Die Tatsache, dass wir zum ersten Mal in der jüngeren Geschichte der JUSO eine wirklich politische Kampfwahl für ein wichtiges Amt der Partei haben, begrüssen wir sehr. Es ist ein bedeutender Schritt weg von einer Debatte um Personen und informelle Seilschaften hin zu einer Debatte um Ideen und politische Inhalte. Nicht nur die Form der Kandidaturen ist ein Schritt nach vorne für die JUSO. Auch inhaltlich sind die veröffentlichten Programme in ihrer Radikalität und Kohärenz nochmals ein deutlicher Schritt nach links. Sofern sie umgesetzt werden, bedeuten sie für die Partei einen Sprung nach vorne, unabhängig des Ausgangs der Wahlen. Zudem haben wir mit diesen Programmen nun endlich politische Verbindlichkeiten und das neue Präsidium kann an deren Umsetzung konkret gemessen werden.
Bei der Lektüre wird schnell deutlich, dass zwischen den Kandidatinnen keine fundamentalen politischen Differenzen bestehen. Zusammengefasst ist die Analyse der kapitalistischen Krise und der herrschenden Verhältnisse bei Samira Marti ausführlicher und tiefer. Dafür präsentiert uns Tamara Funiciello klar radikalere und konkretere Forderungen. Vor allem in Fragen der EU, der Regierungsbeteiligung und einer klaren Ausrichtung auf die Lohnabhängigen steht Tamara somit näher an den Positionen, welche die marxistische Strömung seit jeher in der JUSO vertritt. Wir empfehlen daher, Tamara zur neuen Präsidentin der JUSO Schweiz zu wählen.
Als Anstoss für die Debatte an der JV wollen wir in diesem Artikel auf die programmatischen Differenzen zwischen den Kandidatinnen hinweisen und aufzeigen, wo unserer Ansicht nach die Programme zu wenig weit gehen.
Es ist klar, dass wir weder für die eine noch die andere Kandidatin sprechen können; noch können wir voraussehen ob diese Programme nach den Wahlen auch tatsächlich umgesetzt werden. Wir basieren diese Analyse rein auf dem uns zur Verfügung stehenden Material, welches von den Kandidierenden veröffentlicht wurde. Es geht auch nicht darum, Personen anzugreifen, sondern darum, unsere Kritikpunkte an den politischen Positionen zur Diskussion zu stellen. Wir hoffen, dass beide Kandidatinnen unsere Kritik auf diese Weise verstehen: als konstruktiver Beitrag zur Diskussion der zentralen politischen Fragen auf dem Weg zu Sozialismus.
Ein klarer Schritt nach links
Die beiden Programme stimmen in wesentlichen Punkten überein. Beide versuchen die heute herrschenden Missstände, wie schlechte Arbeitsbedingungen, Sparpolitik, Angriffe auf den Lebensstandard und Spaltungsmechanismen wie Sexismus, Nationalismus, Rassismus etc. direkt als Ausdruck des kapitalistischen Systems zu erklären. Das gibt den Programmen einen klar antikapitalistischen Charakter. Beide Kandidatinnen tönen auch an, dass die Frage des Privateigentums letztendlich entscheidend ist. Im Aktionsprogramm haben wir die Forderung nach der Verstaatlichung der grossen Konzerne und Banken gestellt. Diese Forderung wird aber in keinem der Papiere explizit aufgenommen. Es ist wichtig, dass wir in dieser Frage nicht das Programm der Partei verwässern. Nur der klare und offene Kampf in Richtung Enteignung der herrschenden Klasse und der demokratischen Kontrolle der grössten Betriebe und Banken ermöglicht die Errichtung einer sozialistischen Organisation der Gesellschaft. Denn das Privateigentum an den Produktionsmitteln ist die Basis der kapitalistischen Konkurrenz und Ausbeutung der ArbeiterInnenklasse, und damit in letzter Instanz Ursache für alle Unterdrückungsmechanismen, gegen welche wir kämpfen.
Im Online Hearing haben beide Kandidatinnen ausdrücklich gesagt, dass der Sozialismus nicht durch Reformen erreicht werden kann, sondern dass ein revolutionärer Umbruch nötig ist. Wie dieser aussehen soll und wie wir ihn mit dem Kampf um Verbesserungen innerhalb des bestehenden Systems verbinden können, ist jedoch in keiner Weise ersichtlich. Diese Verbindung ist aber genau der Schlüssel für einen erfolgreichen Kampf gegen das kapitalistische System und die Etablierung eines linken Klassenbewusstseins. Die Juso muss die realen Probleme der Lohnabhängigen und der Jugend in der Schweiz aufgreifen und radikale Forderungen zu ihrer Lösung präsentieren, die den Rahmen dieses Systems sprengen. Die Unfähigkeit des kapitalistischen Systems, v.a. in der Krise, diese Forderungen zu erfüllen, führt dazu, dass das System als Ganzes hinterfragt wird. Unsere Forderungen müssen aneinander anknüpfen und die Kämpfe stetig weitertreiben. Zudem müssen wir unsere Arbeit stets bewusst und öffentlich in einen antikapitalistischen Kontext stellen, sowie wir dies im Aktionsprogramm von 2014 gemacht haben.
