Ein Interview mit einer Pflegefachfrau eines Spitals der Nordwestschweiz. Sie erzählt über ihre Arbeitsbedingungen vor und während Corona, den Missständen in den Spitälern, ihren Erwartungen an die Gewerkschaften und ihren Forderungen für ein qualitativ hochwertiges Gesundheitssystem.
Wir veröffentlichen Berichte aus dem Alltagsleben der Lohnabhängigen, die trotz dem Coronavirus zur Arbeit gehen müssen – unabhängig davon, ob ihre Arbeit lebensnotwendig ist oder nicht. Dies soll aufzeigen, wie inkonsequent die Massnahmen des Bundes sind. Die Corona-Krise soll nicht auf den Schultern der Lohnabhängigen abgewälzt werden!
Wir fordern, dass alle, die nicht-essentielle Arbeit machen müssen, zu Hause bleiben dürfen. Nur so kann die Pandemie eingedämmt werden. Leben vor Profite!
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Was sind deine Erfahrungen am Arbeitsplatz und im Austausch mit KollegInnen in deinem Beruf: Wo siehst du die brennendsten Probleme im Pflegebereich?
Es ist schwierig, DAS Problem zu bestimmen, es gibt sehr viele Probleme. Das problematische ist: Sie bedingen sich und treiben sich gegenseitig in eine Abwärtsspirale.
Das größte akute Problem ist der Fachkräftemangel im Pflegebereich. Insbesondere fehlt es an qualifiziertem Personal, sprich Personen mit einem Abschluss auf Tertiärstufe. Hier werden jedes Jahr nur etwa 43% des eigentlichen Bedarfs abgedeckt. Der Bedarf setzt sich aus dreierlei Faktoren zusammen: Einerseit wird die Schweizer Gesellschaft immer älter. Damit nimmt die Anzahl an Patienten zu. Zweitens nehmen mit steigendem Alter chronische Erkrankungen wie beispielsweise Diabetes zu. Diese chronischen Erkrankungen erfordern in den Spitälern mehr Personal, da die Patientenfälle komplexer werden. Sie erfordern aber auch im ambulanten Bereich mehr Personal, da diese Menschen oft zu Hause Unterstützung benötigen. Zudem genießt der Pflegeberuf zwar gesellschaftlich ein hohes Ansehen, ihn zu ergreifen gilt aber weiterhin als unattraktiv. Die schlechte Bezahlung, Schichtarbeit und die körperlichen wie psychischen Belastungen schrecken ab. Zudem verlassen viele ausgebildete Pflegefachpersonen den Beruf nach wenigen Jahren schon wieder, da die Arbeitsbedingungen auf Dauer unerträglich sind.
Ein weiteres Problem sind die prekären Arbeitsbedingungen, die aus dem Spardruck entstehen, dem die Spitäler ausgesetzt sind. Personalkosten machen ⅔ der Gesamtausgaben eines Spitals aus. Wenn die Personalkosten nicht aktiv gesenkt werden, so gibt es für die Angestellten nur kleine Lohnsteigerungen oder, noch geschickter, es steigt einfach die Anzahl der Patienten, die pro Schicht von einer/einem Pflegenden betreut werden müssen. Fehlendes Personal wird nicht ersetzt. Ebenfalls sinkt die Aufenthaltsdauer der Patienten. Was für das Spital gesteigerte “Effizienz” heisst, bedeutet für die Pflegenden noch mehr Stress. Denn so müssen Patienten in viel kürzerer Zeit auf ihr Leben nach dem Spital vorbereitet werden. Ein Praxisbeispiel: Einem älteren Herrn, bei dem im Rahmen seines Spitalaufenthalts ein Diabetes festgestellt wurde, muss beigebracht werden, warum es wichtig ist, dass er sein Übergewicht verliert, wie er das erreichen könnte, wie genau er sich Blutzucker misst, wie er die Werte interpretiert, wie er sich Insulin spritzt und dass er seine Fußnägel ab jetzt nur noch von einem Spezialisten schneiden lassen darf. Das ist ein massiver Aufwand, der neben der normalen Arbeitslast bewältigt werden muss, und für den weder extra Zeit noch zusätzliches Personal zur Verfügung steht.
Ein weiteres Problem ist, dass die Stationen durch die verschärfte Personalsituation ihrem Ausbildungsauftrag nicht gerecht werden können. Schüler müssen viel zu früh Verantwortung übernehmen und Pflegehandlungen ohne Begleitung einer Fachperson direkt am Patienten erlernen. Dass dadurch weder die Pflegequalität noch das Interesse am Pflegeberuf steigt, ist einleuchtend.
