Der öffentliche und halböffentliche Dienst im Kanton Waadt hat gegen die verweigerte Lohnerhöhung und die Konsequenzen der Inflation gestreikt. Die Sackgasse des Kapitalismus führt zu verhärteten Fronten und zum offenen Ausbruch des Klassenkampfes – auch in der Schweiz.
Der Kanton Waadt startete das Jahr 2023 mit der grössten Streikbewegung seit 15 Jahren. Der öffentliche und halböffentliche Dienst ist bis zum Redaktionsschluss schon fünf Tage in den Streik gegen den gestrichenen Teuerungsausgleich getreten. Verschiedene Sektoren wie die Lehrer, Polizisten, Sozialarbeiter oder die Pflegenden des Unispitals Lausanne kämpften gegen das geplante Budget des Regierungsrates. Dieser weigerte sich, die Löhne der Angestellten der Inflation anzupassen und hat entsprechende gesetzliche Verpflichtungen erstmals ausgesetzt. Die Staatsangestellten organisierten zusammen mit den Gewerkschaften eintägige Streiks mit anschliessenden Demonstrationen. In regelmässigen Vollversammlungen wurden weitere Kampfmassnahmen diskutiert. Am Höhepunkt des Kampfes Ende Januar waren 2’150 Lehrer von 43 Schulen im Streik. Am 22. März findet die nächste Verhandlung mit dem Staatsrat (kantonale Regierung) statt. Bis heute verweigert die bürgerliche Regierung den Teuerungsausgleich.
Wieso führt die Frage des Teuerungsausgleich heute zu einer solchen Streikbewegung? Dazu dürfen wir die Frage der aggressiven Sparpolitik der Kantonsregierung nicht isoliert anschauen.
Der Kapitalismus ist weltweit in eine neue Phase seiner organischen Krise eingetreten: Inflation, Stagnation oder gar Rezession und eine rückläufige Globalisierung, die zur rasanten Zunahme der Konkurrenz zwischen den Kapitalisten und den Staaten führt. Der Schweizer Kapitalismus kann sich dieser Krise nicht entziehen. Er ist den Geschehnissen auf Weltebene voll ausgeliefert.
Im Waadtland sehen wir exemplarisch die gleichen Tendenzen wie in der gesamten Schweizer Volkswirtschaft: Die Binnenwirtschaft stagniert oder schrumpft (z.B. der Bau). Die vom Welthandel abhängigen Sektoren sind unsicher, nur die Pharma- und die Chemiebranche verzeichnen Wachstum. Dazu kommt, dass die Nationalbank keine Ausschüttungen an die Kantone vorsieht. Der Staatsrat hatte mit 124 Millionen gerechnet, bekommt aber nichts. Deshalb kürzt die Kantonsregierung seit Jahren und senkt Steuern für Unternehmen und Reiche (z.B. Unternehmenssteuerreform III).
Die Perspektiven der kommenden Krisenjahre bedeuten, dass die Sparmassnahmen der Vergangenheit nicht genügen. Die kommenden Angriffe werden noch viel schmerzhafter. Das Kantonsbudget und die fehlende Lohnerhöhung sind erst der Anfang. Das Kapital geht in die Offensive mit einer Initiative zur Steuersenkung. Ihre Devise ist klar: Die Arbeiterklasse soll für die Krise zahlen.
Die Bürgerlichen können sich keine Konzessionen mehr leisten, doch die Arbeiterklasse kann keine neuen Angriffe akzeptieren. Das ist ein fertiges Rezept für die Verschärfung des Klassenkampfes.
Der fehlende Lohnausgleich fürs Personal des öffentlichen und halböffentlichen Dienstes ist ein breiter Angriff auf ihre Lebensbedingungen. Die Inflation trifft auf jahrelanges Zusammensparen im öffentlichen Dienst. Besonders bei den Lehrern und in der Pflege wurde in den letzten 20 Jahren radikal gekürzt. Dazu kamen zwei Jahre Pandemie, die ihre Kräfte strapaziert haben. Für diese Sektoren ist keine Entspannung in Sicht, im Gegenteil: Sie sind jetzt einer Lohnkürzung bei steigenden Krankenkassenprämien und Energierechnungen ausgesetzt. Es ist klar, dass es unter den Lohnabhängigen eine enorme Wut über diesen Angriff gibt.
Einer grossen Schicht der Arbeiterklasse steht das Wasser schon bis zum Hals. Ihr Verdienst reicht nicht aus, um ein gutes Leben zu führen. Die Arbeitsbedingungen sind nicht mehr auszuhalten. Aussagen der Streikenden zeigen, wie gross die Not ist. Eine alleinerziehende Mutter, angestellt in der kantonalen Administration, erklärte, dass ihre finanzielle Situation schon immer knapp war. Jetzt kommen erhöhte Lebensmittelpreise, Krankenkassenprämien und Energieabrechnungen dazu. Der Lohn ist das einzige, was nicht in die Höhe schnellt. Diese Angriffe drücken den Kopf der Arbeiter unter Wasser und zwingen somit immer mehr Teile in den Kampf. Das ist der Grund, warum sich der Streik so rasch ausgebreitet hat.
