2013 wird für die Schweizer Linke wahrscheinlich eines der wichtigsten Jahre der jüngeren Geschichte werden. Die seit fünf Jahren wütende Krise des Kapitalismus ist, verglichen mit Griechenland und Spanien, noch gar nicht richtig im Alltag der Schweizer ArbeiterInnenschaft angekommen, schon zeigen sich Veränderungen im Bewusstsein der arbeitenden Bevölkerung, die sich unter anderem in der Annahme der Abzocker-Initiative ausdrücken. Noch dieses Jahr werden wahrscheinlich die 1:12- und die Mindestlohninitiative folgen. Sowohl an der 1:12- als auch an der Minderinitiative wird auch von links Kritik laut. Sie einfach abzutun, ist grundfalsch.
Ein Riss geht durch die herrschende Klasse
Die „WOZ“ kritisiert die Abzocker-Initiative scharf: sie befürchtet das Einfallen von Heuschrecken in Verwaltungsräte und stellt sich gegen jede Stärkung der Aktionärsrechte. Ganz richtig schreibt auch die „Vorwärts“ am 29. Januar 2013 auf ihrer Website, dass es in der Abzocker-Initiative „…um die Umverteilung von Geld innerhalb des Kapitals…“ geht. Ganz richtig sieht sie auch, dass es in diesem Streit für die arbeitende Klasse materiell nichts zu gewinnen gibt. Dass sich durch die Abzocker-Initiative nichts ändern wird, ist beiden klar. Aber wenn die Initiative für das Kapital nur Vorteile bringt, warum haben denn Teile des Kapitals, die Economiesuisse und alle grossen Verbände diese Initiative so vehement bekämpft?
Ein tiefer Riss geht quer durch das Kapital. Im zähen Ringen wird in versteckten und offenen Auseinandersetzungen der Kampf des Kleinkapitals gegen das grosse Kapital, des Ladenbesitzers gegen den Kreditgeber, des KMUs gegen den Grossproduzenten, des Konzerns gegen die Fonds und Banken, ausgefochten. Gekämpft wird um jeden Rappen Rabatt, um jede Promille Zins, um Vorteile und rechtlichen Schutz, um jeden kleinen Vorteil, der letzten Endes das Überleben sichert. Thomas Minder und seine Trybol AG hatten den Kampf beinahe verloren, die Swissair hatte Trybol mitgrounden lassen, nur der Goodwill der neuen Swissführung hat ihn vor einem Schicksal als Proletarier bewahrt. Dieses Ereignis hat er nicht auf sich sitzen lassen, er lancierte seine berühmte Initiative.
Nur selten zeigen sich Konflikte innerhalb des Kapitals vor aller Welt mit solch bemerkenswerter Offenheit, und es ist, so unvollständig sie auch sein mögen, den demokratischen Instrumenten der Schweiz zu danken, dass dieser Konflikt nicht schnell im Sinne des Grosskapitals, sondern durch politische Instrumente entschieden wurde. Der Riss zog sich quer durch alle Schichten durch das Bürgertum und seine politischen Organisationen. Die Economiesuisse war völlig handlungsunfähig und heillos zerstritten – man denke nur an den berühmtesten nicht gezeigten Film des Jahrhunderts. Als Reaktion auf die Niederlage wurde mit SuccèSuisse ein neuer bürgerlicher politischer Verband gegründet. Elf Sektionen der SVP stimmten für die Abzocker-Initiative – Christoph Blocher hatte sichtlich Mühe, seinen Laden noch zusammenzuhalten. Das Potential für politische Spaltungen, für politische Zersplitterung innerhalb der SVP ist unverkennbar geworden. Die NZZ schreibt von „Katerstimmung im bürgerlichen Lager“ und im Interview mit der gleichen Zeitung ruft der FDPler Ruedi Noser den lange vergessen geglaubten Klassenkampf wieder aus. Der Tagesanzeiger fabuliert von einer neuen Partei zwischen FDP und SVP, obwohl es ja erst vor kurzem zur Abspaltung der BDP kam. Die herrschende Klasse hat sich vor aller Welt gründlich blamiert und das Stimmvolk hat voll draufgehauen.
Für die Linke ein Grund in Jubelgeschrei auszubrechen? Nicht für die Vorwärts: „Deshalb eine Wahlempfehlung: Bleibt zu Hause und geniesst euren freien Tag.“ Ist es aber nicht die Aufgabe jedes Marxisten die Bewegungen des Kapitals zu beobachten und zu analysieren, seine Schlüsse daraus zu ziehen und jeden zu Tage tretenden Riss auszunutzen und zu vertiefen? „Einen mächtigeren Gegner kann man nur unter grösster Anspannung der Kräfte und nur dann besiegen, wenn man unbedingt aufs angelegentlichste, sorgsamste, vorsichtigste, geschickteste sowohl jeden, selbst den kleinsten „Riss“ zwischen den Feinden, jeden Interessengegensatz zwischen der Bourgeoisie der verschiedenen Länder, zwischen den verschiedenen Gruppen oder Schichten der Bourgeoisie innerhalb der einzelnen Länder als auch jede, selbst die kleinste Möglichkeit ausnutzt, um einen Verbündeten unter den Massen zu gewinnen, mag das auch ein zeitweiliger, schwankender, unsicherer, unzuverlässiger, bedingter Verbündeter sein.“ So Lenin vor 90 Jahren.
Den Klassengegensatz offen aufzeigen
Die 1:12-Initiative sei vollkommen nutzlos, behaupten radikale Linke und gehen dabei überein mit dem durchschnittlichen SVPler, dem beim Unterschriftensammeln das Argument einfällt, dass die „Manager das doch sowieso umgehen“. „Welche vorzügliche Analyse des Klassenstaates“, möchte man ihm da entgegenbrüllen.