Was siehst du als die Gründe für diese Probleme an?
Die Gründe finden sich vor allem in der Politik. Die Anliegen von Pflegenden wurden jahrelang ignoriert und werden es immer noch. Sparmaßnahmen, Privatisierungen waren und sind wichtiger als das Schaffen einer menschenwürdigen Arbeitsumgebung für Pflegende. Auf perfide Weise werden Interessen der Arbeiterschaft gegeneinander ausgespielt. Während dem Wahlvolk auf der einen Seite wirtschaftliche Erleichterung durch sinkende Krankenkassenprämien versprochen werden, steht auf der anderen Seite die Verschärfung der Arbeitsbedingungen Pflegender und die damit einhergehende sinkende Pflegequalität. Es ist ein Dilemma, das nicht als solches präsentiert wird. In Wahlkämpfen werden stets die vermeintlich sinkenden Prämien betont. Vergessen zu erwähnen wird, wo vermeintlich sinkende Prämien eingespart werden – nämlich bei uns Pflegenden. Spitäler stehen ebenso unter dem Konkurrenzdruck wie die Industrie. Sinkende Wirtschaftlichkeit wird auf die Angestellten abgewälzt. Das unter dem Spardruck schlussendlich die ganze Gesellschaft leiden muss, ist im Falle des Gesundheitswesens besonders tragisch.
Ein anderes Problem stellen die Pflegenden selbst dar. Klassischerweise sind die Pflegenden nicht besonders revolutionär gestimmt. Ohne in Schubladen zu denken, neigen sie dazu, verschärfende Arbeitsbedingungen lange hinzunehmen oder eher in Teilarbeit zu gehen oder das Berufsfeld zu wechseln, als für ihre Belange einzustehen. Der Organisationsgrad unser Berufsgruppe ist sehr klein. Aber auch das hängt mit der Politik zusammen. Pflegenden wird eingeredet, sie würde ihren Auftrag verraten, wenn sie streiken würden. Sie würden das Wohl ihrer Patienten vernachlässigen. Diese Aussage ist gefährlich, denn sie appelliert einerseits an eine veraltete Berufsauffassung und untergräbt das eigentlich Entscheidende: Wenn der Sparzwang den Fachkräftemangel aufrechterhält oder gar verschärft, wird eine Vernachlässigung der Patienten eintreten. Spitzt sich der Fachkräftemangel weiter zu, wird die Lage so prekär, dass selbst unter vollstem Einsatz und Selbstvernachlässigung die Arbeitslast für Pflegende nicht mehr bewältigbar ist.
Was müsste im Gesundheitswesen grundlegend verbessert werden?
Die Vorschläge gelten für Spitäler wie auch für ambulante Dienste und Alters- und Pflegeheime.
Was braucht es deiner Meinung nach, um diese Forderungen umzusetzen?
Pflegende müssen diese Forderungen aufstellen und sie in ihrem Team und nach Aussen geschlossen vertreten. Dies bedeutet in einem ersten Schritt, dass sich Pflegende ihrer Situation bewusst werden und den Schluss ziehen, dass nur ein Zusammenschluss ein Erreichen der Ziele möglich macht. Die offensive Unterstützung durch Gewerkschaften würde helfen. Die Gewerkschaften sollten in Lohn- und GAV-Verhandlungen harte Kante zeigen und zusätzlich zusammen mit den Pflegenden und der Ärzteschaft einen Streikplan ausarbeiten, der im Notfall als Druckmittel eingesetzt werden kann. Hier ist es wichtig zu verstehen: Ein Streik in einem Spital bedeutet nicht, dass Menschen nicht versorgt werden oder dem Tod überlassen werden. Es bedeutet, die Stationen dazu zu zwingen, so viele Betten zu sperren, bis nur noch absolut notwendige Behandlungen durchgeführt werden. Das heißt, die Versorgungslage in den Spitälern würde sich nicht groß von jener während der Corona Pandemie unterscheiden.
Seit Ausbruch der Pandemie gab es nun verschiedene Massnahmen, um mit dieser Krise umzugehen: Welche Massnahmen waren das und wie bewertest du diese?
