erdrückenden Mehrheit der Weltbevölkerung ist der Kampf für eine globale Planwirtschaft, das heisst für eine sozialistische Revolution.
Für die Redaktion
Jannick Hayoz
Bild: © Bwag/CC-BY-SA-4.0.
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