“Kulturkampf” ist der Versuch der Bourgeoisie, die Arbeiterklasse zu spalten und von den sozialen und politischen Fragen abzulenken. Nur der Klassenkampf kann diese Spaltungen überwinden und Unterdrückung tatsächlich bekämpfen.
Glaubt man bürgerlichen JournalistInnen und PolitikerInnen, dann wütet auf der Welt ein sogenannter «Kulturkampf»: eine Polarisierung der Gesellschaft zwischen Menschen mit “woken” kulturellen und moralischen Ansichten einerseits und Menschen mit konservativen Ideen zu Fragen von Abtreibung, Sexualität usw. andererseits. An der Spitze der einen Seite stehen offen rassistische und sexistische Bürgerliche. Sie sehen die “traditionelle Kultur” angegriffen durch “linke wokeness” und “cancel culture”. Die andere Seite wird angeführt von “progressiven” Liberalen.
In den USA zum Beispiel geben sich auf der einen Seite die Demokraten (die liberale Fraktion der Bourgeoisie) ein progressives Gewand, indem sie da und dort symbolische Dinge umsetzen: Sie verbieten rassistische Flaggen in öffentlichen Gebäuden, Biden setzte ein “diverses” Kabinett zusammen. Das dient auf der anderen Seite der konservativen Fraktion der US-Bourgeoisie als Anlass, um scheinbar Lebensstil und Kultur des “weissen alten Mannes” vor dem “woken”, “linken” Angriff durch Biden und Co. zu verteidigen. Doch kein Flügel der Bourgeoisie hat den unterdrückten und ausgebeuteten Menschen etwas zu bieten.
Als MarxistInnen kämpfen wir gegen jede Form von Unterdrückung – angefangen mit den scheusslichen Angriffen auf Abtreibungsrechte, Transmenschen u.v.a. durch den offen reaktionären Flügel der Bourgeoisie. Aber auch die Identitäts- und Symbolpolitik der Liberalen bringt uns keinen Schritt vorwärts. Das ist nur die Kehrseite der Politik von Trump und Co. Beide Seiten sind Ausdruck desselben: Dem Niedergang des kapitalistischen Systems und der Sackgasse der herrschenden Klasse.
Der Kapitalismus ist in der tiefsten Krise seiner Geschichte. Wir sehen eine immer grösser werdende Wut und ein Misstrauen gegenüber den Herrschenden und das ganze Establishment. Das sogenannte politische Zentrum und der Liberalismus stecken in einer historischen Krise. Für die Bourgeoisie wird es immer schwieriger zu herrschen.
Ein Teil der Bourgeoisie versucht deshalb, die Wut und das Misstrauen gegenüber dem Establishment demagogisch auszunutzen. Figuren wie Trump, Bolsonaro oder Boris Johnson stechen ins Vakuum der politischen Krise und inszenieren sich als Kämpfer gegen das verhasste Establishment. Sie setzen auf die grässlichsten Vorurteile in der kapitalistischen Gesellschaft: auf Rassismus, Sexismus, Trans- und Homophobie usw.
Diese Sündenbock-Politik trifft in der Krise – in Abwesenheit einer sozialistischen Alternative – auf fruchtbaren Boden im Kleinbürgertum und in rückständigeren Teilen der Arbeiterklasse. Sie versucht, sich in den rückständigen Schichten der Gesellschaft eine soziale Basis zu erhalten. Die allgemeine Welle von Angriffen auf das Abtreibungsrecht (USA, Polen, Schweiz) ist das beste Beispiel dafür.
Die Bourgeoisie war schon immer eine winzige Minderheit. Um zu herrschen, muss sie die Arbeiterklasse spalten entlang von Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht oder Sexualität. Die Wut über die Situation soll weg vom Kapitalismus und der herrschenden Klasse auf Flüchtende, Transmenschen, Schwarze und Frauen gelenkt werden. Demgegenüber gibt sich z. B. Trump als Vertreter weisser, patriotischer Amerikaner. Diese Identitätspolitik soll von den Klassengegensätzen ablenken.
Aber wir sehen nicht einfach einen Rechtsrutsch in den Massen, ganz im Gegenteil. In den USA sahen wir 2019 die grössten Demonstrationen in der Geschichte des Landes mit den Black Lives Matter Protesten. Auf der ganzen Welt sahen wir riesige “Frauenstreik”-Demonstrationen und Massenmobilisierungen gegen die Angriffe auf die Abtreibungsrechte. Der offene Chauvinismus löst in der Jugend und in fortschrittlichen Teilen der Arbeiterklasse ehrliche Empörung aus. So viele Menschen wie noch nie sind bereit, gegen jegliche Form von Unterdrückung zu kämpfen.
