Die politischen Kommentatoren der herrschenden Klasse sprechen bevorzugt von „der Wende“ der Jahre 1989/90. Die Geschichte Deutschlands, so unterstellt dieser Begriff, habe sich nach einer unschönen Anomalie letztlich dann doch noch zur „Normalität“ und damit zum Guten gewendet. Bemerkenswert scheint diesen Leuten vor allem zu sein „dass die Mauer fiel“.
Kaum jedoch die Umstände, die dazu führten, dass das geschehen konnte. Es ist die Geschichte einer zwar gelungenen, gleichzeitig aber auch misslungenen, vor allem jedoch einer nach wie vor unvollendeten Revolution.
Erste Proteste
Mit kleinen Protesten fing es an. Am 15. Januar 1989 – dem 70. Jahrestag der Ermordung der beiden marxistischen KämpferInnen Rosa Luxemburg uns Karl Liebknecht – forderten Menschen in Berlin und Leipzig ihr gutes Recht auf freie Meinungsäusserung, Presse- und Versammlungsfreiheit. Es wurde ein Transparent mit einem berühmten Luxemburg-Zitat getragen: „Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden“. Die Staatsorgane verhafteten rund 80 (Winkler) bzw. „über 100“ (Sellen) DemonstrantInnen. Im März sah Leipzig eine Demonstration von ca. 600 Menschen für die Genehmigung von Ausreiseanträgen in den Westen.
Vergleichsweise klein waren auch noch die Mai-Proteste anlässlich der Leipziger Frühjahrsmesse. Hier wurde vor allem das Recht auf Reisefreiheit gefordert. Doch schon im März sprang der Funke des Aufbegehrens von Leipzig aus auf andere Teile des Staatsgebietes über. Vor allem in Ostberlin, Hauptstadt der DDR, protestierten Oppositionelle gegen offensichtlich wieder einmal gefälschte Kommunalwahlergebnisse.
Nachdem Ungarn im Juli begann, die Sperranlagen an der österreichischen Grenze abzubauen, war der Damm endgültig gebrochen. Da sich zu diesem Zeitpunkt viele Menschen in der DDR schlicht nicht vorstellen konnten, dass es möglich sein würde, den eigenen Staat von innen heraus zu verändern, nutzte so mancher den Sommerurlaub dazu, den Staat Richtung Westen zu verlassen. Tief sass immer noch der Schock der blutigen Niederlage des Arbeiteraufstandes vom Juni 1953 und Erich Honecker, amtierender Staats- und Parteichef, war bekannt dafür, dass er seinen chinesischen Bürokratenbrüdern Respekt zollte für die noch blutigere Niederschlagung der Pekinger Proteste einige Wochen zuvor. Bis Ende September verliessen rund 25.000 Menschen die Republik zwischen Harz und Oder. Bis Ende des Jahres 1989 verliessen etwa 350.000 Menschen das Land gen Westen. Abstimmung mit den Füssen. Um den Exodus zu beenden, setzte die SED-Führung auf eine Massnahme, die ihr schon Anfang der 1960er Jahre sehr nützlich dabei war, der Auswanderung kritischer und enttäuschter BürgerInnen den Riegel vorzuschieben: Am 3. Oktober schloss die Regierung die Grenzübergänge zur Tschechoslowakei.
