Das Jahr 2016 endete mit zwei dramatischen und blutigen Ereignissen: die Ermordung des russischen Botschafters in Istanbul und der brutale Mord an Menschen, die sich in Berlin friedlich auf das Weihnachtsfest vorbereiteten. Diese Taten stehen in Zusammenhang mit dem grausamen Sumpf im Mittleren und Nahen Osten und besonders in Syrien.
Der Fall von Aleppo verkörpert eine entscheidende Wende der Lage. Russland, das lange isoliert schien und von der „internationalen Gemeinschaft“ (sprich Washington) gedemütigt wurde, kontrolliert jetzt Syrien und entscheidet, was dort passiert. Es hat im Anschluss an eine Vereinbarung über einen Waffenstillstand, bei dem die Russen die Bedingungen diktiert haben, eine Friedenskonferenz in Kasachstan einberufen, zu der weder die Amerikaner noch die Europäer eingeladen wurden.
Auf verschiedene Art und Weise drücken diese Entwicklungen dasselbe Phänomen aus: Die alte Weltordnung ist tot und an dessen Stelle stehen wir vor einer Zukunft der Instabilität und der Konflikte, deren Ausgang wir nicht vorhersagen können. Das Jahr 2016 stellt deswegen einen Wendepunkt in der Geschichte dar. Es war ein Jahr, das durch weltweite Krisen und Turbulenzen gekennzeichnet war.
Vor fünfundzwanzig Jahren, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, waren die Verteidiger des Kapitalismus euphorisch. Sie sprachen vom Tod des Sozialismus und des Kommunismus und sogar vom Ende der Geschichte. Sie versprachen uns, dank der Triumphe der freien Marktwirtschaft und der Demokratie, eine Zukunft in Frieden und Wohlstand.
Der Liberalismus hatte triumphiert und damit hatte die Geschichte ihren finalen Ausdruck in Form des Kapitalismus erreicht. Das war die wesentliche Bedeutung des jetzt berüchtigten Satzes von Francis Fukuyama. Aber jetzt hat sich das Rad der Geschichte eine volle Umdrehung vollführt. Heute ist von diesen zuversichtlichen Vorhersagen der Strategen des Kapitals kein Stein mehr auf dem anderen übrig geblieben. Die Geschichte ist mit aller Macht zurückgekommen.
Plötzlich scheint die Welt von seltsamen und noch nie dagewesenen Phänomenen heimgesucht worden zu sein, die allen Erklärungsversuchen der politischen Experten trotzen. Am 23. Juni hat die britische Bevölkerung in einem Volksentscheid für den Austritt aus der Europäischen Union gestimmt – ein Ergebnis, das niemand erwartet hatte und welches international Schockwellen verursachte. Diese waren aber bedeutungslos, verglichen mit dem Tsunami, die das Ergebnis der Präsidentschaftswahl in den USA hervorrief – ein Ergebnis, das auch niemand erwartet hatte, abgesehen vom Gewinner.
Innerhalb weniger Stunden nach der Wahl von Donald Trump waren die Straßen in den Städten der USA voller DemonstrantInnen. Diese Ereignisse sind die dramatische Bestätigung der Instabilität, welche die gesamte Welt befallen hat. Über Nacht sind die alten Selbstverständlichkeiten verschwunden. Die Gesellschaft befindet sich in einem allgemeinen Gärungsprozess und es besteht ein Gefühl der weitverbreiteten Unsicherheit mit tiefen Vorahnungen bei den Vertretern der herrschenden Klasse und ihrer Ideologen.
Die Apologeten des kapitalistischen Liberalismus beschweren sich bitterlich über Politiker wie Donald Trump, der das Gegenbild der so genannten „liberalen Werte“ repräsentiert. Für solche Menschen scheint das Jahr 2016 ein Albtraum zu sein. Sie hoffen, dass sie aufwachen und herausfinden, dass alles nur ein Traum war, dass das Gestern zurückkehrt und am nächsten Tag bessere Zeiten anbrechen. Aber für den bürgerlichen Liberalismus wird es kein Wiedererwachen und kein morgen geben.
