Die internationale sozialistische Konferenz in Zimmerwald vom 5. bis 8. September 1915 feiert diesen Herbst ihr 100-jähriges Jubiläum. Diese Zusammenkunft fand während eines epochalen Umbruchs, dem Ersten Weltkrieg, statt. Die Welt stand in Flammen und ein kleines Häufchen SozialistInnen versuchte dem Gemetzel ein Ende zu bereiten. Eine kurze Analyse zu diesem heroischen Unterfangen.
Die Konferenz war zweifelsohne eine Zäsur. Die Zweite Internationale und die in ihr organisierten Parteien, allen voran die deutsche und französische Sozialdemokratie, liefen offen zu ihren jeweiligen nationalen Bourgeoisien über. Mit dem Burgfrieden gaben sie den Herrschenden die Gewissheit, dass die Arbeiter stillhalten werden, und ihre Parlamentsabgeordneten stimmten den Krediten für den imperialistischen Krieg zu. Doch nicht alle verrieten den proletarischen Internationalismus. Die wahren SozialistInnen versuchten sich zu reorganisieren. Sie taten dies mitten im Ersten Weltkriege im kleinen Berner Dorf Zimmerwald. Es trafen sich dort 37 GenossInnen aus 12 verschiedenen Ländern zu einer Konferenz, an welcher auch die beiden russischen Revolutionäre Lenin und Trotzki teilnahmen.
Obwohl viele TeilnehmerInnen im Herbst 1915 noch vor dem offenen Bruch mit der Zweiten Internationalen zurückschreckten, wurden die inhaltlichen Differenzen zu dieser bereits offensichtlich. Dazu das Zimmerwalder Manifest: „In dieser unerträglichen Lage haben wir (…) die nicht auf dem Boden der nationalen Solidarität mit der Ausbeuterklasse, sondern auf dem Boden der internationalen Solidarität des Proletariats und des Klassenkampfes stehen, uns zusammengefunden, um die zerrissenen Fäden der internationalen Beziehungen neu zu knüpfen und die Arbeiterklasse zur Selbstbesinnung und zum Kampfe für den Frieden aufzurufen.“2 Während sich die Leitung der Zweiten Internationale im Nichtstun übte und die Sozialpatrioten die kriegerischen Aktivitäten ihrer Bourgeoisien unterstützten, stellten sich die RevolutionärInnen auf den Boden des Klassenkampfes. Zwar gab es zwischen dem linken Flügel rund um Lenin und der Mehrheit der Konferenz Differenzen, insbesondere in der Frage der Eroberung der politischen Macht und der dazu nötigen Kampfmittel, doch das Manifest wurde einstimmig verabschiedet. Denn wie der linke Flügel in einem Zusatzprotokoll zur Konferenz festhielt, war das Manifest ein Aufruf zum Kampfe.3
Echo und Bedeutung
Die Zensur in Deutschland, Frankreich, Österreich und Russland verhinderte die offizielle Publikation der Konferenzmaterialien. In den meisten kriegsführenden Ländern musste das Manifest also illegal verbreitet werden. Zugleich setzte die europäische Presse alles daran, die Bedeutung der Zimmerwalder Konferenz herabzusetzen. Doch wie der marxistische Historiker Reisberg schreibt: „Die Zimmerwalder Konferenz hat in der Welt und vor allem in der internationalen Arbeiterbewegung weitestes Echo gefunden. Die sozialdemokratischen Parteien sahen sich gezwungen Stellung zu beziehen, die einen, um die Zimmerwalder Bewegung, die die Oppositionsgruppen ermutigte, zu bekämpfen, die anderen, um sich ihr anzuschliessen und der Internationalen Sozialistischen Kommission [Eingesetztes Koordinationsgremium der Zimmerwalder Bewegung] beizutreten.“4 Von 28 in Europa und Amerika bestehenden sozialdemokratischen Parteien sprachen sich 13 offizielle Parteien und 8 Oppositionsgruppen aus insgesamt 18 Ländern für den Anschluss an Zimmerwald aus. Auch auf die Massen der ArbeiterInnen hat die Konferenz gewirkt. Ein deutscher Delegierter hielt dazu in Kiental (Zweite Zimmerwalder Konferenz vom April 1916) fest: „Die Tatsache der Konferenz, dass deutsche und französische Genossen in Zimmerwald gewesen sind, das hat auch auf jene gewirkt, die den Inhalt des Manifestes nicht gekannt haben.“5
Die Kientaler Konferenz
Nach der Zimmerwalder Konferenz verschlechterte sich die Lage für die Menschen in den kriegsführenden Ländern zusehends und es begann sich Widerstand zu formieren. Bereits im Herbst 1915 kam es wegen schlechten Lebensbedingungen in Russland vermehrt zu Streiks und Demonstrationen. In Irland kam es 1916 zum Osteraufstand und im Zuge dessen zu einer stark sinkenden Bereitschaft der Iren, weiter am Krieg teilzunehmen. In Deutschland hatte sich die Versorgungslage der Zivilbevölkerung im Winter 1915/16 bereits verschlechtert. Auch kam es zu offenen Rissen in den Reihen der Arbeiterbewegung. Unter anderem kam es auch in Österreich und Frankreich 1916 zu wilden Streikwellen. Eine weitere Konferenz wurde nötig.