Massenproteste und Machtfrage
Doch anders als damals war es dafür schon zu spät. Denn es waren längst nicht mehr nur die „Ausreiser“, wie man sie damals nannte, die mit ihrem Handeln auf drastische Weise zeigten, dass sie nicht länger bereit waren, sich von einer abgehobenen und ignoranten Obrigkeit, die zudem nicht müde damit wurde zynisch und platt zu behaupten, eine Regierung des Volkes zu sein, bevormunden und unterdrücken zu lassen. Im Laufe des Monats September wurden es immer mehr ArbeiterInnen, die der bankrotten Staatsführung in gemeinsamen Sprechchören bedrohlich entgegen riefen: „Wir bleiben hier!“ Man musste nicht Lenin gelesen haben, um zu wissen, dass mit diesem Ruf aus den Mündern zehntausender werktätiger Menschen die Machtfrage auf der Tagesordnung stand. Denn was anderes sollte dieses massenhaft skandierte „Wir bleiben hier!“ bedeuten als die Manifestation des unbedingten Willens weiter Teile der Bevölkerung, der Staatsführung zu zeigen wo der Hammer wirklich hängt? Die vereinzelten Proteste des Frühjahres und Sommers hatten den Charakter einer Massenbewegung angenommen. Immer mehr trauten sich auf die Strassen. Eine Revolution bedeutet nichts anderes als dass sich die Massen der bisher Unterdrückten zu furchtlosen BestimmerInnen ihres eigenen und zugleich gemeinsamen Schicksals erheben. Dieser Punkt war nun erreicht. Die „Ausreiser“ hatten sicherlich als der Katalysator bei der Hervorbringung dieses qualitativen Sprungs der zunächst isolierten Proteste auf das Niveau einer Massenbewegung gewirkt. Die Machtfrage jedoch konnte nur dort gestellt werden, wo sich die Macht befand: „Wir bleiben hier!“ Am 23. und am 30.10. demonstrierten ca. 300.000 Werktätige in Leipzig unter der berühmt gewordenen Losung „Wir sind das Volk!“ Am 4. November demonstrierten über 500.000 Menschen auf dem Ostberliner Alexanderplatz für einen radikalen Bruch mit der faktischen Einparteienherrschaft der SED und für demokratische Reformen in der DDR. Hochrangige Westpolitiker wurden übrigens von der Masse gellend ausgepfiffen, als sie vom Podium herab das ‘Deutschlandlied’, d.h. die Nationalhymne der BRD, anstimmten. Am 8.11. trat die Regierung der DDR zurück. Am 15.12. wurde die Staats- und Regierungspartei SED für aufgelöst erklärt.
Politische Revolution
Zur Legende der „Wende“ gehört nicht zuletzt auch die Behauptung, dass sich die Menschen in der DDR heimlich schon lange nach dem Anschluss an den angeblich so goldenen Westen sehnten. Doch davon konnte zunächst keine Rede sein. Bis gegen Mitte Oktober standen eindeutig nur Forderungen in Richtung einer Demokratisierung der inneren Verhältnisse der DDR auf der Agenda der Protestierenden. In der revolutionären Atmosphäre des Septembers 1989 entstanden politische Vereinigungen, die den Anspruch erhoben, die in lokalen Komitees sich organisierende Massenbewegung republikweit zu vertreten. Am 9.9. gründete sich das „Neue Forum“, am 12.9. „Demokratie jetzt“, am 14.9. der „Demokratische Aufbruch“. Den Anspruch, die revolutionäre Bewegung zu führen, erhoben diese Gruppierung allerdings von Beginn an nicht. Der Gründungsaufruf „Aufbruch 89“ des Neuen Forums fasste die vorherrschende Stimmung in folgende Worte:
„In unserem Lande ist die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich gestört. Belege dafür sind die weitverbreitete Verdrossenheit bis hin zum Rückzug in die private Nische oder zur massenhaften Auswanderung. Fluchtbewegungen dieses Ausmasses sind anderswo durch Not, Hunger und Gewalt verursacht. Davon kann bei uns keine Rede sein. Die gestörte Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft lähmt die schöpferischen Potenzen unserer Gesellschaft und behindert die Lösung der anstehenden lokalen und globalen Aufgaben. … Allen Bestrebungen, denen das Neue Forum Ausdruck und Stimme verleihen will, liegt der Wunsch nach Gerechtigkeit, Demokratie und Frieden sowie Schutz und Bewahrung der Natur zugrunde. Es ist dieser Impuls, den wir bei der kommenden Umgestaltung (!!!) der Gesellschaft in allen Bereichen lebensvoll erfüllt wissen wollen. Wir rufen alle Bürger und Bürgerinnen, die an der Umgestaltung der Gesellschaft mitwirken wollen, auf, Mitglieder des Neuen Forums zu werden. Die Zeit ist reif.“