Schlussendlich laufen alle Maßnahmen auf eine Minimierung des Kontakts zwischen Menschen hinaus. Diese Maßnahmen sind richtig. Allerdings hätte ich mir eine emotionsbefreitere Berichterstattung gewünscht, damit es nicht zu einem massenhaften Diebstahl von chirurgischen Masken und Desinfektionsmittel in den Spitälern kommt. Ebenfalls befremdlich ist der international zu beobachtende Fokus auf die Versorgung der eigenen Nation, mit einem Zurückhalten von Material am Zoll und einem Verschwinden von Materialien. Die Maßnahmen in den Spitälern wie Besuchsverbote, einem eigenen Notfallbereich und einem Einrichten von eigenen Corona-Stationen finde ich gut. Nicht zu akzeptieren ist eine Ausweitung der Arbeitszeit auf über 12 Stunden, wie es in manchen Spitälern der Fall war. Die Tatsache, dass selbst Angehörigen von Sterbenden nicht kommen durften, ist konsequent und rational betrachtet vermutlich richtig, dies als Pflegende emotional zu ertragen ist dennoch sehr schwer. Eine schrittweise Öffnung begrüße ich, wenn auch nur unter Einhaltung strenger Auflagen und einer guten Berichterstattung. Die Krise ist noch nicht überstanden, und nur weil in der ersten Welle die Beatmungsplätze auf den Intensivstationen nicht vollständig belegt waren, heißt dies nicht, dass wir bei einer zweiten Welle das gleiche Glück haben werden.
Was sagst du zum Bundesratsentscheid, in der Gesundheit die Arbeitszeitbeschränkung und Ruhezeiten auszuhebeln und dass Risikogruppen zur Arbeit gezwungen werden können?
Das ist skandalös! Vor allem weil diese Maßnahmen nicht notwendig gewesen wären. Während in einigen Spitälern die Pflegenden mehr als 12 Stunden arbeiten mussten, meldeten andere Spitäler für ihre Beschäftigten Kurzarbeit an. Es ist klar: Nicht jeder/jede Pflegende kann eine Beatmungsmaschine bedienen, aber Hilfsarbeiten und unterstützende Tätigkeiten hätten übernommen werden können.
Wie war die Stimmung unter den Beschäftigten vor Corona und wie hat sich das verändert?
Die Stimmung war schon vor Corona oft von Frust und Unzufriedenheit geprägt. Die Kollegin, die darum bittet, mit Anfang sechzig keine Nachtschichten machen zu müssen, deren Wunsch abgelehnt wird. Der Kollege, der sagt, eigentlich liebe er seinen Beruf, aber unter den bestehenden Umständen sehe er sich gezwungen zu kündigen. Kollegen, die erzählen, sie würden ihren Kindern verbieten, eine Ausbildung im Gesundheitswesen zu beginnen. Die Beispiele sind zahllos. Durch Corona sind die Missstände in den Spitälern nochmals stärker zu Tage getreten. Auf die Belange der Pflegenden wird in vielen Spitälern keine Rücksicht genommen. Kinderbetreuung mussten sich viele Eltern, deren Kinder normalerweise in der Kita sind, selbst organisieren. Für viele bedeutet das finanzielle Einbußen. Die spitalinterne Kita können sich Pflegende nicht leisten. Zum Dank für den Mehraufwand, den körperlichen und psychischen Stress gibt es warme Worte und ein Danke von der Spitaldirektion. Das ist nett, die Miete kann man davon aber nicht bezahlen. Ein Bonus für dieses Jahr ist nicht im Gespräch. In der Krise zeigt sich die Profitorientierung der Spitäler deutlich, beim Personal entsteht ein neues Bewusstsein. Die meisten KollegInnen wünschen sich die Rückkehr zum normalen Tagesgeschäft. Noch mehr jedoch anständige Bezahlung und mehr Personal auf den Stationen. Laut vorgetragen werden diese Forderungen aber noch äußerst selten.
Die Gewerkschaften wären eine wichtige Anlaufstelle/Mobilisierungsort für die Beschäftigten: Wie bewertest du die Antworten der Gewerkschaften in der Corona-Krise und was müssten sie deiner Meinung nach tun?
