Im Juni wurde die fünfjährige Dayana auf ihrem Weg zum nächsten Kiosk in einen Wagen gezerrt und verschleppt. Ihr lebloser Körper wurde vier Monate später auf einem Feld ausserhalb der gleichen Stadt gefunden. Dayana, wie so viele Mädchen und Frauen in Mexiko, wurde Opfer eines geschlechtsspezifischen Mords, in Lateinamerika unter dem Begriff „Feminicidio“ bekannt. Alleine letztes Jahr sind in Mexiko 2’735 Frauen ermordet worden, doch nur 313 Fälle wurden als Feminicidios anerkannt. Tötungsdelikte zählen als Feminicidios, wenn das Opfer aufgrund ihres Geschlechts ermordet wurde. Das heisst, wenn die Leiche Anzeichen eines sexuellen Übergriffes aufweist, der Täter bereits in der Vergangenheit handgreiflich gegen das Opfer wurde oder der Täter ein emotionales Verhältnis zum Opfer hatte.
Von Ciudad Juarez bis Chiapas
Die spezifische Ermordung von Frauen ist in Mexiko nichts Neues. Von 1985 bis 2017 wurden 30’991 Frauen ermordet. 2007 war das Jahr mit den wenigsten Feminicidios – kein Trost wenn man bedenkt, dass in diesem Jahr trotzdem 1’000 Frauen kaltblütig getötet wurden. Seit dem Beginn des „War on Drugs“ 2006 stieg die Anzahl Tötungsdelikte gegen Frauen markant an und erreichte 2012 den Rekord von 2’761 Ermordungen. In diesem Jahr wurde alle drei Stunden eine Frau getötet!
Vor 20 Jahren waren die traurigen Spitzen der Gewalt Ciudad Juarez und Tijuana im Norden des Landes. Die internationale Presse und zahlreiche NGOs zeigten grosse Beunruhigung für die Lage in Ciudad Juarez. Damals waren die Opfer der Feminicidios vor allem junge Frauen, zwischen 13 und 22 Jahren alt, Arbeiterinnen in den berüchtigten „Maquiladoras“, den grossen Textilfabriken für den Markt des nördlichen Nachbarn. Es sind vor allem Frauen aus dem Süden des Landes, die in die USA emigrieren wollen. Schlussendlich stranden sie in Ciudad Juarez, verdammt dazu, das einzige zu verkaufen was sie noch haben: ihre Arbeitskraft oder ihren Körper.
Der Drogenkrieg
Die Drogenkartelle spielen eine besonders widerwärtige Rolle im Bezug auf die Feminicidios. Menschenhandel mit Frauen, seien dies Mexikanerinnen oder zentralamerikanische Migrantinnen, ist eine ihrer Haupteinnahmequellen neben dem Verkauf von Drogen. Doch in diesem Geschäft hat der weibliche Körper ein Ablaufdatum und nur zu oft liegt er im Auge des Markts bei 18 Jahren. Für die gefangenen Frauen bedeutet das den Tod. Zudem kann ihr lebloser Körper aber auch eine Warnung an andere Kartelle sein, nämlich: “Das ist jetzt unser Territorium”. In beiden Fällen zeigen die Kartelle ihre Verachtung für das Leben und die Würde der Frauen. Die erfolglose Bekämpfung der Kartelle durch die Armee im Zuge des “Drogenkriegs” führte dazu, dass interne Machtkämpfe in weiteren Spaltungen endeten. Im Zuge davon eskalierte die Gewalt eskalierte weiter und die Kartelle verbreiteten sich vom Norden über das ganze Land. Heute sind die gefährlichsten Bundesstaaten für Frauen der Estado de México und Guerrero, beide liegen im Zentrum des Landes. Genau wie in Ciudad Juarez, sind es immer noch junge Migrantinnen, Arbeiterinnen und Mädchen, welche verschleppt, vergewaltigt und ermordet werden. Es sind die gleichen Greuel, nur, dass sie sich auf das ganze Land verbreitet haben.