Politische Kommentatoren sprechen mit Grauen vor dem Aufstieg von etwas, was sie als “Populismus” bezeichnen, ein Wort, das so elastisch wie bedeutungslos ist. Der Gebrauch einer solchen konzeptionslosen Terminologie bedeutet einfach, dass diejenigen, die diese benutzen, keine Ahnung haben, worüber sie sprechen. Streng etymologisch gesehen ist Populismus nur die lateinische Übersetzung des griechischen Wortes Demagogie. Der Begriff wird mit dem gleichen Elan angewandt, mit dem ein schlechter Maler eine Wand mit einer dicken Farbschicht bemalt, um seine Fehler zu überdecken. Er wird gebraucht, um eine große Vielzahl politischer Phänomene zu beschreiben, so dass er ganz ohne jeglichen Inhalt wird.
Die Führer von Podemos und Geert Wilders, Jaroslaw Kaczynski und Evo Morales, Rodrigo Duerte und Hugo Chavez, Jeremy Corbyn und Marine Le Pen – sie alle sind scheinbar aus dem gleichen Holz geschnitzt. Es genügt, den tatsächlichen Inhalt dieser Bewegungen, die nicht nur verschieden sind, sondern radikal antagonistisch sind, zu vergleichen, um die vollkommene Sinnlosigkeit einer solchen Sprache zu begreifen. Die Verwendung des Begriffs hat nicht das Ziel einer Klärung, sondern der Irritation oder genauer gesagt Verschleierung der Betäubtheit der einfältigen bürgerlichen politischen Kommentatoren.
Der Tod des Liberalismus
In seinem Leitartikel vom 24. Dezember 2016 sang The Economist eine Lobeshymne auf seinen geliebten Liberalismus. Liberale, so wird uns berichtet, glauben an die „offene Ökonomie und offene Gesellschaften, in denen der freie Austausch von Waren, Kapital, Menschen und Ideen ermutigt wird und in denen universelle Freiheiten durch das Gesetz vor dem Missbrauch durch den Staat geschützt werden.“ Ein solch schönes Bild sollte man wirklich vertonen.
Aber dann kommt der Artikel zu dem traurigen Schluss, dass 2016 „ein Jahr der Rückschläge war“. Nicht nur wegen des Brexits und Donald Trump, sondern auch wegen der Tragödie in Syrien, das mit seinem Leiden allein gelassen wurde und der weitverbreiteten Unterstützung der ‚antiliberalen Demokratie‘ in Ungarn, Polen und anderswo. Da die Globalisierung in Verruf geraten ist, gedeihen Nationalismus und autoritäre Regierungssysteme. In der Türkei wurde die Erleichterung über einen fehlgeschlagenen Staatsstreich durch brutale (und allgemeine) Vergeltungsmaßnahmen überschattet. Auf den Philippinen wurde ein Präsident gewählt, der nicht nur Todesschwadrone einsetzte, sondern sich auch damit brüstete, den Abzug eines Gewehrs zu betätigen. Währenddessen Russland, das die westliche Demokratie hackte, und China, das sich letzte Woche auf den Weg machte Amerika zu verhöhnen, als es eine ihrer maritimen Drohnen beschlagnahmte, bestehen darauf, dass der Liberalismus ausschließlich ein Deckmantel für die westliche Expansion ist.“
Die wunderbare Lobeshymne auf den Liberalismus und die westlichen Werte endet mit einem bitteren Beigeschmack. The Economist schließt verbittert: “Angesichts dieser Litanei haben viele Liberale (von der Gattung der freien Marktapologeten) ihre Nerven verloren. Einige haben Grabinschriften auf die liberale Ordnung verfasst und Warnungen auf die Bedrohung der Demokratie herausgegeben. Andere behaupten mit einer zaghaften Verbesserung des Einwanderungsgesetzes oder zusätzlichen Zollgebühren wird das Leben sich schon wieder normalisieren.“
Aber das Leben wird sich nicht einfach “wieder normalisieren” oder besser gesagt, wir werden in ein Stadium eintreten, das The Economist „neue Normalität“ nennt: Eine Zeit endloser Kürzungen, der Austeritätspolitik und fallender Lebensstandards. In Wirklichkeit leben wir schon eine ziemlich lange Zeit in dieser neuen Normalität. Und das hat schwerwiegende Folgen mit sich gebracht.
Die globale Krise des Kapitalismus hat Bedingungen geschaffen, die völlig anders sind als die Bedingungen, die bisher (zumindest für eine Handvoll privilegierter Staaten) vier Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg existierten. In diesem Zeitraum erlebten wir den größten Aufschwung bei der Entwicklung der Produktivkräfte des Kapitalismus seit der Industriellen Revolution. Das war der Boden, auf dem die viel gepriesenen „liberalen Werte“ gedeihen konnten. Der Wirtschaftsboom bescherte den Kapitalisten ausreichende Profite, um der ArbeiterInnenklasse Zugeständnisse zu machen.
