[dropcap]E[/dropcap]s ist August 1917. Im Februar haben die Massen den Zar gestürzt und eine Epoche der revolutionären Klassenkämpfe in Russland und Europa eingeläutet. Doch die politische Reaktion schaut nicht passiv zu. Mit General Kornilow an der Spitze brütet sie ihre eigenen konterrevolutionären Pläne aus…

Kornilow bewegt im August eine loyale Truppe nach Petrograd, dem heutigen St. Petersburg. Offiziell soll sie dem Schutz vor einer deutschen Invasion dienen, aber allen Beteiligten ist klar, dass sie vielmehr die herrschende Klasse vor dem Petrograder Soviet schützen sollen, dem Arbeiterrat mit der längsten Tradition in Russland und Herzen der Revolution. Panik macht sich breit. Droht nun ein Putsch? Eine Militärdiktatur, welche die junge russische Demokratie wieder in die Zeiten der finstersten Tyrannei stürzen soll?

Junge Demokratie
Um zu verstehen, wie es so weit kommen konnte, drehen wir das Rad der Zeit zurück zur ersten russischen Revolution im Februar 1917. In dieser sind nicht die Bolschewiki, sondern die ReformistInnen der Menschewiki und der Trudowiki (eine Abspaltung der Sozialrevolutionären) führend. Ihre politische Mission sehen sie darin, Russland vom Joch des Feudalismus zu befreien und ein Zeitalter des florierenden Kapitalismus einzuläuten. So kommt es, dass sich die Basis in den Räten den ReformistInnen anvertrauen, während diese wiederum ihre Macht ans Kapital abgeben. Der kriselnde Kapitalismus steuerte auf weltgeschichtlicher Ebene jedoch nicht auf den Sozialismus zu, sondern führte direkt in die Barbarei. Die provisorische Regierung Kerenskis hat zwar zumindest zu Beginn einige neue politische Rechte gewährt, aber sie kann kein einziges gesellschaftliches Problem lösen. Nicht mal an der Landverteilung rüttelt sie, was viele Bauern de facto zur Leibeigenschaft oder sogar zum Hungertod verdammt. In Russland herrscht weiterhin Hunger, Krieg und Verderben.

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Die Juli-Tage
Im Juni startet die provisorische Regierung auf Initiative des Kriegsministers Kerenski, ein Trudowik, eine erneute Offensive an der Westfront, die auf der ganzen Linie scheiterte. Die Rechte gibt den Soldatenräten die Schuld, da sie sich zunehmend den Befehlen der Offiziere widersetzten. Gleichzeitig wird der bolschewistische Slogan „Brot und Frieden, alle Macht den Räten“ immer beliebter. Als das Fass überläuft und die Massen sich in einem spontanen Aufstand am 3. Juli erheben, solidarisieren sich die Bolschewiki mit den Massen und nehmen an den Unruhen teil. Die reaktionärsten Spezialeinheiten der Armee, die Kosaken, schiessen auf die Demonstranten, die Bewegung muss sich zurückziehen. Noch nie zuvor war die Regierung so verhasst. Mehr und mehr ArbeiterInnen wenden sich von den ReformistInnen ab, generelle Apathie und Demoralisation herrscht.

Das Lager der Konterrevolution fühlt sich bestätigt. Diese Doppelmachtstruktur aus Sowjets und Duma kann nicht bestehen bleiben. Die aktuelle Regierung ist ihnen zu liberal im Umgang mit den Sowjets, welche nach wie vor eine Gefahr für ihre Macht darstellen. Ein neuer General muss ran: Kornilow soll’s richten. Die Phase der politischen Freiheiten unter Kerenski ist vorbei, die Bolschewiki werden zu politisch Verfolgten, ihre Zeitungen werden konfisziert, Trotzki wird eingesperrt. Lenin muss ins Exil.

