Für die Lohnabhängigen waren die 15 Jahre der Flankierenden Massnahmen gezeichnet von stagnierenden Löhnen und Dumping. In den letzten zwei Jahren sanken sogar die Durchschnittslöhne. Was tat die Unia, die grösste Gewerkschaft der Schweiz, in den letzten Jahren dagegen?
«Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort» fordert die Arbeiterbewegung seit über 100 Jahren. Seit 2002 nutzen die Patrons das Regime der Personenfreizügigkeit, um die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt zu erhöhen und die Löhne zu senken. Die «flankierenden Massnahmen» (FlaM) sollten das verhindern. Doch wer auch nur selten die News verfolgt, kennt die Geschichten vom Dumping: 8-10 Euro pro Stunde bekamen die italienischen Elektriker fürs Kabelziehen im neuen Genfer Tramdepot. Tunnelbauer in der NEAT schufteten 17 Stunden am Tag. Auch ihnen wurde ein Teil des ausbezahlten Lohns wieder zurückerpresst. Die FlaM verhindern weder solche Skandale noch können sie dem generellen Lohndruck Einhalt gebieten. Bis zu 26% der kontrollierten Firmen bezahlen zu tiefe Löhne, wobei nur 7% der Firmen überhaupt kontrolliert werden. So wird das Lohnniveau in der ganzen Schweiz gedrückt.
Obschon das illegal ist, macht der Staat keine Anstalten, echte Massnahmen zu treffen. Mit dem Rahmenabkommen stehen die wenigen bestehenden Kontrollmöglichkeiten wieder voll unter Beschuss. Natürlich können die Lohnabhängigen in der Schweiz nicht auf die bürgerlichen PolitikerInnen zählen. Diesen ist im besten Fall egal, ob die ArbeiterInnen ihren Lohn erhalten, solange nur die Profite stimmen. Oft werden Kontrollstellen aktiv sabotiert (z.B. mit Zutrittssperren). Den Lohnabhängigen bleibt deshalb nur ihr traditionelles Werkzeug, die Gewerkschaften. Doch warum kämpfen die Gewerkschaften nicht energischer gegen den Druck, den das vereinte Kapital auf die Löhne ausübt? Den Schlüssel zur Antwort finden wir in den FlaM und ihrer Rolle in der Entwicklung der Gewerkschaften, allen voran der Unia.
2002 stimmten die Gewerkschaften den Bilateralen Verträgen mit der EU inklusive der Personenfreizügigkeit zu. Doch sie taten dies nur unter der Bedingung, dass ein Paket von Zusatzregelungen eingeführt wird. Das Resultat waren die FlaM. Sie waren ein Produkt der Boomphase der Nullerjahre. Die Kapitalisten entschieden sich gegen einen Frontalangriff auf die Gewerkschaften. Stattdessen fanden sie sich mit ihnen ab – doch nur unter Bedingung eines Korsetts in Form von Kooperation mit Patrons und Staat. Die FlaM waren ein grosses Zugeständnis, doch ein zweischneidiges!
Am 1. Juni 2019 waren die Flankierende Massnahmen nun 15 Jahre lang in Kraft. Sie erleichterten die Ausweitung der landesweit allgemeingültigen Gesamtarbeitsverträge (GAV). Während so die GAV-Abdeckung eine enorme Steigerung erfuhr, gilt kaum das gleiche für das Lohnniveau. Trotz GAV müssen verschiedene Branchen schleichende Reallohnverluste hinnehmen. Echte Verbesserungen kommen nicht von alleine, nur durch Kampf!