Vom 24.-30. April 1916 fand in Kiental (Kanton Bern) die zweite Zimmerwalder Konferenz statt. Diese häufig ignorierte oder vernachlässigte Konferenz war ebenso wichtig für den weiteren Fortgang der revolutionären Bewegungen wie die erste. In der internationalen marxistischen Rundschau „Vorbote“, die kurz nach Kiental erschien, meinte der Russe Sinowjew dazu: „Es gilt den Massen klar und unzweideutig zu sagen, dass nur die revolutionäre Intervention der Massen selbst auf den Strassen – durch Demonstrationen, Streiks, kurz durch Kampf – der Krieg abgekürzt werden kann. Es gilt ihnen zu sagen, dass nur durch die Eroberung der politischen Macht weitere, sonst unvermeidliche imperialistische Räuberkriege beseitigt werden können. Es gilt, ihnen zu sagen, dass die Losungen der Abrüstung der Schiedsgerichte, des „demokratischen Friedens“, in der imperialistischen Epoche Utopien sind.“6 Dieselbe Einschätzung teilte nun ein viel grösserer Teil der Delegierten als noch in Zimmerwald. Die Ideen der Linken gewannen massiv an Kraft. Es wurde an der Konferenz offensichtlich, dass nun die Frage im Raum stand: Zweite oder Dritte Internationale. Es kam zwar noch nicht zum völligen Bruch aller Delegierten mit den „Alten Parteien“, doch deutete damals alles in diese Richtung. Dies untermauerte auch die Tatsache, dass die deutsche Sozialdemokratie durch die Spaltung der Reichstagsfraktion im Frühjahr 1916 zerrissen wurde.
Von Stockholm zur Dritten Internationale
Im Januar 1917 fand schliesslich die dritte Zimmerwalder Konferenz in Stockholm statt. Zwar konnten an dieser nur noch wenige Delegierte teilnehmen, es wurde aber ein Aufruf zum internationalen Massenstreik verfasst. Für die Veröffentlichung sollte ein geeigneter Zeitpunkt abgewartet werden. Kurze Zeit später brach die Februarrevolution in Russland aus und die Internationale Sozialistische Kommission (ISK) publizierte den Aufruf. Nach der russischen Oktober- kam dann auch die Deutsche Revolution, die den Krieg im November 1918 endgültig beendete. Im März 1919 wurde schliesslich die Dritte Internationale gegründet. Oder wie es die Revolutionärin und Mitglied der ISK Angelica Balabanova ausdrückte: „Zimmerwald hatte seine Schuldigkeit getan: Während des Krieges die Fahne der proletarischen Internationale hochgehalten, die Massen zum sozialistischen Kampfe für den Frieden aufgefordert. Zimmerwald konnte gehen!“ 7
Es waren die Massenaktionen der ArbeiterInnen, die den Ersten Weltkrieg beendet haben. Die Zimmerwalder Bewegung hat das Ihrige dazu geleistet. Der linke Flügel rund um Lenin hatte sich durchgesetzt. Es war nötig, die Sozialpatrioten der Zweiten Internationale ideologisch zu bekämpfen und mit ihnen zu brechen. Das Programm der Linken wird in der Losung von Karl Liebknecht, Burgkrieg statt Burgfrieden, in aller Schärfe zusammengefasst. Dies ist das Programm gegen den Krieg und für den sozialistischen Frieden.