Gehen wir einmal davon aus, die Initiative würde angenommen werden. Natürlich werden die bürgerlichen das Gesetz mit aller Macht aushebeln, umgehen, Ausflüchte finden und Finten versuchen. Sie werden im Abstimmungskampf mit der Vernichtung von Arbeitsplätzen offen drohen. Die intelligentesten und bestbezahlten Juristen werden sich jahrelang damit beschäftigen, wie sich das Gesetz umgehen lässt, sie werden Verträge aufsetzen, Firmen gründen und verlagern, ganze Abteilungen als Tieflohnteile verkaufen. Das Kapital ist als Klasse bis in alle Verästelungen organisiert, es findet Wege, die Dinge in seinem Staat so zu ändern wie es das will, wenn es denn einig ist. Dieser organisierten Macht ist mit einer Initiative nicht viel entgegenzusetzen. Das Lohnexzesse nach der Initiative aufhören werden ist frommes Wunschdenken, es fehlt an Macht und Ressourcen das Kapital in seiner Bewegung aufzuhalten.
Im JUSO-Argumentarium zur Initiative findet sich folgender Passus: „So einfach ist das nicht. Erstens muss das Parlament – wird die 1:12-Initiative vom Volk angenommen – ein Gesetz zur Umsetzung verabschieden. Auslagerungen um 1:12 zu verhindern müssten darin strafbar gemacht werden“. Ganz sicher wird die bürgerliche Mehrheit im Parlament der JUSO diesen Gefallen nicht tun. Weiter steht dort: „Zweitens sprechen wir von Unternehmen und nicht von einer schon definierten juristischen Person.“ In der Realität interessiert sich niemand dafür, welches Wort da im Text steht. Das Kapital interessiert sich nicht für Worte. Hier geht es um Kräfteverhältnisse. In Griechenland reichen 26 Generalstreiks nicht mehr aus, um das Kapital auch nur zum kleinsten Zugeständnis zu zwingen. Da werden eine Initiative und ein paar Zeilen in einem kleinen roten Büchlein niemanden am „Abzocken“ hindern.
Und das ist es auch, was die Initiative so wertvoll macht. So wie die Minderinitiative die Risse in der herrschenden Klasse vor aller Welt offenbart hat, offenbart 1:12 den Gegensatz zwischen arbeitender und besitzender Klasse. An ihr lässt sich wunderbar erklären, was nötig ist, um die Verhältnisse WIRKLICH zu ändern. Sie offenbart vor allen Augen, für den letzten SVPler nachvollziehbar, dass das Kapital Gesetze umgeht, verbiegt und bricht. Dass sich das Kapital dem Willen des Volkes eben nicht beugt, auch wenn es ihn in bürgerliche Gesetzesform giessen wird. Sie zeigt, dass es im bürgerlichen Staat zwei Sorten Gesetze, für zwei Sorten von Menschen, für zwei verschiedene Klassen gibt. Sie zeigt, wer der Herr im Staat ist. Sie zeigt, dass der Staat ein Klassenstaat ist.
Ein Ausblick
Die Initiativen sind Indikator für das Klassenbewusstsein in der Schweiz. Die Abzocker-Initiative wurde nicht mit 68% angenommen, weil Minder die Kapitalseite stärken wollte, sondern weil sie Abzocker-Initiative heisst. Ein Hilfeschrei – man wollte „endlich was gegen diese Abzocker tun“. Heute sind in den Umfragen 76% für die Mindestlohninitiative. Zum Sammelstart noch als Idee von verrückten linken Spinnern abgetan, sind nun 49% für die 1:12-Initiative. Vor zehn Jahren haben sich die CEOs der Banken noch zu allen Bereichen des menschlichen Lebens geäussert. Die Leute hatten das Gefühl, so jemand wisse worüber er rede. Wenn heute ein Brady Dougan etwas zur Organisation im Bildungswesen sagen würde, würde es von allen Seiten Kritik hageln. Der Bewusstseinswandel ist mit Händen greifbar.
In den Abstimmungskampf um 1:12 und den Mindestlohn werden in diesem Herbst noch zusätzlich die grossen Budgetkürzungen der Kantone hineinplatzen, die schon 2012 für Streiks und Grossdemonstrationen gesorgt haben. Einen Vorgeschmack darauf haben wir bereits auf der Demonstration der Berner Kantonsangestellten bekommen. 20‘000 Menschen gingen hier auf die Strasse und die Berner Zeitung schrieb von „ungewohnt heftiger Kritik“ und von Wut. Diese sich langsam radikalisierenden Bewegungen müssen mit den Abstimmungskämpfen um die Stimmvorlagen verknüpft werden. Die Krise wird, aller Voraussicht nach, in den nächsten Jahren nicht einmal annähernd enden. Sie wird sich vertiefen, verschlimmern. Und so werden die Kürzungen massiver werden, die Demonstrationen aber grösser. Die Exzesse werden offensichtlicher werden, die Forderungen aber militanter. Die Angriffe werden heftiger, die Streiks aber häufiger. Und so müssen die Organisationen der Arbeiterschaft, ob sie wollen oder nicht, zukünftig weiter nach links rücken.
Vor fünf Jahren hat nur ein kleines linkes Grüppchen an einen Erfolg der 1:12-Initiative geglaubt. Heute hat die JUSO ihre Mitgliederzahlen verdreifacht, die SP und die Gewerkschaften wurden einfach mitgerissen; die Forderung ist mehrheitsfähig geworden. Heute ist der Zeitpunkt, um neue noch radikalere Forderungen zu präsentieren. In fünf Jahren sind ganz andere Dinge mehrheitsfähig.
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