Die «Vollzugskostenbeiträge» sind ein zwingender Lohnabzug bei allen Branchen mit einem GAV. Dieses Geld geht an die Gewerkschaft, die mit der Kontrolle der Einhaltung des Vertrages beauftragt ist. Diese Zahlungen wurden zu einer zentralen Finanzierungsquelle der Gewerkschaften (über 10 Millionen Franken für die UNIA). Damit müssen die Gewerkschaften die Kontrolle der Einhaltung dieser GAV finanzieren. Über dieses System wurden die Gewerkschaften noch stärker in die Regulierung des Arbeitsmarkts integriert: Sie übernehmen staatliche Funktionen und sind finanziell direkt von diesen Zahlungen abhängig. Das führt dazu, dass sie wenig Anreiz haben, zu kämpfen. Stattdessen finden sie sich mit dem Komfort der scheinbar gesicherten Finanzierungsbasis ab.
Im Folgenden versuchen wir den 15 Jahre langen Prozess in drei Phasen zu unterteilen: 1. von der Gründung der Unia 2004 bis zum Krisenbeginn 2009, 2. gewerkschaftliche Offensivjahre bis 2014, 3. von der Niederlage der Mindestlohn-Initiative 2014 bis zum aktuellen Rahmenabkommen.
Nach der Krise und den Umwälzungen der 90er fusionierten viele der SGB-Gewerkschaften. Dieser Prozess ahmte die vorhergehende Neuformation der Wirtschaftsverbände nach, welche z. B. die Economiesuisse hervorgebracht hatte. Die wichtigste gewerkschaftliche Zusammenführung war jene von GBI und SMUV zur neuen, branchenübergreifenden Gewerkschaft Unia. Sie wurde zur grössten der Schweiz mit etwas über 200’000 Mitgliedern.
Als Vorbild für die Unia diente die deutsche Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, die traditionell gewerkschaftsferne Sektoren organisierte. Das Ziel ist, die sinkenden Mitgliederzahlen der Industrie zu kompensieren, u.a. im Detailhandel. Die traditionellen Bereiche wurden jedoch nicht fallen gelassen: In den Anfangsjahren schrieb sich die Unia den Aufbau von Betriebsgruppen in allen Sektoren gross auf die Fahnen und die Kongresse verabschiedeten Resolutionen über die Gewinnung von Vertrauensleuten. Was im Wortlaut gut klang , wurde in der Praxis nur zaghaft umgesetzt. Jedoch: Für die Gewerkschaftslandschaft als Ganzes vollzog sich eine Linksausrichtung.
Von 2003-07 war der Bundesrat mit Blocher und Merz auf Offensivkurs gegen die Errungenschaften der Lohnabhängigen. Obwohl die Krise der 90er überstanden war, wurden weiterhin betriebliche Strukturen gestrafft und «rationalisiert». Das führte immer wieder zu Massenentlassungen, oft im Zuständigkeitsbereich der Unia. Es wurden Kämpfe geführt. Der wichtigste war jener 2008 im SBB-Werk in Bellinzona. Fünf Wochen lang wurde die «Officina» bestreikt. Der Sieg beinhaltete sogar Elemente von Arbeiterkontrolle und sorgte über das Tessin hinaus für Euphorie.
Die Unia-Führung liess diesen Sieg (und sich selber) feiern. Doch sie sperrte sich dagegen, die kämpferische Praxis, welche die «Officina» zum Sieg geführt hatte, auch in die Deutschschweiz zu tragen. Das war ein offenes Bekenntnis zur Sozialpartnerschaft. Die Unia-Führung wollte nie offensive Kämpfe führen und strafte in der Folge des Kampfes die federführenden Sekretäre ab. Genau wie die Mediengewerkschaft Syndicom und der Eisenbahnerverband SEV klammerte sich die Unia an die verstaubte Form der Stellvertreterpolitik unter Ausschluss der Mitglieder.
Das Misstrauen gegenüber der Kampfbereitschaft der Basis sollte sich rächen, aber nur langfristig. Denn: Während den Jahren mit realen Kämpfen stiegen die Mitgliederzahlen wieder. Nach den schwarzen Neunzigern eine erfreuliche Nachricht.