Wir MarxistInnen unterstützen den Kampf gegen Unterdrückung und gegen die abscheulichen Angriffe voll und ganz. Genau darum kämpfen wir für die richtigen Ideen und gegen falsche. Falsche Ideen führen in eine Sackgasse.
Kapitalismus bedeutet künstlicher Mangel für die Massen. Obwohl die Arbeiterklasse genug gesellschaftliche Reichtümer für alle schafft, herrscht unter den Ausgebeuteten ständige Konkurrenz um gute Jobs, Sozialleistungen, demokratische Rechte usw. Wo wir uns um Krümel streiten müssen, dort können sie uns gegeneinander ausspielen. Das ist der materielle Nährboden für die Unterdrückung verschiedener Schichten. Und die herrschende Klasse hat ein materielles Interessen daran. So lange die arbeitenden Massen gespalten sind und ihren Hass aufeinander richten, so lange kann sie selbst an der Macht bleiben und alle Teile der Massen ausbeuten. Unterdrückung hat also im Kapitalismus eine materielle Grundlage.
Darum ist der Kampf gegen die Unterdrückung eine revolutionäre Frage. Erst eine klassenlose, sozialistische Gesellschaft entfernt sowohl das materielle Interesse an der Unterdrückung wie auch den materiellen Nährboden dafür. Sozialismus bedeutet endlich ein gutes Leben für alle: Der Kampf um die Krümel fällt weg. Und Sozialismus bedeutet die Beendigung der Klassengesellschaft: Es wird keine Klasse mehr geben, die ausbeuten, spalten und unterdrücken muss.
Der Kampf gegen Unterdrückung muss darum mit den Mitteln des Klassenkampfs geführt werden: Nur die Arbeiterklasse als Ganzes hat die Kraft, die Kapitalistenklasse zu entmachten und eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen. Das ist die Herangehensweise des Marxismus.
Aber in den Bewegungen dominieren heute die Ideen und Methoden der Identitätspolitik. Diese klammert die materiellen, objektiven Gründe für die Unterdrückung vollständig aus. Entsprechend gibt es Rassismus einfach, weil sich Weisse rassistisch verhalten und weil sie rassistisch denken. Frauen werden unterdrückt, weil Männer sexistisch sind. Dieser Idealismus ist die Achillesferse der Identitätspolitik.
Das hat praktische Folgen. Wer den materiellen Grund der Unterdrückung in der Klassenstruktur der Gesellschaft nicht sieht, kann nicht auf die Methoden des Klassenkampfs setzen. Damit beraubt man sich der Möglichkeit, der Unterdrückung den Kampf anzusagen und schlussendlich ein Ende zu setzen.
Was bleibt übrig? Symbolische Gesten (Regenbogenfahnen hissen), Stellvertreterpolitik (Frauen oder Schwarze in bürgerliche Ämter wählen), ohnmächtige Debatten über die “korrekte” Schreibweise usw. usf.
Viele Leute, die ehrlich gegen Unterdrückung kämpfen wollen, nehmen diese Ideen mit an. Aber diese Ideen sind kontraproduktiv. Jede Form von Identitätspolitik – offen reaktionäre wie diejenige von Trump, aber auch “linke” – zieht die Linie zwischen Männern und Frauen, zwischen Weissen und Schwarzen, zwischen Homo- und Heterosexuellen usw. Verhalten, Werte und Ideologie der einen Gruppe werden als die letzte Ursache für die Unterdrückung der anderen gesehen.
Das vernebelt das Entscheidende, nämlich die Klassenlinien. Im schlimmsten Fall ist es spalterisch. Der weisse, konservative, nicht-“woke” Arbeiter wird zum Sündenbock gemacht. Der “woke” Kapitalist ist fein raus.
Für die herrschende Klasse sind diese Ideen natürlich völlig ungefährlich. Das zeigt sich daran, dass ein liberaler Teil der Bourgeoisie auf diese Ideen setzt. Es gibt eine breite Wut gegen Unterdrückung. Die Liberalen versuchen sich zynisch darauf zu stützen – und die Wut in ungefährliche Bahnen zu lenken. Sie stützen sich auf “woke” kleinbürgerliche akademische Einflüsse. Wirkliche Massnahmen gegen Unterdrückung ergreifen die Liberalen nie. Ihre “woke” Symbolpolitik soll nur Dampf ablassen – und vor allem die herrschende Klasse aus der Schusslinie nehmen.
