Seit Jahrzehnten bremst die Sozialpartnerschaft die Schweizer ArbeiterInnenbewegung aus und reklamiert ihre Errungenschaften für sich. Dabei wurde der soziale Fortschritt auch in der Schweiz immer auf der Strasse erkämpft.
Die Wurzeln der (heute) so hochgelobten «Sozialpartnerschaft» lassen sich auf den Landesstreik von 1918 zurückführen. Aus diesem Grund können SP und Gewerkschaften seinen Ausgang überhaupt als Erfolg werten. Nur ist die Sozialpartnerschaft keine soziale Errungenschaft der ArbeiterInnenbewegung. Vielmehr ist sie Ausdruck davon, dass sich die reformistische Linke mit dem kapitalistischen System abgefunden hat und es sich jetzt innerhalb dieser Grenzen möglichst bequem macht. Anstatt die ArbeiterInnenbewegung zu mobilisieren und so den bürgerlichen Staat unter Druck zu setzen, verlassen sie sich auf Hinterzimmerverhandlungen – und bremsen so den Kampf für weitere Errungenschaften aus. Dies zeigte sich in den Phasen erhöhten Klassenkampfs in der 30er- und 40er-Jahren.
In der Geschichte der Schweiz gibt es zwei entscheidende Perioden, in denen mit grossen Wellen von Arbeitskämpfen sozialpolitische Errungenschaften erlangt wurden: Beide fanden am Ende eines Weltkriegs statt, als sich die Klassengegensätze zugespitzt hatten und in beiden waren die Massenbewegungen der entscheidende Faktor.
Im Landesstreik von 1918 sah sich die Schweizer Bourgeoisie mit der Kraft der Arbeitenden konfrontiert. Diese hatten erkannt, dass die Macht für eine nachhaltige Änderung in ihren Händen lag. Anders sahen es die Vertreter des Oltener Aktionskomitee: Denn egal wie radikal sie auftraten, im Innersten glaubten sie nicht an die Veränderbarkeit der herrschenden Ordnung. Dies machten sich die Bürgerlichen zunutze, indem sie die reformistische Führung verwendeten, um die Bewegung auszubremsen.
Diese Erfahrungen hinterliessen tiefe Spuren im Bewusstsein aller Beteiligten, auf die man sich in den darauffolgenden Jahrzehnten besann. Zum Ausdruck kam dies auf Seiten der Bürgerlichen bereits 1919, als in Form des Proporzwahlrechts und der 48-Stundenwoche wichtige Konzessionen gemacht wurden. Bei den Arbeitenden äusserten sie sich in Form des abflauenden Klassenkampfs: die Mitgliederzahlen der Gewerkschaften und die Anzahl Streiks gingen ab 1921 dramatisch zurück, 1927 strich der SGB den Klassenkampf zugunsten einer «pragmatischen Herangehensweise» aus den Statuten.
Die Krise der 1930er-Jahre traf die Arbeitenden hart, der Unmut wuchs. Mit Verzögerung, nämlich als der Konjunkturaufschwung ab 1936 Aussicht auf Zugeständnisse der Unternehmer gab und sich die Streikkassen wieder gefüllt hatten, getrauten sich die Gewerkschaften wieder (Lohn-)Forderungen einzureichen. Hierin widerspiegelt sich ein Muster der Gewerkschaftsstrategie: Gestreikt, bzw. damit gedroht, wird erst, wenn es die Konjunktur zulässt. Da dies die Handlungsmöglichkeiten einschränkt, werden Alternativen gesucht, welche im Friedensabkommen von 1937 gefunden wurden.