Als die Krise ausbrach, war die Unia das Aushängeschild einer linken Erneuerung. Im SGB gab sie den Ton an. Eine kämpferische Rhetorik wurde an den Tag gelegt und die Frage des Mehrwerts (Lohn, Arbeitszeit, etc.) wurde direkter thematisiert. Die Krisenpolitik des Bundes machte es leicht, Oppositionsstellung zu beziehen: Mit Notrecht wurde die UBS gerettet, ohne die geringsten Auflagen zu machen. Die Bankiers dienten vorzüglich als Sündenböcke. Irgendjemand hat die Krise ja verursacht.
In dieser Phase schoss die Unia aber nicht nur gegen die Boni-gierigen Banker, sondern mischte sich neben ihren Kerntätigkeiten in politische Fragen ein. Das machte die Unia zur linken Hoffnungsträgerin. Verschiedene Referenden wurden ergriffen, Angriffe gegen die Lohnabhängigen bekämpft und Abstimmungskämpfe gewonnen, wie 2010 gegen den Raubzug auf die Pensionskassen (Umwandlungssatz).
Zum Prüfstein des linken Kurses wurde die Mindestlohn-Initiative (MiLo). Das kämpferische Projekt verliess den Pfad der Sozialpartnerschaft. Politische, allgemeine Kämpfe (für Gesetze) wurden mit materiellen Forderungen (Lohn) verknüpft, welche greifbare Verbesserungen gebracht hätten. Zusammen mit der 1:12-Initiative der JUSO wurde Optimismus versprüht. Endlich war die Linke wieder in der Offensive, wenn auch nur für kurze Zeit. Die Erneuerung erhielt schon kurz nach der Unterschriftensammlung Stiche in den Rücken: SP-ExekutivpolitikerInnen stellten sich gegen die Initiativen. Im Herbst 2013 erhielt die JUSO-Initiative immerhin gut einen Drittel der Stimmen. Doch der Sieg der SVP-Masseneinwanderungsinitiative im Februar 2014 zerstäubte die Zuversicht. Und nach einer linksnationalistischen Kampagne war das Abstimmungsergebnis keine Überraschung: Nicht mal ein Viertel stimmte für den MiLo. Ohne Perspektive fehlte der Gewerkschaftslinke jede Orientierung und sie verlor nun jedes Vertrauen in die ArbeiterInnenklasse.
Der rechte, hardcore-sozialpartnerschaftliche Flügel der Gewerkschaften hingegen nahm die Klatsche als Einladung, um das Steuer herumzureissen. Vom Elan der Unia-Gründung waren sie zurückgedrängt worden. Doch mit dem Ende der linken Offensive, forderte der rechte Flügel offen den Rückzug in die traditionelle GAV-Verwaltung.
Nichts weniger als konsequent: Der Industriesektor der Unia hatte schon im Sommer 2013 einen GAV abgeschlossen und somit der MiLo-Kampagne einigen Wind aus den Segeln genommen. Da der GAV zum ersten Mal Mindestlöhne festsetzte, schuf er Tatsachen. Ein frisch erbautes Haus will man natürlich nicht wieder einreissen. So brach mit den zahlreichen schlecht entlohnten und temporär Angestellten dieser Branche ein wichtiges Zugpferd weg.
Mit schamlosen Tricks hatten die konservativen Industriegewerkschafter ihrer Basis die Light-Version eines Mindestlohns im Gesetz verkauft: einen Mindestlohn im GAV. Dies war die Manifestierung des Rückschritts von der offensiven und politischen Gewerkschaft mit Basismobilisierungen zurück zur Sozialpartnerschaft, die auf sektorieller Spaltung der Lohnabhängigen beruht. In der Geschichte hat genau diese Gewerkschaftspolitik mehrmals einer erstarkenden Linken den Boden unter den Füssen weggezogen.