Das war das goldene Zeitalter des Reformismus. Aber die gegenwärtige Periode ist nicht die Ära der Reformen, sondern die der Gegenreformen. Das ist nicht das Ergebnis ideologischer Voreingenommenheit, wie einige törichte Reformisten glauben. Es ist die notwendige Konsequenz aus der Krise des kapitalistischen Systems, das seine Grenzen erreicht hat. Der gesamte Prozess, der sich über einen Zeitraum von sechzig Jahren entfaltet hat, wird in sein Gegenteil verkehrt.
Die ArbeiterInnenklasse wird überall mit Kürzungen, Austeritätspolitik, Arbeitslosigkeit und Armut konfrontiert, statt mit Reformen und steigenden Lebensstandards. Die Verschlechterung der Arbeitsbedingungen, Löhne, Rechte und Renten trifft vor allem die ärmsten und schwächsten Schichten der Gesellschaft. Die Vorstellung von der Gleichstellung der Frauen wird durch die erbarmungslose Suche nach steigender Profitabilität ausgehebelt. Eine ganze Generation junger Menschen wird ihrer Zukunft beraubt. So kann man die gegenwärtige Zeit im Wesentlichen charakterisieren.
Der „Marie-Antoinette-Augenblick“ der Elite
Die herrschende Klasse und deren Strategen finden es schwer, die Realität der gegenwärtigen Lage zu akzeptieren und stehen vollkommen blind vor den daraus entstandenen Auswirkungen. Die gleiche Blindheit kann bei jeder herrschenden Klasse beobachtet werden, die vor dem Aussterben steht und das nicht akzeptiert. Wie Lenin richtig beobachtete, kann ein Mensch der am Abgrund steht, nicht mehr vernünftig denken.
The Financial Times veröffentlichte einen interessanten Artikel von Wolfgang Münchau unter der Überschrift “The elite’s Marie Antoinette moment” (Der Marie-Antoinette-Augenblick der Elite). Er beginnt wie folgt:
“Einige Revolutionen hätten vermieden werden können, wenn die alte Garde von Provokationen Abstand genommen hätte. Es gibt keinen Beweis für den „Dann sollen sie eben Kuchen essen“-Vorfall. Aber etwas Derartiges könnte Marie Antoinette gesagt haben. Es klingt glaubhaft. Die Bourbonen waren schwer darin zu schlagen, wenn es um die Entfremdung von der Gesellschaft ging.“
„Sie haben Konkurrenz bekommen.“
„Unser globales liberales Establishment verhält sich in der gleichen Weise. Zu einer Zeit, in der Britannien dafür gestimmt hat die EU zu verlassen, in der Donald Trump zum US-Präsidenten gewählt wird und Marie Le Pen in Richtung Elysée Palast marschiert, gehen die Türhüter der globalen liberalen Ordnung weiter volles Risiko.“
Der Vergleich mit der Französischen Revolution ist sehr aufschlussreich. Überall hat die herrschende Klasse samt ihrer „Experten“ den Blick für die reale Lage der Gesellschaft völlig verloren. Sie hat angenommen, dass die Ordnung, die aus dem Boom der Nachkriegsökonomie entstand, für immer weiterbestehen würde. Die Marktwirtschaft und die bürgerliche „Demokratie“ waren de unbestrittenen Modelle dieser Epoche.