Dieses Manifest liegt ganz und gar auf der Linie dessen, was seit Mitte der 1930er Jahre immer die programmatische Orientierung von MarxistInnen in Hinsicht auf die UdSSR und deren spätere Vasallenstaaten war. Der russische Revolutionär Leo Trotzki analysierte damals, dass die abgehobene bürokratische Oberschicht der UdSSR durch die Unterdrückung jeglicher demokratischer Initiative der Werktätigen und Bauern die Entwicklung einer gesunden Planwirtschaft empfindlich störe und damit die weitere Entwicklung einer tatsächlich sozialistischen Gesellschaft abzuwürgen drohe. Die Bürokratie, so gab Trotzki zu bedenken, sei angesichts der mittelfristig zwangsläufig eintretenden gesellschaftlichen Krise – hervorgerufen durch die gigantische und unkontrollierte bürokratische Willkür – grundsätzlich dazu bereit, die vollständige ökonomische Konterrevolution einzuleiten und ihre privilegierte Stellung in der Gesellschaft in die einer gewöhnlichen Herrschaft als bürgerliche Kapitalistenklasse mit staatlichem Verwaltungsapparat zu überführen. Dieses geschah dann schliesslich spätestens ab ca. 1990 in der Sowjetunion oder auch in Jugoslawien und in den letzten Jahren unübersehbar in China. Angesichts der Tatsache, dass die alten ‚Blockparteien‘ der DDR so naht- und problemlos eine neue Heimat in den West-Parteien CDU bzw. FDP fanden, war offensichtlich, dass auch im SED-dominierten Staat solche Kräfte immer schon am Werkeln waren.
Dementgegen, so Trotzki, sollten die ArbeiterInnen gegenüber dem „bürokratisch entarteten Arbeiterstaat“, so seine Definition des Gesellschaftscharakters der UdSSR nach 1924, mutig für ihre demokratischen Rechte eintreten, der parasitären und selbstgefälligen Bürokratenschicht den Kampf ansagen und auf diesem Weg die einzige noch verbleibende Chance nutzen, aus dem Regime doch noch einen tatsächlich sozialistischen Staat zu machen. Wie auch immer: „Jedenfalls kann die Bürokratie nur durch eine revolutionäre Kraft beseitigt werden“, schrieb der massgebliche Organisator der Oktoberrevolution bereits 1936. Und er präzisierte:
„Es handelt sich nicht darum, eine herrschende Clique durch eine andere zu ersetzen, sondern darum, die Methoden zu ändern, nach denen Wirtschaft und Kultur geleitet werden. Das bürokratische Selbstherrschertum muss der Sowjetdemokratie Platz machen. Die Wiederherstellung des Rechts auf Kritik und wirklich freier Wahlen ist die notwendige Vorbedingung für die freie Entwicklung des Landes. Das setzt voraus, dass den Sowjetparteien (…) die Freiheit wiedergegeben wird und dass die Gewerkschaften wiederauferstehen. … Freie Diskussion der Wirtschaftsprobleme wird die Unkosten der bürokratischen Fehler und Zickzacks senken.“
Dieses politische Programm wurde von Trotzki als explizit „politische Revolution“ bezeichnet. Die Analyse der Verhältnisse als jene eines „bürokratisch entarteten Arbeiterstaates“ war natürlich nicht 100%ig auf die Situation in der DDR übertragbar, da diese nicht aufgrund einer Arbeiterrevolution in der Welt war, sondern als Satellitenstaat Moskaus von oben her errichtet worden ist. Entsprechend gab es keine Erinnerung an eine frühere Sowjetdemokratie, die es wiederzubeleben galt. Dieses ist denn auch der Grund dafür, warum die Berufung z.B. des Neuen Forums auf demokratische Verfahren (s.o.) so allgemein ausfiel und in dieser Allgemeinheit später dann von populistischen BRD-Politikern á la Kohl & Konsorten für den vollständigen Umsturz der gesamten politökonomischen Struktur der DDR instrumentalisiert werden konnte.