Staat, Drogenkartelle und die katholische Kirche
Die Statistiken der staatlichen Institutionen sollte man mit Vorsicht geniessen, nur 20% der ermordeten Frauen werden als Opfer der Feminicidios anerkannt. Das lässt sich nur erklären, wenn man die enge Vernetzung zwischen dem mexikanischen Staat und den Drogenkartellen in Betracht zieht. Korruption verhindert die Ermittlungen. Wenn die Morde aber untersucht werden, können die Täter aussagen, sie wären Opfer einer „gewalttätigen Emotion“ geworden, so verringert sich die Freiheitsstrafe und es wird nicht als Feminicidio registriert.
In diesem Sinne sind die Präventivmassnahmen, welche der Staat unternimmt, nur als heuchlerische Geste zu verstehen. Wie soll der bürgerliche mexikanische Staat auch effektiv gegen die Feminicidios vorgehen, wenn er die unmittelbaren Ursachen nur weiter verstärkt? Seit dem Inkrafttreten des Freihandelsabkommens NAFTA (1994) mit den USA und Kanada, durchlebte die mexikanische Wirtschaft zwei Rezessionen und vor allem Stagnation. Die Perspektivlosigkeit macht die Emigration nach Norden zum einzigen Ausweg. Fehlende Chancen auf einen Job, die unzureichende öffentliche Bildung und die tägliche Gewalt treiben viele Jugendliche in die Arme der Drogenkartelle.
Dieser Prozess ist aus Honduras und Guatemala bereits bekannt. So integriert sich die Narcokultur (“narcotrafico”= Drogenhandel), der Lifestyle der Drogenbarone, in die mexikanische Gesellschaft. Natürlich leben die grossen Kartellfamilien direkt unter der Nase der heuchlerischen Regierung. Der Drogenhandel hat sich in den Staat integriert. Gleichzeitig führt diese den Drogenkrieg – völlig ohne Erfolg – munter weiter. Die Bevölkerung – speziell die Frauen – bluten dabei aus.
Die Narcokultur degradiert die Frau zum Sexobjekt der Männer. Gleichzeitig erklären Repräsentanten der katholischen Kirche, die Frauen würden zu tausenden getötet, “weil sie mit jedem ins Auto stiegen”. Dies stärkt noch weiter den „Machismo“, die Idee der Überlegenheit des Mannes, der in Mexiko so weit verbreitet ist. Opfer sind, wie oben gezeigt, vor allem Frauen aus armen Regionen des Landes und Migrantinnen aus Zentralamerika, welche – auf der Suche nach einem würdigen Leben – die wohl gefährlichsten Regionen Lateinamerikas durchqueren müssen. Doch die Feminicidios sind nur die Spitze des Sexismus und um ihn bekämpfen zu können, muss man sich fragen, woher er entstammt.
Sexismus und Kapitalismus
Der Sexismus – die ökonomische und die daraus folgende physische und psychische Unterdrückung der Frau – entstand nicht erst mit dem Aufkommen des Kapitalismus, sondern ist so alt wie die Klassengesellschaft selbst. Engels führt beide auf den Beginn der Akkumulation von Eigentum in privaten Händen zurück. Der Sexismus ist also kein Naturgesetz. Trotzdem ist er allen bisherigen Klassengesellschaften inhärent, so auch dem Kapitalismus. Doch welche Funktion übernimmt er im Kapitalismus?
Die Frau wird als unbezahlte Arbeitskraft im Haushalt missbraucht. In Mexiko verbringt die Durchschnittsfrau 65% ihrer Arbeitszeit mit unbezahlter Hausarbeit, der Durchschnittsmann hingegen nur 24%. Ausserdem bilden die Frauen einen riesigen Teil der Bevölkerung, welcher in Zeiten des Aufschwungs die Arbeitsplätze füllt und in Zeiten der Krise wieder zurück in den Haushalt gedrängt werden kann. In den Worten von Karl Marx sind sie Teil der industriellen Reservearmee. Aber der wohl bedeutendste Faktor für die Bourgeoisie ist die Spaltung der ArbeiterInnenklasse in Mann und Frau, also in zwei Teile der Bevölkerung mit vermeintlich entgegengesetzten Interessen. Es stimmt, dass die proletarische Frau einer doppelten Belastung unterworfen ist, sie muss in dieser patriarchalen Gesellschaft den Haushalt machen und gleichzeitig ihre Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt verkaufen – in Mexiko leisten Frauen 10% mehr Arbeitsstunden als die Männer, Hausarbeit miteinberechnet.