Ihre blasierte Selbstzufriedenheit erinnert genau an die der unglücklichen Marie Antoinette, der Königin von Frankreich. Es ist keineswegs sicher, dass sie ihren berühmten Satz je ausgesprochen hat, aber er reflektiert genau die Mentalität einer degenerierten herrschenden Klasse, die kein Interesse am Elend der einfachen Leute und der daraus folgenden unvermeidlichen Auswirkungen hat. Am Ende verlor Marie Antoinette ihren Kopf und die heutige herrschende Klasse und ihre politischen Vertreter verlieren ihre Köpfe. The Financial Times fährt fort:
“Warum geschieht das? Makroökonomen dachten, niemand würde ihre Autorität bestreiten. Italienische Politiker haben schon immer Machtspiele gespielt. Und es ist die Aufgabe der EU-Beamten trickreiche Wege zu finden, um kniffelige politische Gesetze und Verträge vorbei an den nationalen Gesetzgebungen zu inspirieren. Sogar jetzt, wo Leute wie Le Pen, Grillo und Geert Wilders von der niederländischen Freiheitspartei sich auf dem Weg an die Macht machen, agiert das Establishment weiter wie bisher. Ein bourbonischer Regent hätte in einem untypischen Moment des Nachdenkens seinen Rücktritt erklärt. Unsere liberale kapitalistische Ordnung, mit ihren konkurrierenden Institutionen, ist verfassungsrechtlich dazu nicht in der Lage. Es ist darauf programmiert weiter volles Risiko zu gehen.“
„Das korrekte Vorgehen wäre, mit der Beleidigung der WählerInnen aufzuhören und, noch wichtiger, die Probleme eines außer Kontrolle geratenen Finanzsektors, unkontrollierte Menschen- und Kapitalströme und die ungleiche Einkommensverteilung zu lösen. In der Eurozone fanden es die politischen FührerInnen sinnvoll, sich durch die Bankenkrise und anschließend durch die Staatsschuldenkrise zu wurschteln – nur um herauszufinden, dass die griechischen Schulden nicht nachhaltig sind und sich das italienische Bankensystem in ernsthaften Schwierigkeiten befindet. Es sind acht Jahre vergangen, aber es gibt immer noch Investoren, die auf den Zusammenbruch der Eurozone wetten.“
1938 schrieb Trotzki, dass die herrschende Klasse mit geschlossenen Augen in die Katastrophe schlittert. Die oben genannten Zeilen sind eine graphische Darstellung dieser Tatsache. Und Wolfgang Münchau zieht folgende Schlüsse:
„Aber es geschah nicht aus dem gleichen Grund, warum es im revolutionären Frankreich nicht geschah. Die Türhüter des westlichen Kapitalismus, wie vorher die Bourbonen, haben nichts gelernt und nichts vergessen.“
Der Zusammenbruch der politischen Mitte
Entgegen dem Vorurteil der Liberalen ist das menschliche Bewusstsein nicht fortschrittlich, sondern zutiefst konservativ. Die meisten Menschen mögen keine Veränderungen. Sie klammern sich hartnäckig an alte Vorstellungen, Vorurteile, an die Religion und die Moral, weil diese ihnen vertraut sind und was vertraut ist, ist immer beruhigender als das, was es nicht ist. Die Vorstellung von der Veränderung ist beängstigend, weil es unbekannt ist. Diese Ängste sind tief in der menschlichen Psyche verwurzelt und existieren seit alters her.
Trotzdem ist die Veränderung notwendig für das Überleben der Menschheit und des Individuums. Die Abwesenheit von Veränderung bedeutet den Tod. Der menschliche Körper ändert sich vom Zeitpunkt der Geburt an ständig; alle Zellen bauen ab, sterben und werden durch neue ersetzt. Das Kind muss verschwinden, damit der Erwachsene geboren wird.
Es ist aber nicht schwierig die Abneigung der Menschen gegen Veränderungen zu verstehen. Gewohnheiten, Tagesabläufe, Traditionen, das alles sind Dinge für den Erhalt der gesellschaftlichen Normen, die das Funktionieren der Gesellschaft unterstützen. Über einen langen Zeitraum werden sie verfestigt und konditionieren die täglichen Aktivitäten von Millionen Männern und Frauen. Sie werden allgemein akzeptiert, wie der Respekt vor den Gesetzen und Gebräuchen, vor den Regeln des politischen Lebens und den bestehenden Institutionen, mit einem Wort, dem Status quo.
Etwas Ähnliches existiert in der Wissenschaft. In seiner fundierten und umfassenden Studie The Structure of Scientific Revolutions erklärt Thomas S. Kuhn, wie jeder Zeitraum in der Entwicklung der Wissenschaft auf ein Paradigma basiert, das allgemein akzeptiert ist und einen notwendigen Rahmen für wissenschaftliche Arbeit bietet. Über eine lange Zeit ist dieses Paradigma von Nutzen. Aber schließlich erscheinen kleine, scheinbar unbedeutende Widersprüche, die letztendlich zum Niedergang des alten Paradigmas führen und es durch ein neues ersetzen. Dies, so Kuhn, konstituiert das Wesen einer wissenschaftlichen Revolution.