Fehlen einer revolutionären Führung
Die jahrzehntelange konsequente Unterdrückung jeglicher Kritik führte dazu, dass die Revolution einen im Wesentlichen spontanen Charakter annehmen musste. Starke Organisationen wie freie Gewerkschaften oder eine Opposition innerhalb der legalen politischen Sphäre, die sich an die Spitze der Bewegung hätte(n) stellen können, gab es einfach nicht. Hierin lag zunächst auch mit eine der Stärken der Bewegung. Denn so war dem Staatsapparat die Möglichkeit genommen, irgendwelche Organisationen auch nur ansatzweise ‚glaubhaft‘ der „konterrevolutionären Tätigkeit“ zu bezichtigen. Auch den Verantwortlichen von der Staatssicherheit war klar, dass nach und nach die Massen der Werktätigen aus eigenem Antrieb auf die Strassen gingen. Die fehlende Organisationsstruktur zeigte sich auch in dem Umstand, dass es keine offenen Veranstaltungsorte gab, an denen die AktivistInnen sich hätten treffen und miteinander planen bzw. diskutieren können. Die einzigen geschützten Räume, in denen man sich zu solchen Zwecken zusammenfinden konnte, waren deshalb nicht zufällig Kirchen.
Die Gebetshäuser konnten die plötzlich hereindrängenden Mengen an BesucherInnen nicht mehr fassen. Angesichts der Tatsache, dass sich die Kirchen nach der Revolution genauso schnell wieder leerten wie sie sich während der Ereignisse gefüllt hatten, wird deutlich, dass die Massen die Gotteshäuser eben nicht als überzeugte ChristInnen betraten, sondern als RevolutionärInnen, die auf der Suche nach einem geschützten öffentlichen Versammlungsort waren.
Doch jede Revolution hat es mit Gegnern zu tun. Wer sich mit seinen Unterdrückern anlegt braucht eine schlagkräftige Bündelung der eigenen Kräfte. Man muss die entschlossensten und mutigsten Leute aus den eigenen Reihen zu einer politischen Kraft formieren. Forderungen müssen wie in einem Brennglas gebündelt, Aktionen müssen koordiniert, der entscheidende Angriff gegen die Macht muss systematisch vorbereitet werden. Ansonsten ist es immer wahrscheinlich, dass sich die Energie der Massen nach und nach schlicht totläuft. Auf eine solche Entwicklung hoffen immer jene Kräfte, die den erschöpften Menschen irgendwann eine einfache und schnelle Lösung versprechen und diese dabei doch nur um ihren wirklichen Sieg bringen möchten. Anders gesagt: Weil sich Gruppen wie das Neue Forum, Demokratischer Aufbruch oder Demokratie Jetzt nicht dazu entschliessen konnten, der Bewegung eine klare, d.h. insbesondere eine direkt auf die Eroberung der Staatsgewalt gerichtete Linie zu geben, traf Helmut Kohls Propaganda für den Anschluss der DDR an die BRD und sein Versprechen „blühender Landschaften“ schliesslich auf relativ breite Zustimmung. Eine revolutionäre Situation kann sich nicht ewig halten. Wenn es den entschlossensten RevolutionärInnen nicht gelingt oder diese nicht gewillt sind, der Bewegung eine klare politische Führung zu geben, droht letztlich der Untergang der kämpfenden Massen und d.h. der Sieg irgendwelcher reaktionären Betrüger des Volkes. Genau dieses sollte dann das Schicksal der Revolution im Laufe des Jahres 1990 werden. Aus der politischen Revolution wurde nach und nach eine ökonomische Konterrevolution, für welche die westdeutschen „Eliten“ die werktätigen Massen der DDR nur noch instrumentalisierten. Wehende Deutschlandfahnen, gemäss Artikel 22 des westdeutschen Grundgesetzes „Bundesflagge“ der BRD, und die professionell gestalteten Plakate westdeutscher, vor allem konservativer Parteien zeigten, dass Kohl und die Seinen nach und nach bereit dazu wurden, den Mangel an Führungsqualitäten in der Bewegung selbst durch ein eigenes Führungsangebot zu kompensieren. Der Anschluss der DDR an das Staatsgebiet der BRD Anfang Oktober 1990 besiegelte nicht den Sieg der Revolution, sondern deren Niedergang. Das Bedürfnis, den eigenen Staat zu demokratisieren, wurde mehr und mehr von der vorübergehenden Illusion überlagert, dass das Wirtschaftssystem und die Politiker der BRD ja vielleicht doch für eine bessere Zukunft stehen könnten. Diese Blütenträume sollten bald schon verwelken.
