Der Kommunist: In den letzten Monaten sahen wir in Serbien die grössten Demonstrationen in der Geschichte des Landes. Was ist passiert?

Am 1. November stürzte das Vordach des neuen Bahnhofs in Novi Sad ein. Dieses war ein Prestigeprojekt des Präsidenten Vučić. Es ist klar, dass beim Bau, an dem europäische und chinesische Unternehmen beteiligt waren, gepfuscht wurde. Der Einsturz tötete 16 Menschen. Das war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Die ersten drei Tage waren von Trauer geprägt, aber es war wie die Ruhe vor dem Sturm. Am 5. November kam es zur bis dahin grössten Demonstration in der Geschichte Novi Sads. Jeder verstand, dass wir uns gegen das korrupte Regime wehren müssen, denn es hätte jeden von uns treffen können. Die Studenten übernahmen die Führung der Bewegung und besetzten über 60 Unis. Ihre Forderungen waren moderat: Gerechtigkeit für die Opfer und mehr Transparenz im Staat. Vučić und die Medien reagierten auf die Proteste, indem sie die Demonstranten dämonisierten. Das ging so weit, dass ein verrückter Autofahrer eine Schülerin überfuhr und fast tötete. Die heftige Reaktion darauf stellte einen Wendepunkt dar. 

Der Protest wurde grösser. Über eine Million Menschen gingen im ganzen Land auf die Strasse. In allen Quartieren sprossen Zborovi wie Pilze aus dem Boden. Zborovi sind lokale Versammlungen, in welchen sich insgesamt über 300’000 Menschen organisierten. Das demonstrierte die potenzielle Macht der Massen. Aber ohne demokratische Zentralisierung und ohne politisches Programm blieben sie zersplitterte Aktionskomitees.

Nun fordert die Bewegung Neuwahlen, da die Schwäche des Regimes spürbar ist und wir sie stürzen wollen. Eine Studentenliste ist geplant. Doch es bleibt unklar, wer sie erstellen wird, wer darauf stehen wird, und welches Programm dahinter steht. Das ist eine grosse Schwäche. Die Stärke ist, dass die Bewegung auch nach neun Monaten noch immer aktiv ist.

Der Kommunist: Welche Bedeutung hat diese Bewegung für die Region und international?

In der Region hat diese Bewegung ein grosses Echo hervorgerufen. Ein Beispiel aus dem bosniakischen Landesteil Sandžak rund um Novi Pazar (im Süden Serbiens). Die Studenten in Novi Pazar beteiligten sich an den Besetzungen ihrer Fakultäten und es entstand eine Verbindung zwischen dem Rest Serbiens und dieser bosniakischen Region. Die nationale Spaltung wurde deutlich überwunden. Bosniaken schwenkten serbische Flaggen und Serben die bosniakische Flagge. Darüber hinaus gab es Solidaritätsproteste in Slowenien, Kroatien, Bosnien, Mazedonien und Montenegro. Viele sympathisierten mit den serbischen Massen, da klar ist, dass wir alle dieselbe korrupte herrschende Klasse haben, die sich nicht um unser Leben schert. 

In der Gemeinde Jablanica, in Bosnien, in der Nähe von Sarajevo, gab es eine Überschwemmung, bei der mehr als 20 Menschen ums Leben kamen. Und die Studenten in Sarajevo sagen nun: «Wir haben unser eigenes Vordach. Es heisst Jablanica.»

International herrscht aber auch ein lächerliches Schweigen über diese Bewegung. Alle standen hinter Vučić; die EU, die USA, die Russen und die Chinesen. Er ist ein loyaler Handlanger des Imperialismus. Besonders die Europäer sind die grössten Heuchler von allen, da sie gerne über demokratische Werte reden und sich nett geben. Doch jetzt schweigen sie nicht nur zur Bewegung, sondern haben auch Lithiumförderungsabkommen mit Vučić ausgehandelt.

Der Kommunist: Welche Schwächen hat die Bewegung und was muss getan werden, um diese zu beheben?

Es gibt eine neue Schicht, vor allem Studenten, die die Führung der Bewegung übernommen hat, weil sonst niemand dazu bereit war. Aber was fehlt, ist eine politische Führung, die aufzeigen kann, was der Weg vorwärts ist. Wenn die Arbeiterklasse kollektiv Druck auf das Regime ausüben würde, würde dieses wie ein Kartenhaus zusammenbrechen. Die Bewegung braucht deshalb ein soziales Programm, mit dem die Arbeiterklasse für einen Generalstreik gewonnen werden kann. Dazu müssten die Zborovi von Nachbarschaftskomitees zu Komitees in den Betrieben ausgeweitet werden. Diese müssten zentralisiert werden, zum Beispiel durch einen nationalen Kongress aller Zborovi. Der Hintergrund der Bewegung sind Jahrzehnte der Erniedrigung durch korrupte, repressive Regimes, Inflation und Perspektivlosigkeit, kurz: ein kaputtes System. Diese Probleme können nur gelöst werden, wenn die Arbeiterklasse die Macht übernimmt.

Wir bringen unsere Ideen in die Zborovi hinein und versuchen, Leute für dieses kommunistische Programm zu gewinnen. Es gibt eine Schicht, die mit diesem System abgeschlossen hat und es stürzen will. Diese müssen wir organisieren und mit ihnen eine Revolutionäre Kommunistische Partei aufbauen. Die serbischen Massen haben bewiesen, dass sie bereit sind zu kämpfen. Doch um zu siegen fehlt ihnen eine Partei mit einem klaren Plan zum Sieg.  

Der Kommunist: Noch ein letzter Gedanke?

Wir müssen verstehen, dass die Proteste in Serbien ein Vorbote dessen sind, was uns überall auf der Welt bevorsteht. Die Herrschenden wissen das. Sie schweigen darüber, weil sie Angst haben vor der Revolution. 

Interview mit Zvonko Dan, Revolucionarni Komunistički Savez, Jugoslawische Sektion der RKI