Genau der gleiche dialektische Prozess tritt in der Gesellschaft auf. Vorstellungen, die schon so lange existiert haben, dass sie zu Vorurteilen verhärten, geraten schließlich mit der bestehenden Realität in Konflikt. An diesem Punkt fängt eine Revolution des Bewusstseins an stattzufinden. Die Menschen beginnen etwas in Frage zu stellen, was vorher unbestreitbar war. Vorstellungen, die angenehm waren, weil sie Sicherheit boten, werden auf dem harten Fels der Realität zerschlagen. Zum ersten Mal fangen die Menschen an, ihre alten angenehmen Illusionen abzuschütteln und schauen der Realität ins Auge.
Der wirkliche Grund für die Angst der herrschenden Klasse ist der Zusammenbruch der politischen Mitte. Was wir in Britannien, den USA, Spanien und vielen anderen Ländern beobachten, ist eine starke und wachsende Polarisierung zwischen links und rechts in der Politik, welche nur eine Widerspiegelung der wachsenden Polarisierung zwischen den Klassen ist. Diese ist wiederum eine Reflektion der größten Krise in der Geschichte des Kapitalismus.
In den letzten hundert Jahren basierte das politische System der USA auf zwei Parteien – den Demokraten und den Republikanern – die beide für den Erhalt des Kapitalismus standen und die Interessen der Banken und des Großkapitals vertraten. Das wurde sehr gut durch Gore Vidal ausgedrückt, der schrieb: „Unsere Republik hat ein Einparteiensystem, die Partei der Besitzenden, mit zwei rechten Flügeln.“
Dies war das solide Fundament für die Stabilität und Langlebigkeit für das, was die Amerikaner als „Demokratie“ betrachteten. In Wirklichkeit war die bürgerliche Demokratie bloß ein Feigenblatt, um die Realität der Diktatur der Banker und Kapitalisten zu verbergen. Nun wird diese bequeme Einrichtung in Frage gestellt und jäh erschüttert. Millionen Menschen werden sich der Verkommenheit des politischen Establishments und der Tatsache, dass sie von denen, die vorgeben sie zu vertreten, betrogen werden, bewusst. Das ist die Vorbedingung für eine soziale Revolution.
Die Krise des Reformismus
In Britannien können wir eine ähnliche Situation beobachten, wo sich Labour und Konservative an der politischen Macht abwechseln und der herrschenden Klasse die gleiche Art von Stabilität bieten. Labour und Konservative wurden von soliden, respektablen Männern und Frauen geführt auf die man sich bei der Führung der Gesellschaft im Interesse der Banker und Kapitalisten in der City of London verlassen konnte Aber die Wahl von Jeremy Corbyn hat all das über den Haufen geworfen.
Die herrschende Klasse fürchtet, dass der massive Zustrom neuer Mitglieder in die Labour Party den Würgegriff des rechten Flügels in der Partei brechen könnte. Das erklärt die Panik der herrschenden Klasse und den ätzenden Charakter der Kampagne gegen Corbyn.
Die Krise des Kapitalismus ist auch die Krise des Reformismus. Die Strategen des Kapitals ähneln den Bourbonen, aber die reformistischen FührerInnen sind nur eine schlechte Kopie der ersten. Sie sind die Blindesten unter den Blinden. Reformisten, egal ob sie nun zum rechten oder linken Flügel gehören, haben kein Verständnis für die reale Lage. Obwohl sie sich rühmen, große Realisten zu sein, sind sie die schlechtesten Utopisten.
Genau wie die Liberalen, von denen sie bloß ein blasses Spiegelbild sind, klammern sie sich an die Vergangenheit, die verschwunden ist und auch nicht wiederkehrt. Sie beschweren sich bitterlich über die Ungerechtigkeit des Kapitalismus und erkennen nicht, dass die Politik der Bourgeoisie durch die ökonomische Notwendigkeit des Kapitalismus selbst diktiert wird.
Es ist eine besondere Ironie der Geschichte, dass die Reformisten die Marktwirtschaft zu einem Zeitpunkt voll umschlungen haben, an dem diese vor unseren Augen zusammenbricht. Sie hatten den Kapitalismus als etwas akzeptiert, das ein für alle Mal gegeben ist, das nicht in Frage gestellt und gestürzt werden kann. Der vermeintliche Realismus der Reformisten ist der Realismus eines Mannes, der versucht einen Tiger zu überreden; Salat statt Menschenfleisch zu essen. Natürlich hatte der Realist, der versuchte dieses lobenswerte Kunststück durchzuführen, keinen Erfolg den Tiger zu überreden und endete in seinem Magen.