Tamaras Initiativvorschlag geht in eine solche Richtung. Sie verteidigt die Forderung nach einer 25-Stunden-Woche. Wir dürfen in diesem Zusammenhang auf keinen Fall blauäugig sein und müssen die Konsequenzen einer solchen Vorlage verstehen. Denn es ist klar, dass diese Forderung im Rahmen der kapitalistischen Konkurrenz niemals durchgesetzt werden könnte ohne dass es zu massiven Abwanderungen von Grossbetrieben und Kapitalflucht käme. Ein Kampf für diese Forderung würde also weitergehende Forderungen wie Kapitalausfuhrkontrolle, Verstaatlichungen und demokratische Kontrolle zwingend notwendig machen. Zudem würde die Forderung auch direkt die Frage der demokratischen Planung der gesamten Wirtschaft auf die Tagesordnung setzen, da es sich bei ihr letztendlich um die Verteilung der gesellschaftlich notwendigen Arbeit auf alle handelt. So schaffen wir eine Verbindung zwischen dem Kampf um Reformen und der revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft. Die Frage, ob die Forderung nach einer radikalen Arbeitszeitverkürzung in der momentanen Situation sinnvoll wäre, ist jedoch Gegenstand einer Diskussion, welche anderswo geführt werden müsste.
Reform und Revolution
Bei Samira ist die Diskrepanz zwischen Minimal- und Maximalprogramm viel ausgeprägter. Einer sehr gelungenen und ausführlichen Analyse folgen kaum praktische Vorschläge, wie die sozialistische Vision umgesetzt werden soll. Die wenigen konkreten Forderungen, die in ihrem Programm zu finden sind, wie Steuererhöhungen und die Besteuerung der Finanzmärkte, stehen in krassem Gegensatz zu den sehr radikalen Schlüssen, welche die Kandidatin zieht. So sagt sie einerseits, «dass das herrschende System nicht fähig ist, den Lebensstandard der Bevölkerung in den Industrienationen zu steigern oder auch nur zu erhalten». Konkret heisst das, dass Verbesserungen nur durch die Überwindung dieses Systems zu erreichen sind. Die Konsequenz für die Praxis müsste also ein Übergangsprogramm sein, welches das Ziel der Entmachtung der herrschenden Klasse verfolgt. Stattdessen verweilen ihre Forderungen im Rahmen einer reformistischen Umverteilungspolitik.
Diese Trennung von Minimal- und Maximalprogramm ist keine neue Erscheinung und kann bis auf die zentristische Strömung in der deutschen Sozialdemokratie um Karl Kautsky zurückverfolgt werden. Dieser Fehler führt heute wie damals dazu, dass das Ziel einer sozialistischen Gesellschaft zu einer abstrakten Utopie verkommt, die im luftleeren Raum schwebt, während sich die Partei auf die Reformierung des bestehenden Systems beschränkt. Um diese Fehler der Vergangenheit nicht zu widerhohlen, müssen wir daher das Aktionsprogramm in die Tat umsetzen und so den Kampf für den Sozialismus zu einem greifbaren Teil unserer politischen Arbeit zu machen.
Sozialpartnerschaft als Ausweg?
Tamara bringt als Gewerkschafterin sicherlich eine stärkere Orientierung auf die Lohnabhängigen mit und ihre Forderungen weisen eher in die Richtung einer kämpferischen Politik auf der Strasse. Im Interview, welches wir mit ihr geführt haben, offenbaren sich jedoch auch gewerkschaftliche Vorurteile, die scheinbar unkritisch und im Gegensatz zur restlichen Analyse übernommen werden. So zum Beispiel die Forderung nach der Wiedereinführung des Mindestkurses. Die Illusion, dass die kapitalistische Krise mit währungspolitischen Entscheiden bekämpft werden kann, ist falsch. Dieser Kurs führt letztendlich dazu, dass man den Werkplatz Schweiz mit de facto Unternehmenssubventionen gegen aussen zu verteidigen versucht. Damit verteidigt man aber in erster Linie die Profite der Exportindustrie und greift in keiner Weise die Ursachen der Krise, das kapitalistische System, an.
