An der Jahresversammlung der JUSO Schweiz am 9. und 10. Februar 2019 stehen sich zwei Positionspapiere gegenüber: das Grundlagenpapier: Care-Arbeit der Geschäftsleitung und das Grundlagenpapier: Soziale Reproduktion. Wie wir den Kampf gegen Frauenunterdrückung führen der marxistischen Strömung Der Funke. Im zweiteiligen Artikel erklären wir die wichtigsten politischen Differenzen zwischen beiden Papieren: Willkommen zu Teil 1.
Ein flächendeckendes Netz von Kindertagesstätten und Pflegeheimen (=«Care-Dienstleistungen») mit anständigen Arbeitsbedingungen sowie verkürzte Arbeitszeit bei gleichbleibendem Lohn sind der Weg vorwärts. Darin geht die Geschäftsleitung der JUSO Schweiz mit uns überein. Doch wer in «Teil 3: Was tun?» des Grundlagenpapier: Care-Arbeit der GL konkrete Antworten auf die gestellte Frage erwartet, wird enttäuscht. Es wird weder ersichtlich, wer für die Kosten aufkommen soll (Spoiler: die Bonzen!), noch wie die verkürzte Arbeitszeit umgesetzt und kontrolliert werden kann. Und, am wichtigsten: Es resultiert kein fassbarer Vorschlag einer strategischen und politischen Ausrichtung für die JUSO als Partei. Tatsächlich steckt die konkreteste Handlungsanweisung in einem Laurie Penny-Zitat versteckt, das dazu auffordert, mehr Vorstandszimmer anzuzünden.
Die eingangs erwähnte Übereinstimmung der Forderungen soll nicht darüber hinwegtäuschen: Zwischen dem Positionspapier der marxistischen Strömung und demjenigen der Geschäftsleitung bestehen grundlegende Unterschiede. Die beiden Papiere ziehen, wie bereits angedeutet, unterschiedliche Schlussfolgerungen, die aus unterschiedlichen Analysen resultieren.
Das GL-Papier betrachtet die Care-Arbeit als losgelöstes Phänomen und «ausserhalb des Kernbereichs des Kapitalismus». Dem gegenüber steht das Grundlagenpapier: Soziale Reproduktion der marxistischen Strömung: Hier wird die Reproduktionsarbeit ins Zentrum der Analyse der Klassengesellschaft und damit des Kapitalismus gestellt. Denn die Unterdrückung von Frauen, insbesondere durch die Belastung mit der Reproduktionsarbeit, ist ein integraler Bestandteil der kapitalistischen Ausbeutung – somit ist Care-Arbeit eben sehr wohl ein Kernbereich des Kapitalismus. Genau dieser gesamthafte Blick auf die Gesellschaft und die zusammenhängenden Prozesse, die darin ablaufen, zeigen uns, dass Frauenunterdrückung ein Teil der Klassenfrage ist und umgekehrt. Deswegen muss die JUSO die Emanzipation der Frau immer als Teil des Kampfs der ArbeiterInnenklasse gegen den Kapitalismus behandeln und diese Kämpfe auf einer Klassenbasis mit einem sozialistischen Programm vereinigen. Das heisst jedoch auch, bereits jetzt innerhalb der ArbeiterInnenbewegung einen konsequenten Kampf gegen die Unterdrückung der Frau und Sexismus zu führen!
Um zu verstehen, was wir damit meinen, klären wir zuerst einmal einige Grundbegriffe wie Produktion, soziale Reproduktion und Reproduktionsarbeit. Denn auf dem Fehlverständnis dieser Begriffe baut das Positionspapier der Geschäftsleitung auf:
Weil diese Prozesse so eng zusammenhängen, können wir sie nicht getrennt betrachten. Genau so, wie die Produktion im Interesse der herrschenden Klasse organisiert ist, ist es auch die Reproduktionsarbeit. Dass Frauen überwiegend für die (unbezahlte) Reproduktionsarbeit zuständig sind, ist historisch gewachsen und ein zentraler Pfeiler aller Klassengesellschaften. Die geschlechtliche Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern verhärtet Rollenbilder sowie Unterdrückungsverhältnisse und ist deswegen der zentrale Faktor, um die Frauenunterdrückung zu verstehen. Entsprechend ist der Kampf für eine Organisation der Reproduktionsarbeit keine moralische Frage. In ihm stehen sich die kalten Interessen des Kapitals und das Bedürfnis der Lohnabhängigen nach einem menschenwürdigen Leben gegenüber.