Die Reformisten, die sich vorstellen, dass sie große Realisten sind, träumen von einer Rückkehr zu den Bedingungen der Vergangenheit, zu einer Zeit, in der die Vergangenheit schon in der Geschichte verschwunden ist. Der Zeitraum, der sich jetzt öffnet, wird vollkommen anders sein. In den Jahrzehnten, die 1945 folgten, war der Klassenkampf in den entwickelten kapitalistischen Ländern als Folge der Reformen, welche die ArbeiterInnenbewegung durch Kampfmaßnahmen durchgesetzt hatten, gewissermaßen abgeschwächt.
Trotzki erklärte vor langer Zeit, dass der Verrat dem Reformismus in allen seinen Variationen innewohnt. Damit meinte er nicht, dass die Reformisten die ArbeiterInnenklasse bewusst verraten. Es gibt viele ehrliche Reformisten, aber auch eine große Zahl von korrupten Karrieristen. Aber der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert. Wenn man das kapitalistische System akzeptiert, wie es alle Reformisten, egal ob linke oder rechte, tun – dann müssen sie die Gesetze des kapitalistischen Systems befolgen. In einer Zeit der kapitalistischen Krise bedeutet dies die Unvermeidbarkeit von Kürzungen und Angriffe auf den Lebensstandard.
Diese Lektion mussten Tsipras und Varoufakis in Griechenland lernen. Sie kamen mit großer Unterstützung der Bevölkerung auf der Basis eines Anti-Austeritätsprogramms an die politische Macht. Ihnen wurde aber sehr schnell von Merkel und Schäuble zu verstehen gegeben, dass dies nicht auf der Tagesordnung stand. Am Ende kapitulierten sie und führten das von Berlin und Brüssel diktierte Austeritätsprogramm kleinlaut aus. Wir haben eine ähnliche Situation in Frankreich gesehen, wo Hollande einen massiven Sieg errang und ein Anti-Austeritätsprogramm versprach und dann eine 180-Grad-Drehung vornahm und noch stärkere Kürzungen vornahm als die vorherige rechte Regierung. Das unvermeidliche Ergebnis dieser Politik ist der Aufstieg von Marine Le Pen und der Front National.
Der Kapitalismus in der Sackgasse
In Ländern wie den USA konnte sich jede Generation seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs auf einen höheren Lebensstandard als dem ihrer Eltern freuen. In den Jahrzehnten des Wirtschaftsbooms hatten sich die ArbeiterInnen an relativ leichte Siege gewöhnt. Die GewerkschaftsführerInnen mussten nicht besonders kämpfen, um eine Lohnerhöhung durchzusetzen. Reformen wurden als Regelfall angesehen. Heute war es besser als gestern und morgen würde es besser sein als heute.
In der langen Zeit des kapitalistischen Aufschwungs war das Klassenbewusstsein der ArbeiterInnen irgendwie abgestumpft. Anstatt durch eine klare sozialistische Klassenpolitik wurde die ArbeiterInnenbewegung durch fremde Vorstellungen durch den Transmissionsriemen des Kleinbürgertums infiziert, welche die ArbeiterInnen an die Seite gedrängt und ihre Stimmen mit den schrillen Deklamationen des Mittelklassen-Radikalismus übertönt hat.
Die so genannte Political Correctness (Politische Korrektheit) mit ihrem Mischmasch aus halbgebackenen Vorstellungen aus der Mülltonne des bürgerlichen Liberalismus ist sogar in den Gewerkschaften schrittweise übernommen worden, wo die rechten reformistischen FührerInnen sich ihrer eifrig bedient haben als Ersatz für eine Klassenpolitik und sozialistische Ideen. Die linken Reformisten haben in dieser Hinsicht eine schädliche Rolle gespielt. Es braucht die Hammerschläge der Ereignisse, um diese vorgefassten Meinungen, die eine zerstörende Wirkung auf das Bewusstsein haben, zu beseitigen.
Aber die Krise des Kapitalismus erlaubt solchen Luxus nicht. Die heutige junge Generation wird zum ersten Mal schlechtere Bedingungen vorfinden als die vorherigen Generationen. Diese neue Realität zwingt sich selbst in das Bewusstsein der Massen. Das ist der Grund der gegenwärtigen Unzufriedenheit, die in allen Ländern besteht, und einen explosiven Charakter annimmt. Sie ist die Erklärung für die politischen Erdbeben, die in Britannien, Spanien, Griechenland, Italien, den USA und vielen anderen Ländern stattgefunden haben. Sie ist eine Warnung davor, dass revolutionäre Entwicklungen bevorstehen.