General Kornilow
Paradoxerweise soll gerade Kornilows Putschversuch diesen Stillstand der ArbeiterInnenbewegung beenden. Kornilow, der aus einer kosakischen Offiziersfamilie stammt, ist berüchtigt für seine Grausamkeit und seine bedingungslose Loyalität gegenüber dem Zar. Um die Soldaten an der Front gefügig zu halten, führt er die Todesstrafe wieder ein und verbietet Versammlungen aller Art. Die revolutionär gesinnten Einheiten der Armee werden aufgelöst und die Soldatenräte verboten. So sollte die bürgerliche Ordnung an der Front wiederhergestellt werden. Kornilow verkörperte das Programm der Konterrevolution: Todesstrafe für streikende Zivilisten, permanenter Ausnahmezustand, Kriegsrecht.

Kerenski vertraute gerne Kornilows eiserner Faust, da er sich seiner zunehmend prekären Position bewusst war. Der Konterrevolution war eine Koalition mit den Versöhnlern um Kerenski nicht genug, so planten sie ihren eigenen Putsch. Ein doppeltes Doppelspiel: Kerenski verschwor sich mit Kornilow, der ihm die zunehmend kommunistisch orientierten Sowjets vom Hals halten sollte, während Kornilow seine eigene Verschwörung plante. Unter Kornilows Diktatur sollte die alte Ordnung restauriert und die Arbeiterbewegung komplett ausgelöscht werden. Später wird Kornilow einmal sagen, er würde sein Ziel bis zum Schluss verfolgen, selbst wenn es bedeutet, dass „halb Russland in Brand gesteckt, und das Blut von drei Vierteln der Bevölkerung vergossen werden muss.“

Der Putsch im August
Am 24. August gibt er seinen treusten Truppen den Befehl, nach Petrograd, dem damaligen Herzen der Revolution, vorzurücken. Offiziell, um die Sicherheit vor einer deutschen Invasion zu gewährleisten, inoffiziell um den Petrograder Sowjet zu massakrieren und die neue Militärdiktatur auszurufen. Die Regierung hatte natürlich nie so einen Befehl verabschiedet. Die ReformistInnen wissen, dass ihre letzte Stunde geschlagen hat, wenn sie nicht von den Bolschewiki unterstützt werden. Die Bolschewiki sind die einzigen, welche immer noch riesige kämpferische Arbeitermassen mobilisieren können, denn sie haben sich nicht durch die Beteiligung einer zunehmend reaktionären, bürgerlichen Regierung diskreditiert. Die Regierung gibt den roten Garden Waffen und wendet sich sogar an die bolschewistischen Matrosen. Diese entsendet eine Delegation zu Leo Trotzki (der immer noch im Gefängnis sitzt), um ihn um Rat zu fragen, ob sie Kerenski gegen Kornilow unterstützen, oder beide gleichermassen bekämpfen sollen. Lenin und Trotzki sprechen sich für ein temporäres Bündnis mit den Menschewiki und den Sozialrevolutionären aus.

Dies ist im Grunde eine Einheitsfront, eine Taktik, bei welcher verschiedene politische Strömungen der ArbeiterInnenbewegung für eine gemeinsame Aktion gegen einen gemeinsamen Feind zusammenarbeiten, aber sich ihre ideologische und organisatorische Eigenständigkeit bewahren.

Einheitsfront gegen Kornilow
Die Bolschewiki bleiben also bei ihrer Position, den Kampf gegen Kornilow unerbittlich zu führen, aber gleichzeitig keine Unterstützung für die provisorische Regierung zu bieten. In diesem Kampf gegen Kornilow können sie die Schwäche der ReformistInnen aufzeigen und ebenfalls, dass die Bolschewiki die einzigen sind, welche die Konterrevolution effektiv bekämpfen können. „Die Konterrevolution ist die Peitsche der Revolution“ hatte Marx einmal gesagt, und hier sehen wir weshalb: In Anbetracht der Gefahr eines zaristischen Putsches, schlägt die Teilnahmslosigkeit in ihr Gegenteil um. Die ArbeiterInnen sind bereit zu kämpfen und radikalisieren sich zunehmend. Die Idee, dass eine zweite Revolution notwendig ist, gewinnt mehr und mehr AnhängerInnen.