Unblutige Revolution
Dabei standen die Zeichen für die Möglichkeit einer zügigen, unblutigen und selbstbewussten Eroberung der Staatsmacht durch die revolutionären Massen sehr günstig. Am 4. November wäre es ohne weiteres möglich gewesen, ausgehend von der Grossdemonstration auf dem Berliner Alexanderplatz (s.o.), Regierungszentrale und Volkskammer, die wenige Minuten Fussweg von der Demo entfernt lagen, einzunehmen und den Staat sozusagen instand zu besetzen. Es wäre die Pflicht einer verantwortungsbewussten revolutionären Führung gewesen, hier das Signal für den Marsch auf den Palast der Republik zu geben. Doch eine Führung der Aufstandsbewegung gab es eben nicht. An diesem Tag, und ich erinnere mich noch sehr lebendig an die Demo-Bilder im Westfernsehen, lag die Lösung der Machtfrage zugunsten der Werktätigen buchstäblich in der Luft. Diese einmalige Chance verstrich ungenutzt. Die Staatsgewalt zeigte sich insgesamt schwach und kaum bereit dazu, die von Staats- und Parteichef Honecker favorisierte, „chinesische Lösung“ in die Tat umzusetzen. Von der Leipziger SED-Bezirksorganisation und den dortigen (Staats)Sicherheitskräften etwa ist bekannt, dass sie sich weigerten, entsprechende Direktiven aus Berlin zu befolgen. Nur sehr vereinzelt kam es zu insgesamt sehr mässigen Schlagstockeinsätzen, i.d.R. seitens der zivilen Volkspolizei. Von so mancher westdeutschen Demo war man seit 1967/68 durchaus erheblich härteres gewöhnt. Die hohe Machtkonzentration an einigen wenigen Stellen erwies sich so letztlich als eine Schwäche der staatlichen Organe. Die Bürokratie – inklusive gerade auch Staatssicherheits-Behörde – erwies sich angesichts dieser Massenbewegung als ein schwerfälliger Apparat, dessen massgebliche Entscheidungsträger schnell kopf- und ratlos wurden, so dass es keine verlässlichen Weisungsketten mehr gab. Vielerorts reihten sich Parteifunktionäre in die Reihen der Protestierenden ein. Dass sich die vermeintliche Stärke einer diktatorisch herrschenden Bürokratie sehr schnell als ihre zentrale Schwäche erweisen könnte, erkannte Trotzki schon sehr früh: „Bei energischem Druck der Volksmassen und unter diesen Umständen unvermeidlicher Zersetzung des Regierungsapparats kann der Widerstand der Herrschenden sich als viel schwächer erweisen, als es heute möglich scheinen mag.“
Immer wieder riefen die Massen den bewaffneten Kräften zu: „Keine Gewalt! Keine Gewalt!“ Und die Polizisten gehorchten dem Willen des Volkes. Die unteren und mittleren Ebenen der Staatsgewalt ergaben sich kampflos. Die Diktatur zerbrach nicht im Kugelhagel, sondern mit einem Wimpernschlag. Nur Erich Honecker und einige Parteieliten setzen bis zum Schluss auf eine gewalttätige Niederschlagung der Aufstandsbewegung. Doch am 9.11. klopften Menschen aus Ost und West mit Hämmern und Spitzhacken ohne jeden Widerstand durch die bewaffneten Organe der DDR Löcher in die „Berliner Mauer“.