Es ist wahr, dass die Bewegung im jetzigen Stadium durch eine enorme Verwirrung charakterisiert ist. Wie sollte es auch sonst sein, wo die Organisationen und Parteien, die sich an die Spitze einer Bewegung gesetzt haben, um die Gesellschaft zu verändern, selbst in monströse Hindernisse auf dem Weg der ArbeiterInnenklasse transformiert wurden? Die Massen suchen einen Ausweg aus der Krise und stellen die politischen Parteien, deren FührerInnen und Programme, auf die Probe. Alle, die bei der Probe durchfallen, werden gnadenlos an die Seite gedrückt. Es wird bei den Wahlen zu enormen Schwankungen, sowohl nach links als auch nach rechts, kommen. Das alles sind Vorboten einer revolutionären Veränderung.
Im Nachhinein wird der Zeitraum eines halben Jahrhunderts, der dem Zweiten Weltkrieg folgte, als historische Ausnahme betrachtet werden. Die besondere Verknüpfung von Umständen, welche diese Lage schuf, wird mit aller Wahrscheinlichkeit nie wiederholt werden. Was wir jetzt erleben, ist genau die Rückkehr zum normalen Kapitalismus. Das lächelnde Gesicht des Liberalismus, Reformismus und der Demokratie wird an die Seite gedrängt, um das wahre Gesicht des Kapitalismus zu zeigen.
Vorwärts zu einem neuen Oktober!
Ein neuer Zeitabschnitt öffnet sich vor uns – ein Zeitabschnitt des Sturms und Drangs, der viel mehr Ähnlichkeiten mit den 1930ern als mit der Zeit nach 1945 aufweisen wird. Alle Illusionen der Vergangenheit werden mit einem heißen Eisen aus dem Bewusstsein der Massen verbrannt. In einem solchen Zeitraum wie dem jetzigen wird die ArbeiterInnenklasse stark kämpfen müssen, um die Errungenschaften der Vergangenheit zu verteidigen und im Laufe eines bitteren Kampfes zu der Erkenntnis zu kommen, dass ein konsequentes revolutionäres Programm vonnöten ist. Entweder wird der Kapitalismus gestürzt oder die Menschheit erwartet ein schreckliches Schicksal. Das ist die einzige Alternative. Jedes andere Vorgehen ist eine Lüge und ein Betrug. Es ist an der Zeit, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen.
Auf der Grundlage eines kranken Kapitalismus gibt es keinen Ausweg für die ArbeiterInnenklasse und die Jugend. Die Liberalen und Reformisten sind mit aller Macht bestrebt, ihn zu stützen. Sie wimmern über die Bedrohung der Demokratie und blenden dabei die Tatsache aus, dass die so genannte bürgerliche Demokratie bloß ein Feigenblatt ist, hinter dem sich die rohe Realität der Diktatur der Banken und des Großkapitals versteckt. Sie werden versuchen die ArbeiterInnenklasse in Bündnisse zur „Verteidigung der Demokratie“ zu locken, das aber ist eine heuchlerische Farce.
Die einzige Kraft, die ein wirkliches Interesse an Demokratie hat, ist die ArbeiterInnenklasse selbst. Die so genannte liberale Bourgeoisie ist unfähig die Reaktion, die ein direktes Produkt des kapitalistischen Systems ist, dessen Grundlage ihr Wohlstand und ihre Privilegien sind, zu bekämpfen. Es war Obama, der Trump den Weg bereitet hat, genauso wie es Hollande war, der den Weg für den Aufstieg von Le Pen bereitet hat.
In Wirklichkeit bricht das alte System schon vor unseren Augen zusammen. Die Symptome seines Zerfalls sind uns allen ersichtlich. Wir sehen überall Wirtschaftskrisen, sozialen Zusammenbruch, Chaos, Kriege und Zerstörungen. Es ist ein schreckliches Bild, aber es liegt darin begründet, dass der Kapitalismus die Menschheit in eine Sackgasse geführt hat.
Es ist nicht das erste Mal, dass solche Dinge zu beobachten sind. Die gleichen Symptome können in der Periode des Niedergangs und Falls des Römischen Reiches und dem Zeitraum des Zerfalls der Feudalgesellschaft gesehen werden. Es ist kein Zufall, dass die Männer und Frauen damals dachten, das Ende der Welt sei nahe. Aber nicht das Ende der Welt war nahe, sondern das Ende eines bestimmten sozialökonomischen Systems, das sein Potenzial erschöpft hatte und zu einem monströsen Hindernis auf dem Weg des menschlichen Fortschritts geworden war.