Der Industrie-GAV enthält eine sogenannte Krisenklausel: Bei schlechtem Geschäftsgang können die Patrons Mehrarbeit verfügen, ohne Lohnkompensation. Die stillschweigende Beibehaltung dieser Klausel ist symptomatisch für die Zeit nach der denkwürdigen Niederlage. Ob bei der Aktivierung dieser Klausel, der «Rettung» von Arbeitsplätzen oder der Bewältigung der Frankenstärke, die gewerkschaftlichen Führungsriegen richteten ihre Forderungen ausschliesslich an die Kapitalisten, den Notenbankchef oder den Bundesrat. Nicht mal im Traum dachten sie an Mobilisierungen der Basis. Eine Ausnahme bildete der Bau, wo es regelmässig zu Proteststreiks kam. Doch dabei blieb es auch. Diese rituellen Aktionstage sind zwar wichtig und könnten eine Signalwirkung für die potenzielle Mobilisierungskraft der Gewerkschaften haben, doch dieses Potenzial wurde nie genutzt für den Aufbau. Die Aktionstage blieben betrieblich, sektoriell oder geographisch isoliert und konnten deshalb die massiv fehlende Verankerung, v.a. in der Deutschschweiz nicht kaschieren – und schon gar nicht überwinden.
Heute regieren Orientierungslosigkeit und Pessimismus das Tagesgeschäft, vor allem in der Deutschschweiz. Ohne Kämpfe sind die Mitgliederzahlen wieder in den roten Bereich geraten und gar unter die magische Marke von 200’000 gefallen. Für Schlagzeilen sorgen nur interne Skandale. Ein Ausbrechen aus dem Trott wird immer schwieriger. Sektionen, die nicht vor Kämpfen und Streiks zurückschrecken, wie Genf oder das Tessin, sind Kontrapunkte: Sie haben eine verhältnismässig aktivere Basis und gesündere Mitgliederzahlen. Doch sie bleiben isoliert in ihren Kantonen.
Betrachtet man die 15 Jahre des Bestehens der FlaM, so stechen zwei gegenläufige Tendenzen ins Auge: 1. Das Budget der Gewerkschaften steigt, doch die Finanzen hängen immer stärker an Beiträgen, die nicht aus der Basis, sondern aus den GAV kommen. 2. Die Reallöhne stagnieren oder fallen. Diese Situation wird sich von alleine nicht verändern.
Um Verbesserungen zu erkämpfen, braucht es Mobilisierungen und deshalb braucht es betriebliche Verankerung. Die Unia macht nichts dafür, denn der Apparat verharrt träge auf der Sozialpartnerschaft und der damit einhergehenden Finanzierungsquelle. Und schlimmer noch: Sie akzeptiert sogar kampflos die bürgerlichen Gesetzesbestimmungen, welche die Verankerung in den Betrieben aktiv behindern, nämlich das Verbot des Zutritts zu den Arbeitsplätzen. Die fehlende Verankerung macht die Gewerkschaften auch kampfunfähig bei Delokalisierungen und Firmenschliessungen, denn dann ist es meist schon zu spät, um noch ArbeiterInnen zum Kampf zu mobilisieren. Das bekräftigt die ArbeiterInnen in ihrem schlechten Bild, das sie von den unverlässlichen Gewerkschaften haben.
Doch all das dürfen keine Entschuldigungen sein. Wollen die Gewerkschaften einen zukunftsorientierten Turn schaffen, dann kann dieser allein auf der Stärke ihrer Basis beruhen. Jedes Vertrauen in den Staat, Patrons oder bürgerliche PolitikerInnen zögert den Aufbau hinaus. Der Streik in Bellinzona von 2008 hält eine wichtige Lektion des Klassenkampfes bereit: Nur wenn und nur so lange die Lohnabhängigen selbst die Kontrolle über den Kampf übernehmen, sind echte Verbesserungen möglich!
Caspar Oertli
JUSO Stadt Zürich
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