EU-Beitritt und Regierungsbeteiligung
Bei den Fragen zum EU-Beitritt und der Regierungsbeteiligung zeigen sich durchaus Unterschiede zwischen den Kandidatinnen. So stellt Samira in Bezug auf die EU eine Kontinuität der pro-EU-Linie der Geschäftsleitung dar. Sie schrieb im Online Hearing: «Die globalisierte Wirtschaft kann nicht über nationalstaatliche Politik reguliert und umstrukturiert werden. Dafür brauchen wir eine starke internationale Bewegung. Die EU kann dabei Mittel zum Zweck sein. Als InternationalistInnen sollten wir die politische Bühne der EU nutzen, um vernetzt auftreten zu können und den internationalen Diskurs zu prägen.» Der erste Teil ist natürlich völlig richtig. Nur eine internationalistische Herangehensweise hat das Potential, den Kapitalismus zu stürzen. Der Schluss, dass die EU daher das Mittel zum Zweck ist, ist jedoch ein Trugschluss. Wie wir schon immer betont haben, ist die EU ein Projekt der Bourgeoisie (Grossbürgertum) zur Vergrösserung der Absatzmärkte und zur Vergrösserung des Einflusses des europäischen Kapitals auf dem Weltmarkt. Sie ist äusserst undemokratisch und vertritt aggressiv die Interessen der Kapitalisten. Zu glauben, dieses Konstrukt sei reformierbar, ist eine gefährliche Illusion.
Tamara findet in dieser Frage klar radikalere Worte: «Ich bin für ein internationalistisches Projekt, das die Menschen ins Zentrum stellt und nicht die Märkte. Ein internationalistisches Projekt, das die Verbesserung der Lebensumstände aller Menschen zum Ziel hat und nicht das bessere Funktionieren der Märkte. Aus diesen Gründen sage ich in der momentanen Situation Nein zu einem EU-Beitritt der Schweiz.»
Wenn wir die Frage der EU diskutieren, ist es jedoch sehr wichtig, dass wir auf keinen Fall argumentieren, es gäbe eine isoliert nationalstaatliche Lösung. Die Gesetze des Kapitalismus herrschen überall und diktieren die Angriffe auf den Lebensstandard. Wir müssen aber deutlich sagen, dass die Forderung nach einem EU-Beitritt kein Mittel im Kampf für den Sozialismus sein kann und wir daher auch nicht dafür kämpfen sollten. Unsere Herangehensweise muss die vereinten sozialistischen Staaten von Europa zum Ziel haben. In letzter Instanz ist eine langfristige europäische Integration auf kapitalistischer Basis nicht möglich.
Auch bei der Regierungsbeteiligung gibt es klare Unterschiede. Beide Kandidatinnen sprechen sich zwar für eine bessere Kontrolle der ExekutivpolitikerInnen aus. Samira verteidigt jedoch die Linie, dass die Partei ihre RegierungsmitgliederInnen frei kritisieren müsse, während Tamara die demokratische Kontrolle der ExekutivpolitikerInnen fordert. Diese Forderung ist zentraler Bestandteil unseres Kampfes innerhalb der SP für einen besseren Einbezug der Basis, mehr Parteidemokratie und eine verbindliche Beschlussfassung. Die Position der neuen JUSO-Präsidentin in dieser Frage ist von grosser Bedeutung. Nicht zuletzt in der Diskussion zur Oppositionspolitik der SP wird die Regierungsbeteiligung immer wieder angesprochen werden müssen. Die Position der Juso-Führung kann hier eine entscheidende Rolle spielen.
Kritik und Unterstützung
Dieser Artikel befasst sich vor allem mit den programmatischen Aussagen der beiden Kandidatinnen und unserer Kritik. Es ist sehr wichtig, diese Fragen immer wieder möglichst breit zu diskutieren. Wir haben in diesem Artikel dargelegt, warum wir der Ansicht sind, dass Tamara die etwas radikalere Kandidatin ist und wir empfehlen, sie zu wählen. Es soll hier aber nochmals klar betont werden, dass beide Programme in ihrer Radikalität ein gewaltiger Schritt nach vorne sind.
Unsere Unterstützung gilt letztendlich nicht der einen oder anderen Person, sondern den politischen Positionen und ihrer Umsetzung. Wir werden auch in Zukunft jeden Schritt der JUSO zu einer radikalen Politik in Richtung der Überwindung des Kapitalismus unterstützen. Jeden Schritt zurück zu Zugeständnissen an die herrschende Klasse und zur Verbannung des Kampfes für den Sozialismus in die ferne Zukunft werden wir scharf kritisieren.
Wir sind überzeugt, dass auf der politischen Grundlage beider Programme eine weitere Stärkung der JUSO möglich ist. Voraussetzung dafür ist natürlich die Umsetzung der politischen Programme. Diese werden wir wie anhin kritisch, aber enthusiastisch und tatkräftig begleiten.
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