Doch das ist nicht nur im Kanton Waadt der Fall. In der ganzen Schweiz wurde in den letzten 20 Jahren in allen Kantonen gespart. Dazu kommt die Inflation als breiter Angriff auf die ganze Arbeiterklasse. Das sind Pulverfässer, die zu explodieren drohen. Es kann überall in der Schweiz zu solchen Kämpfen kommen. Das Waadtland ist kein Sonderfall, sondern Vorläufer von dem, was in der ganzen Schweiz in den nächsten Jahren ansteht.
Einige Sektoren des Kanton Waadt hatten schon Streikerfahrung und eine, im Schweizer Vergleich, kämpferische Gewerkschaftsführung. Doch es sind auch viele neue Schichten, die dieses Jahr gestreikt haben und erste Erfahrungen im Kampf gemacht haben.
Und es gibt Sektoren, die erste Schritte von der Defensive in die Offensive machen: Sie erklären, dass der Teuerungsausgleich das Minimum ist. Ein Teil der Sozialarbeiter fordert daneben auch bessere Arbeitsbedingungen. Die ganze Arbeiterklasse braucht heute wirkliche Verbesserungen ihrer Lebens- und Arbeitsbedingungen. Doch das geht diametral gegen die Interessen der Kapitalisten. Darum ist es notwendig, für Verbesserungen zu kämpfen. Immer mehr Teile der Arbeiterklasse ziehen genau diese Schlussfolgerung.
Die Fronten zwischen den Klassen verhärten sich. Weil sich die Sackgasse des Kapitalismus zuspitzt, verhärtet sich der Klassenkampf auch im Waadtland. So sahen sich SVP und FDP gezwungen, die Streikenden in den Medien offen zu provozieren und zu beleidigen («Geiselnehmer»). Sie versuchten, die Arbeiterklasse zu spalten, indem sie die Angestellten der Privatsektoren gegen die Angestellten des öffentlichen Dienst aufhetzten.
Weiter versuchte die Regierung mit Spaltungstaktiken die Bewegung auszubremsen, indem sie lächerliche Konzessionen vorschlug: keine Lohnerhöhung, dafür Schein-Massnahmen fürs Klima und gegen sexuelle Belästigung.
Doch das funktionierte nicht. Es gibt eine einzige klare Spaltung in der Streikbewegung: Jene zwischen der Kantonsregierung und den Streikenden. Die Stimmung während der ganzen Streikbewegung war klar: sie gegen uns, wir gegen sie.
Das Westschweizer Fernsehen spricht vom Ende der Ära der Kompromisse im Kanton Waadt. Das stimmt: Diese Periode ist schon lange vorbei. Diese «Kompromisse» bestanden aus Zugeständnissen an die Kapitalisten auf dem Rücken der Arbeiterklasse – ohne Gegenwehr der Lohnabhängigen. Was sich geändert hat, ist die Antwort der Arbeiterklasse – heute gibt es Widerstand!
Sparmassnahmen und das Abladen der Krise auf die Lohnabhängigen sind eine Notwendigkeit für das Kapital in der Krise und nicht einfach Resultat einer «schlechten» oder «unfairen» Politik. Im Rahmen des Kapitalismus wird das Kantonsbudget direkt vom Zwang des Kapitals diktiert. Deshalb sind Moralappelle an die Regierung keine Lösung.
Die Waadtländer Regierung wird durch freundliches Bitten keine Konzessionen abgeben – sondern nur unter dem hohen Druck der kämpfenden Arbeiterklasse. Doch letztlich ist der Kampf gegen die bürgerliche Spar- und Krisenpolitik nur möglich als Kampf gegen den Kapitalismus. Innerhalb des Kapitalismus gibt es keine Lösung für die Arbeiterklasse. Jeder Angriff, den wir heute abwehren, jedes Zugeständnis, das wir uns erkämpfen, werden sie uns morgen wieder wegnehmen. Deshalb muss unser Kampf nicht nur um bessere Löhne gehen, sondern um die Kontrolle über den Reichtum der Gesellschaft.
Das ist die neue Periode des Klassenkampfes. Das Waadtland zeigt der Arbeiterklasse der ganzen Schweiz, was auf uns zukommt. Die Arbeiterklasse braucht Klarheit darüber, dass diese Angriffe kommen werden und wie man dagegen kämpft. Die Arbeiterklasse im Kanton Waadt und in der ganzen Schweiz muss lernen, dass sie nur auf ihre eigene Kraft setzen kann.
Sereina Weber, Der Funke
Europa — von Jack Halinski-Fitzpatrick, marxist.com — 11. 11. 2024
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