Um der Drohung staatlicher Schlichtung bei Arbeitskonflikten zu entgehen, schlossen die Präsidenten des Schweizerischen Metall- und Uhrenarbeiterverband (SMUV, seit 2004 in der UNIA fusioniert) mit dem heutigen Swissmem ein Abkommen, welches zwar Arbeitszeit und Ferien regelte, jedoch explizit die Lohnfrage vorne aus liess. Es war diese «Lücke», die den entscheidenden Unterschied zu in anderen Branchen bereits bestehenden Gesamtarbeitsverträgen (GAV) bildete. Hingegen beinhaltete es die Pflicht (für beide Seiten), auf Kampfmittel zu verzichten – dies auch bei Punkten, welche nicht im Abkommen geregelt wurden. Der Weg für die «friedliche Zusammenarbeit» zwischen Gewerkschaften und Unternehmen war geebnet.
Entgegen dessen, was uns die gewerkschaftliche Mythenbildung heute weismachen möchte, wurden auch im «Land des Konsens» die grossen Fortschritte der ArbeiterInnenbewegung auf der Strasse erkämpft und nicht durch die Sozialpartner ausgehandelt. Vielmehr bildeten die Massenbewegungen die Basis für die Verhandlungen der Sozialpartner. So handelte es sich beim Friedensabkommen auch nicht um den Startschuss für die Ausbreitung des GAV in andere Branchen. Dieser etablierte sich erst in einer Periode von Arbeitskämpfen nach dem Zweiten Weltkrieg und in vielen Fällen wehrten sich die Arbeitenden explizit gegen Versuche, ein ähnliches Abkommen durchzusetzen. Hingegen setzte er mit der absoluten Friedenspflicht einen gefährlichen Präzedenzfall, mit der die organisierte ArbeiterInnenschaft ihr wichtigstes Kampfmittel, den Streik, aus der Hand gab. Direkt hierauf gestützt, fand die Friedensklausel ihren Weg in die späteren GAVs.
Die Strapazen des Zweiten Weltkriegs machten sich 1943 bemerkbar. In diesem Jahr nahmen so viele Menschen an Lohnbewegungen teil wie seit den Höchstwerten von 1919 nicht mehr. In den folgenden Jahren ergriff eine Welle von Streiks und Arbeitskämpfen die Schweiz. Die Bourgeoisie war gewillt, eine Konfrontation im Stil des Landesstreiks zu vermeiden. Deshalb rangen ihnen die Massenbewegungen, vor dem Hintergrund des einsetzenden Nachkriegsbooms, wichtige Konzessionen ab: Neben der allgemeinen Durchsetzung von Gesamtarbeitsverträgen, wurde 1948 auch endlich die AHV eingeführt.
Nun darf man jedoch nicht dem Glauben verfallen, dass diese Konzessionen der KapitalistInnen selbstloser Natur waren. Gerade die GAVs hatten für sie wichtige Vorteile: Ihre Unterzeichnung wurde von Friedensklauseln, wie man sie vom Friedensabkommen kannte, abhängig gemacht. Dadurch garantierten die Gewerkschaften als Vertragspartner eine Abschwächung der Massenbewegungen.
Es bleibt die Frage: Was hat die Sozialpartnerschaft erreicht? Sozialpolitische Errungenschaften muss man lange suchen, denn auch das Frauenstimmrecht wurde mit Druck von der Strasse erkämpft und nicht durch die Sozialpartner ausgehandelt. Das erkämpfte Minimum wurde zwar verteidigt – dass es ein Minimum ist, zeigen die Errungenschaften der Lohnabhängigen in den Nachbarländern. Aber selbst dieses Minimum wird in jüngster Zeit immer heftigeren Angriffen ausgesetzt.
Das einzige, was die Sozialpartnerschaft seit Jahrzehnten garantiert, ist die Aufrechterhaltung des heutigen Systems. So muss unsere Konsequenz daraus lauten: Weg mit diesem reaktionären Käfig! Wir kündigen die Sozialpartnerschaft.
Helena W.
JUSO Stadt Zürich
Bild: Bibliothèque de la ville de La Chaux-de-Fonds, Département audiovisuel (DAV)
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