Die Bolschewiki mobilisieren die Massen auf revolutionärer Grundlage, ohne Rücksicht auf die bürgerliche Ordnung und Kapitalinteressen. Die BahnarbeiterInnen sabotieren die Züge und AgitatorInnen rufen Kornilows Truppen dazu auf, sich der Revolution anzuschliessen. Darunter auch kaukasische Muslime, welche aus denselben Gebieten wie die reaktionärsten Einheiten Kornilows stammen. Die reaktionären Offiziere können isoliert und besiegt werden, die kornilowsche Revolte bricht unter dem Druck der Revolution zusammen. Die Offiziere werden teils von ihren eigenen Leuten festgenommen und die übelsten Tyrannen unter den Offizieren werden erschossen. Die Bolschewiki gehen als einzige politische Strömung gestärkt aus der Kornilow-Affäre hervor. Die Waffen, die ihnen von der Regierung gegeben worden sind, kommen gegen Kornilow nicht zum Einsatz, verhelfen ihnen jedoch zum entscheidenden Sieg bei der Oktoberrevolution.

Kornilow selbst wird ebenfalls festgenommen und der bürgerlichen Regierung übergeben. Er hätte jedoch niemals der korrupten bürgerlichen Regierung und ihrem verfaulten Staatsapparat übergeben werden dürfen. Anhänger des Zaren (aus dessen Fingern dieser Staatsapparat schliesslich stammt) werden 1918 Kornilow aus dem Gefängnis befreien. Dieser wird erneut eine zaristische Armee zusammentrommeln und mit Unterstützung mehrer imperialistischen Armeen aus dem Westen einen Bürgerkrieg gegen die Bolschewiki und die Junge Sowjetunion anführen, in dem er versuchen wird, seine Vision eines brennenden, vom Sozialismus gesäuberten Russland wahr zu machen.

Welche Alternative zur Oktoberrevolution?
Oft hören wir, wie blutig die Folgen der Oktoberrevolution waren, die damit nicht nur für den Bürgerkrieg, sondern implizit auch für den Stalinismus verantwortlich gemacht wird. Die Bolschewiki hätten sich besser zurückhalten sollen mit ihrer sozialistischen Utopie und erstmals eine bürgerliche Demokratie gedeihen lassen sollen (und diese sei besser als nichts, wird uns suggeriert). Kornilows Putschversuch erzählt jedoch eine andere Geschichte. Es gab als Alternative zu den Bolschewiki keine friedliche, bürgerlich-demokratische Entwicklung in Russland. Unter der bürgerlichen Regierung Kerenskis verblieb Russland unter dem Joch des imperialistischen Kapitals, u.a. des französischen und des britischen. Deren Interessen erzwangen die weitere Teilnahme am ersten Weltkrieg, während der innere Widerstand gegen den Krieg unter den Arbeiter- und Bauernmassen erstarkte. Bald wäre eine militärische Zerschlagung der Sowjets sowieso notwendig gewesen, ob mit oder ohne Kornilow – und ohne das entscheidende Eingreifen der Bolschewiki wären die Putschisten auch erfolgreich gewesen. Wäre Kornilow erfolgreich gewesen, hätte dies nicht nur die blutige Niederwerfung der Arbeiterräte, und die Wiedererrichtung der alten Ordnung, inklusive des Zarentums bedeutet, es wäre auch der Beginn der ersten faschistischen Diktatur und neuer, imperialistischer Eroberungen gewesen. Der Zerfall des Kapitalismus bot schlicht keine andere Alternative mehr als Sozialismus oder Barbarei.

Die Russische Revolution, und die Kornilow-Affäre ganz besonders, ist ein beispielhaftes Lehrstück für die Prozesse einer Revolution. Sie zeigt in eindrücklicher Weise, wie fundamentale geschichtliche Veränderungen keine sauberen, geradlinige Abläufe sind. Die Widersprüche einer Gesellschaft spitzen sich in einer revolutionären Situation bis aufs Unerträgliche zu. Die daraus resultierende Polarisierung der Gesellschaft schafft ein äusserst instabiles politisches Klima. Machtverhältnisse verschieben sich nicht linear vom einen Pol zum andern, stattdessen schlägt das Pendel mal in die Richtung der Konterrevolution aus, um dann umso extremer in die andere Richtung zu wechseln. Die politischen Prozesse beschleunigen sich und verkehren sich in ihr Gegenteil.

Frank Fritschi
JUSO Basel Stadt

Bild Wikipedia: Die "Wilde Division"