Der Berufsverband der Krankenpflegenden schrieb eine Mail an alle Studierenden, deren Praktikumseinsatz um einen Monat verlängert wurde: Man habe Anspruch auf eine gerechte Entlohnung (mehr als den Ausbildungslohn) und sollte diesen bei den Vorgesetzten einfordern, andernfalls könne man sich auf den Rechtsbeistand des Berufsverbandes verlassen. Tags darauf ruderten sie zurück: Ganz so einfach sei dies doch nicht und nur in Ausnahmefällen eine Erhöhung des Lohns möglich. Das war zum Lachen oder auch zum Weinen. Ein anderes Beispiel war eine große Gewerkschaft, die von dem Angriff des Bundesrats auf den GAV überrascht schien. Die Gewerkschaften haben die Aufgabe, die Belange der Arbeitnehmer vor den Arbeitgebern zu vertreten. Sie sollten sich für bessere Arbeitsbedingungen, mehr Lohn und ein Einhalten des Arbeitsvertrages auch im Krisenfall einsetzen. Doch was sie tun, ist sich in die Bequemlichkeit der Sozialpartnerschaft zurückzuziehen. In der Krise bedeutet das noch mehr als sonst, sich den Entscheidungen der Unternehmensführungen zu beugen und sich mit kleinen Verbesserungen abspeisen zu lassen. Meiner Meinung nach sollten sie gerade jetzt Präsenz zeigen und sich einsetzen für die Belegschaften. Die Gewerkschaften müssen einsehen, dass Arbeitnehmer konträre Interessen zu ihren Arbeitnehmer verfolgen und dass es deswegen eine starke Stimme der Gewerkschaften benötigt, die die Arbeitnehmer zu vereinen und für ihre Belange vor den Direktionen einzutreten. Die Gewerkschaften sollten sich durch die Coronakrise in einer bequemen Position wiederfinden, es sollte ihnen leicht fallen, neue Mitglieder anzuwerben, da die Krise die Unzufriedenheit der Pflegenden verschärft und sie sich nach Veränderungen sehnen. Sie hätten ebenfalls einen guten Standpunkt gegenüber den Spitalleitungen, denn diese sind gegenüber der Leistung ihrer Pflegenden massiv in der Bringschuld. Außerdem erfahren Pflegende und die Situationen in den Spitälern viel Aufmerksamkeit durch die Öffentlichkeit. Und trotzdem passiert wenig. Die Gewerkschaften sind nicht präsent. Mit dem Lockdown kann das nicht begründet sein. Für Mitgliedschaften werben könnten die Gewerkschaften schließlich auch online, per Mail oder in Zweiergesprächen.
Die Zukunft in der Pflege sieht nicht gerade rosig aus: Der Kurs von Privatisierungen/ Kostensenkungsmassnahmen wird nach Aussagen der Spital-Verantwortlichen weitergeführt (WOZ berichtet). Was siehst du auf dich und deine KollegInnen zukommen?
Wenn die Arbeitsbedingungen sich weiter verschärfen, sieht die Zukunft sehr düster aus. Für die Pflegenden, die unter diesen Auswirkungen zu leiden haben, vor allem aber auch für das Gesundheitssystem im Allgemeinen. Es ist bewiesen, dass mit sinkender Anzahl von diplomierten Pflegekräften die Anzahl Todesfälle auf einer Station steigt. Für ein reiches Land wie die Schweiz, das sich mit Spitzenmedizin rühmt, wären solche Fälle ein Armutszeugnis und eine klare Aussage wie, wo und für wen die Prioritäten gesetzt werden.
Und was denkst du können die PflegerInnen, aber auch wir alle dagegen tun?
Pflegende müssen sich von der Mär trennen, dass sie ihren Beruf zum Wohle der Patienten ausüben, sie müssen erkennen, dass sie wie alle der Profitlogik unterworfen sind. Zudem müssen sie erkennen, dass das Einspringen bei fehlenden Diensten keine Solidarität bedeutet, denn darauf baut das System des Fachkräftemangels. Nur der Zusammenschluss im Team, das Aufstellen von Forderungen und das laute Vertreten von diesen kann eine Veränderung der bestehenden Missstände bewirken. Von der Bevölkerung würde ich mir wünschen, dass es nicht bei einem einmaligen Klatschen vom Balkon bleibt, sondern, dass sich die Bevölkerung an die Pflegenden erinnert, wenn die Pflegeinitiative zur Abstimmung steht. Die Pflegeinitiative fordert eine Verbesserung der Lohnsituation für Pflegende, eine staatliche Unterstützung der Aus- und Weiterbildung Pflegender, eine Vereinbarkeit von Beruf und Familie durch verlässliche Dienstplanung und die Umsetzung des Arbeitsgesetzes. Sonst gilt, informiert euch, was Pflegende leisten, worin überhaupt ihre Arbeit besteht. Verteidigt sie, wenn der Beruf zu Unrecht diskreditiert wird und engagiert euch in Gewerkschaften und Bewegungen, die für eine Verbesserung der bestehenden Arbeitsverhältnisse von Pflegenden einstehen.
Vielen Dank für das Interview
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