Marsch der Toten
Die MexikanerInnen stehen der Gewaltorgie nicht passiv gegenüber. Seit Jahren gibt es Protestmärsche gegen die Unterdrückung der Frau und speziell gegen die sich häufenden Fälle der Feminicidios. Meistens finden sie kurz nach dem Mord einer Frau, welcher dann grosse mediale Aufmerksamkeit bekommt, statt. Regelmässig finden sich spontan tausende Leute auf der Strasse wieder. Am ersten November dieses Jahr fand zum zweiten Male der „Marcha de las Catrinas“, ein Marsch der Skelett-Damen (einem Wahrzeichen des Landes), in Mexiko-Stadt statt. Am selben Tag feiert man in Mexiko den traditionellen „Día de los Muertos“, den Tag der Toten. Mit dem Protestmarsch bekam der Feiertag eine ganz andere Note.
Lateinamerika
Die Feminicidios sind kein exklusiv mexikanisches Phänomen. Ganz Lateinamerika ist betroffen. Honduras und El Salvador führen die Liste mit 466 bzw. 371 Feminicidios im Jahr 2016 an, etwas weiter hinten liegt Argentinien mit 254 Feminicidios. Besonders Argentinien hat momentan eine lebendige Frauenbewegung, mit grossen Protestmärschen unter dem Motto #niunamenos, also „Nicht eine weniger“. Diese richten sich auch gegen die Gesetzeslage bezüglich der Abtreibungen, welche verboten sind. Dies nicht zuletzt wegen der katholischen Konservativen, die eine grosse Macht im Parlament darstellen.
Hoch lebe der proletarische Frauenkampf
Mexiko kennt eine lange Tradition der kämpferischen bäuerlichen und proletarischen Frauenbefreiung. Mexiko war anfangs 20. Jahrhundert ein rückständiges Land mit einer grossen Landbevölkerung. Als 1910 die mexikanische Revolution begann, wurden Landarbeiter und Bauern in die revolutionären Armeen des Südens und des Nordens integriert, mit ihnen auch die Bäuerinnen und Landarbeiterinnen. Es entstanden die sogenannten „Soldaderas“: Soldatinnen, die zum Teil ganze Bataillone führten. Mit dem Verlauf der Revolution entwickelte sich ihr Bewusstsein und sie führten später ihren spezifischen politischen Kampf. Mit der Unterstützung ihrer US-amerikanischen Genossinnen bauten sie Strukturen auf, um sich in den Fabriken zu organisieren. So brachten sie ihren Kampf in die ArbeiterInnenbewegung ein. Erst mit der späteren Stalinisierung der Kommunistischen Partei Mexikos wurden die Forderungen der Frau in den Hintergrund gedrängt.
Reformismus als Lösung?
Das Problem hinter den heutigen grossen Frauenbewegungen sind die Grenzen, welche sie sich selber setzen. Sie beschränken sich auf die Mittel des bürgerlichen Staates, ohne zu erkennen, dass eben dieser ein Teil des Problems ist. Bekämpft wird nicht die Klassengesellschaft oder das System, welches sie aufrechterhält, also der Kapitalismus und der damit einhergehende bürgerliche Staat, sondern nur gewisse Auswüchse, wie eben das Verbot zur Abtreibung und die Objektifizierung der Frau. Das System, welches den Sexismus weiterhin nutzt, bleibt unangetastet.
Wir dürfen uns nicht auf die Bekämpfung der Symptome beschränken, sondern müssen den Sexismus im Kontext des Kapitalismus sehen. Genau dort knüpft der proletarische Feminismus an. Nicht nur die Auswüchse sollten bekämpft werden, sondern auch die Wurzel, was nur funktioniert, wenn die materiellen Grundlagen geschaffen werden, um die Gleichstellung der Geschlechter zu garantieren. Diese Grundlage kann nicht durch das Reformieren des Kapitalismus erreicht werden, sondern ausschliesslich mit dem Aufbau des Sozialismus.
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