Das neue Zimmerwalder Manifest 2015?
Im April 2015 haben die Young European Socialists, der Dachverband der europäischen JungsozialistInnen, auf Vorschlag der JUSO hin ein neues Zimmerwalder Manifest verabschiedet.8 An sich eine löbliche Aktion, leider krankt dieses Manifest jedoch an genau den gleichen Mängeln, die zum Verrat der Zweiten Internationalen am Weltproletariat geführt hatten. Zwar wird im Manifest anerkannt, dass die eigentlichen Konfliktlinien entlang von Klassenlinien verlaufen, doch kommt in den Forderungen deutlich heraus, dass dies nur eine opportunistische Phrase ist. Ein wenig demokratischere UNO und EU, ein wenig mehr Diplomatie, Verbot von Waffenexporten und noch ein wenig Abrüstung. In einem weiteren Forderungskatalog kommen dann noch etwas weitergehende Forderungen wie der Kampf gegen Austerität, Armut und Hunger, der Kampf gegen die ungleiche Verteilung von Ressourcen und ein Ende der Politik vom freien Markt. Leider verpasst es diese Schrift, den Kern des Problems, die Produktionsverhältnisse, aufzugreifen. Sie stellt idealistische Forderungen und bleibt im Rahmen der reformistischen Logik gefangen, statt der Jugend einen wirklichen Ausweg aus der sozialen Misere aufzuzeigen. Der Geist der Zimmerwalder Bewegung war ein anderer!
Und heute?
Im Unterschied zu den Weltkriegen gehen die imperialistischen Mächte heute eher verdeckt gegeneinander vor. Wir stehen heute zwar nicht vor einem weiteren Weltkrieg, trotzdem sind so viele Menschen auf der Flucht vor Krieg und Elend wie seit eben diesen grossen Kriegen des letzten Jahrhunderts nicht mehr. Im Interesse von Unternehmen und Banken lassen Regierungen ihr Militär marschieren. Die Bombardierung Libyens, der Einmarsch der Franzosen in Mali, die iranischen Truppen im Irak oder die saudische Intervention im Jemen sind nur einige wenige Beispiele. Die Grossmächte, ob internationale oder regionale, rüsten massiv auf. In Ostasien beispielsweise findet aktuell eine rasante Militarisierung statt. Diese Interventionen und Aufrüstungen dienen nur dazu, die Profite der kapitalistischen Klasse zu sichern und auszubauen. Das Resultat: Die grosse Mehrheit der betroffenen Bevölkerung leidet unter dem barbarischen Joch der Kapitalinteressen. Krieg, Hunger und Elend sind Ausdruck davon. Es ist an der Zeit, wieder eine weltweite revolutionäre Organisation aufzubauen, um der Arbeiterklasse ein Werkzeug in die Hand zu geben, die kapitalistische Barbarei zu beenden.
Jonas Gerber
Juso Bern
Fussnoten:
1. Brief von Karl Liebknecht an die Konferenz, in: Bericht über die Verhandlungen der Internationalen sozialistischen Konferenz abgehalten vom 5.-8. September 1915 zu Zimmerwald (Schweiz), in: Horst Lademacher (Hg.), Die Zimmerwalder Bewegung. Protokolle und Korrespondenz, Bd. 1 Protokoll, 2 Bde, Den Haag 1967, S. 55.
2. Zimmerwalder Manifest, in: Ebenda, S. 166-169.
3. Stellungnahme des linken Flügels, in: Ebenda, S. 154.
4. Reisberg, Arnold, Lenin und die Zimmerwalder Bewegung, Berlin 1966, S. 186.
5. Protokoll der II. Internationalen sozialistischen Zimmerwalder Konferenz, in: Lademacher Bd. 1, S. 289.
6. Zinoview, Grigory, Die zweite Zimmerwalder Konferenz, in: Vorbote Nr. 2, April 1916, S. 61.
7. Balabanoff, Angelica, Erinnerungen und Erlebnisse, Berlin 1927, S. 227.
8. Zweites Zimmerwalder Manifest, <www.juso.ch/wp-content/uploads/2015/08/141007_Zimmerwalder_Manifest_def.pdf> (Zugriff: 01.09.2015).
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