Die Liberalen betreiben die gleiche Identitätspolitik wie die Konservativen, einfach spiegelverkehrt. Während Trump und Co. angeben, dass sie die Interessen der weissen Männer vertreten, geben die Demokraten an, sie stünden für die Frauen und Schwarze. Wenn wir uns die zwei Seiten in diesem «Culture War» anschauen, wird klar: Es handelt sich nicht wirklich um einen Kampf zwischen grundlegenden gegensätzlichen Seiten, sondern um zwei Seiten der gleichen bürgerlichen Medaille.
Kulturkampf ist der Versuch der Bourgeoisie, die Arbeiterklasse zu spalten, um weiter zu herrschen. Die verschiedenen Flügel der Bourgeoisie sind sich bei diesem Unterfangen völlig einig. Sie ergänzen sich gegenseitig.
Keine Seite der Medaille bringt uns vorwärts. Aber die Führungen der Arbeiterbewegung nehmen dabei oft einfach die Position der Liberalen ein: den linken Flügel der Identitätspolitik. Daran ist nichts Fortschrittliches.
Die Kampagne der SP-Führung um den neuen Bundesratssitz zeigt das klar. Die SP-Führung stellte sich in der Frage ohne Wenn und Aber auf den Standpunkt der Identitätspolitik. “Es muss einfach eine Frau sein!” Das lenkt von der Klassenfrage der Regierungsbeteiligung ab: Es lenkte davon ab, dass der Eintritt der SP (die traditionelle Partei der Schweizer Arbeiterklasse) in eine bürgerliche Regierung nur der Bourgeoisie dient (siehe Editorial). Die Regierungsbeteiligung der SP macht nicht die Regierung sozialistischer, sondern die SP bürgerlicher. Diese Identitätspolitik dient nur der Kapitalistenklasse – und zementiert damit schlussendlich die Unterdrückung der Frauen.
Es ist kein Wunder, dass sich Teile der Arbeiterklasse angeekelt von den reformistischen Organisationen abwenden. Die Identitätspolitik der reformistischen Führer treibt Teile der Arbeiterklasse direkt in die Arme der Reaktionäre, die sich als Vertreter des “weissen Arbeiters” o. ä. aufspielen können.
Der einzige Weg vorwärts gegen die Unterdrückung ist der gemeinsame Kampf der Arbeiterklasse gegen die Bourgeoisie. Das Potenzial dafür ist riesig. Der “Kulturkampf” der Bourgeoisie ist ein Zeichen ihrer Schwäche: Er versucht, die sozialen Unruhen abzuwenden.
Die Arbeiterklasse hat objektiv ein gemeinsames Interesse daran, den Kapitalismus zu stürzen: kein Teil der Arbeiterklasse profitiert von Kapitalismus und Spaltung, alle Teile haben eine Welt zu gewinnen. Das bedeutet natürlich nicht, dass es nicht Vorurteile in der Arbeiterklasse gibt. Chauvinismus jeglicher Art gibt es auch in der Arbeiterklasse. Im kollektiven Kampf für wirkliche Verbesserungen können diese Vorurteile aber überwunden und die objektiven gemeinsamen Interessen erkannt werden.
Die allgemeine Krise zwingt die Arbeiterklasse in den kollektiven Kampf. Wir sehen die klare Tendenz zur Einheit der Klasse. In der Black Lives Matter -Bewegung solidarisierte sich eine Mehrheit der weissen ArbeiterInnen und Jugendlichen mit dieser Bewegung gegen Rassismus. Zu keinem Zeitpunkt in der Civil Rights-Bewegung war das der Fall! Im Libanon und im Sudan 2019, in Myanmar 2021 und im Iran heute – in allen Massenkämpfen wurden sektiererische Spaltungen entlang von Geschlecht und Herkunft überwunden.
Diese Kämpfe zeigen den Weg vorwärts. Was fehlt, ist eine Partei mit einem sozialistischen Programm: ein Programm im Interesse aller Teile der Klasse; ein Programm, das einen wirklichen Weg zur Beseitigung aller Formen von Unterdrückung aufzeigt.
Flurin A. und Jannik Hayoz für die Redaktion
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