Nationalistische Sprüche
Am 20. November wurden in Leipzig, der „Hauptstadt“ dieser Revolution, die ersten nationalistischen Sprechgesänge („Deutschland – einig – Vaterland) hörbar. Die Stimmung der Massen war dabei zu kippen: Wenn unsere Leute (Neues Forum etc.) keine Lösung herbeiführen können oder wollen, dann muss das halt der Westen leisten. Ewig konnte es ja schliesslich nicht weitergehen mit der Unsicherheit und der unklaren, vollständig offenen Situation. Und: Die Bürokratie hatte die Werktätigen in so vielem belogen. Warum sollte auch nur ansatzweise all das Negative stimmen, was einem über den Kapitalismus und die BRD eingetrichtert worden war?, dachten sich immer mehr Menschen. Die „Ausreiser“ schrieben Postkarten und Briefe, riefen an und berichteten dabei von gepflegten Innenstädten, schlaglochfreien Strassen, bequemen Autos und gefüllten Regalen in Hamburg, Frankfurt/M. oder München. Von Massenarbeitslosigkeit, Staatsverschuldung und Sozialabbau wird hingegen in ihren Botschaften kaum etwas gestanden haben. Dieses, ursächlich hervorgerufen durch die Führungslosigkeit der Aufstandsbewegung, dürften die objektiven Auslöser für das „Kippen“ der politischen Revolution in die politökonomische Konterrevolution gewesen sein – eine geschichtsmetaphysische Notwendigkeit („Wende“-Behauptung) hierfür lässt sich hingegen aus interessenspolitischen Gründen lediglich behaupten.
„Vergessen“ wird auch nur zu häufig, dass selbst 1990 längst nicht jedeR auf die West-“Lösung“ des Führungsproblems setzte. Das vielleicht interessanteste Dokument der Dauerausstellung im „Zeitgeschichtlichen Forum“ der Stadt Leipzig findet der aufmerksame Besucher erst im Treppenhaus: Die Fotographie einer Demonstration aus den späteren Tagen der Revolution, auf der verschiedene Transparente für und gegen den Anschluss der DDR an die BRD hoch gehalten worden sind! Wie auch immer: die haushohe (im übrigen: unerwartete) Niederlage der SPD – mit ihrem Spitzenkandidaten Oskar Lafontaine, der entschieden gegen den raschen Anschluss Partei ergriff – bei der Bundestagswahl im Dezember 1990 zeigte überdeutlich, dass es nun gerade auch in den „neuen Ländern“ eine Mehrheit für die Kohl’sche „Lösung“ des Führungsproblems gab. Daran kann es keinen vernünftigen Zweifel geben.
Montagsdemonstrationen
Die Revolution von 1989 brachte keine alternativen politischen Strukturen hervor. Es wurden weder die „Volkseigenen Betriebe“ vom Volk besetzt, noch Räte oder vernetzte Nachbarschaftskomiteess oder ähnliches geschaffen. Die politische Revolution brachte jedoch eine Institution hervor, die auch für die Zukunft sozialer Bewegungen in Deutschland Bedeutung hat. Die Revolution hatte sozusagen einen festen Termin: Jeden Montag gegen 18 Uhr versammelten sich die Menschen auf zentralen Plätzen ihrer Stadt bzw. Gemeinde, um von dort aus einen Demonstrationszug bzw. eine Kundgebung zu starten: die sogenannten Montagsdemonstrationen. Diese Institution wurde schon 1991 wiederbelebt, als mit der einsetzenden Verramschung und Ausschlachtung ostdeutscher Betriebe durch westdeutsche Kapitalisten und Kapitalgruppen Massenarbeitslosigkeit in den „neuen Ländern“ zum Thema Nr. 1 zu werden begann.
Die Trotzki-Zitate aus: Verratene Revolution (1936), Daten und Fakten wurden u.a. entnommen aus: Heinrich August Winkler 1994: 1989/90: Die unverhoffte Einheit, in: Carola Stern (Hg.): Wendepunkte deutscher Geschichte sowie: Albrecht Sellen 2000: Geschichte kurz & klar.
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