Das Care-Papier der Geschäftsleitung kann nicht erklären, woher die Unterdrückung der Frauen kommt. Mit ihrem Begriff des Patriarchats beschreiben sie lediglich die Situation der Vorherrschaft der Männer im Kapitalismus, ohne sie zu erklären. «Der Kapitalismus vermittelt Frauen* mittels des Patriarchats, dass Care-Arbeit aus Liebe geleistet wird und deshalb nicht oder nur schlecht bezahlt werden muss […]». Doch wer ist dieses Patriarchat und wie genau vermittelt es irgendwem irgendwas? Kann es etwa sprechen?
Die Unterdrückung der Frau ist zweifellos älter als der Kapitalismus. Deswegen gibt es aber noch lange nicht DAS Patriarchat als eigenes, separates Unterdrückungssystem. Vielmehr entspringt die Unterdrückung der Frau der jeweiligen Art und Weise, wie Produktion und Reproduktion in einer Gesellschaft organisiert ist und welche Rolle die Geschlechter in diesen Prozessen spielen. Es gibt schlicht keinen nicht-sexistischen Kapitalismus, sowie es auch keinen nicht-rassistischen Kapitalismus gibt; die Unterdrückung der Frau ist ein integraler Bestandteil dieses Systems. Der Kapitalismus erschafft aber gleichzeitig auch das technologische Potential, durch welches für alle Menschen ein würdiges Leben ermöglicht werden könnte – vorausgesetzt, die Wirtschaft würde demokratisch nach den Bedürfnissen der Bevölkerung geplant. Unter diesen Voraussetzungen könnte auch die Unterdrückung der Frauen beseitigt werden. Denn die geschlechtliche Arbeitsteilung, die Aufbürdung der Reproduktionsarbeit und die damit einhergehende Doppelbelastung der arbeitenden Frauen wird heute rein künstlich durch die kapitalistische Produktionsweise aufrechterhalten.
Die männliche Vorherrschaft im Kapitalismus ist verknüpft mit der männlichen Vorherrschaftsstellung innerhalb der Familie. Die proletarische Familie ist die Einheit, durch welche die Reproduktion der ArbeiterInnenklasse im Kapitalismus organisiert wird. Bis heute bleibt darin eine «traditionelle» geschlechtliche Arbeitsteilung intakt. Die Männer sind auch heute in der Schweiz noch mehrheitlich die «Hauptverdiener»; Frauen verdienen weniger, werden auf dem Arbeitsmarkt diskriminiert und tragen mehrheitlich die Verantwortung für die Reproduktionsarbeit und können deswegen zu einem grossen Teil höchstens Teilzeit arbeiten. Durch all diese Mechanismen werden Frauen in eine finanzielle Abhängigkeit und damit in eine untergeordnete und unterwürfige Position gegenüber den Männern gedrängt. Diese Rollenverteilung wird entsprechend ideologisch geschützt, schon von klein auf werden uns die entsprechenden Verhaltensweisen anerzogen und durch Fernsehen, Schule, Medien und Hollywood zementiert. Doch trotz diesem offensichtlichen Unterdrückungsverhältnis zwischen den Geschlechtern (auch innerhalb der Arbeiterklasse) beuten nicht einfach die Männer als Ganzes die unbezahlte Reproduktionsarbeit aus, sondern das Kapital. Es beutet die Lohnabhängigen in der Produktion aus und muss nichts für die Reproduktionsarbeit bezahlen, solange diese in den Privathaushalten stattfindet. Das Kapital hat das grösstmögliche Interesse, dies so aufrecht zu erhalten. Die Verbesserung der materiellen Lage von lohnabhängigen Frauen wie Männern erfordert deswegen den gemeinsamen Kampf gegen den Kapitalismus.
Wir sehen: Während der Analyseansatz der sozialen Reproduktion uns erlaubt, die Unterdrückung der Frau als historisch gewachsen zu erklären, reisst sie die GL mit ihrem Verständnis vom Patriarchat aus einem gesamtgesellschaftlichen Kontext heraus. Die Folge: Eine oberflächliche Analyse, aufgrund derer kaum eine politische und taktische Handlungsperspektive für die Partei erarbeitet werden kann.
Im zweiten Teil des Artikels, «Kapitalistin vs. Arbeiterin – oder doch nicht?», gehen wir dem revolutionären Subjekt auf den Grund und stellen uns der Frage: Was macht den Streik zum mächtigsten Kampfinstrument der Lohnabhängigen?
Helena W. und Julian S.
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