Lenin sagte einst, dass der Kapitalismus ein Schrecken ohne Ende ist. Wir sehen jetzt die wörtliche Wahrheit dieser Feststellung. Aber neben den Schrecken, die von einem dekadenten und reaktionären System erzeugt wurden, gibt es eine andere Seite des Bilds. Unsere Epoche ist eine Geburtszeit, eine Zeit des Übergangs von einem historischen Zeitraum in den nächsten. Solche Perioden sind immer durch Schmerzen gekennzeichnet, den Schmerzen einer neuen Gesellschaft, die kämpft, um geboren zu werden, während die alte Gesellschaft kämpft, um sich selbst zu erhalten und das Kind im Leib stranguliert.
Das alte System befindet sich im Sterben. Untrügliche Symptome weisen darauf hin, dass es in Richtung Untergang torkelt. Die Verrottung breitet sich in der bestehenden Ordnung der Dinge aus, seine Institutionen stürzen ein. Die Verteidiger der alten Ordnung werden von einer unbestimmten Vorahnung, von etwas Unbekanntem, ergriffen. Alle diese Anzeichen deuten darauf hin, dass etwas anderes herannaht.
Das allmähliche Zerbröckeln wird durch das Aufflammen der ArbeiterInnenklasse auf der Bühne der Geschichte beschleunigt. Die Skeptiker, welche die ArbeiterInnenklasse abgeschrieben hatten, werden gezwungen alles zurückzunehmen. Vulkanische Kräfte werden sich unter der Oberfläche der Gesellschaft aufbauen. Die Widersprüche werden weiter zunehmen, bis sie einen Punkt erreichen, an dem sie nicht länger tragbar sind.
Es ist unsere Aufgabe, diesen schmerzhaften Prozess zu verkürzen und dafür zu sorgen, dass die Geburt mit den geringstmöglichen Leiden stattfindet. Um das zu schaffen, ist es nötig, den Sturz des gegenwärtigen Systems, das zu einem schrecklichen Hindernis für die Entwicklung der Menschheit und eine Bedrohung für dessen Zukunft geworden ist, durchzuführen.
Alle diejenigen, die versuchen die alte Ordnung zu bewahren, sie zusammenzuflicken, sie zu reformieren, sie mit Krücken zu versehen, welche es ihr ermöglichen noch einige Jahre oder Jahrzehnte zu humpeln, spielen die reaktionärste Rolle. Sie verhindern die Geburt einer neuen Gesellschaft, die allein der Menschheit eine Zukunft bieten und den bestehenden Albtraum des Kapitalismus beenden kann.
Die neue Welt, die kämpft um geboren zu werden, heißt Sozialismus. Es ist unsere Aufgabe dafür zu sorgen, dass diese Geburt stattfindet und das mit den geringstmöglichen Schmerzen und Leiden. Der Weg dieses Ende zu verwirklichen, ist der Aufbau einer mächtigen weltweiten marxistischen Tendenz mit ausgebildeten Kadern und starken Bindungen zur ArbeiterInnenklasse.
Vor einhundert Jahren fand ein Ereignis statt, das den Lauf der Geschichte veränderte. In einem rückständigen, halbfeudalen Land am Rande Europas geriet die ArbeiterInnenklasse In Bewegung, um die Gesellschaft zu verändern. Niemand hatte das erwartet, im Gegenteil. Die objektiven Bedingungen für eine Revolution in Russland schienen nicht vorhanden zu sein.
Europa befand sich im Griff eines schrecklichen Kriegs. Die ArbeiterInnen in Britannien, Frankreich, Deutschland und Russland schlachteten sich im Namen des Imperialismus gegenseitig ab. In einem solchen Zusammenhang musste das Motto „Proletarier aller Länder vereinigt euch“ wie ein Ausdruck eines bitteren Sarkasmus geklungen haben. Russland selbst wurde von einem mächtigen autokratischen Regime mit einer riesigen Armee, Polizei und Geheimpolizei, deren Fühler bis in jede Partei reichten – einschließlich der der Bolschewiki – regiert.
Und trotzdem gerieten die russischen ArbeiterInnen, in dieser scheinbar aussichtslosen Lage, in Bewegung, um die Macht in die eigenen Hände zu nehmen. Sie stürzten den Zar und errichteten demokratische Machtorgane, die Sowjets. Nur neun Monate später kam die Bolschewistische Partei, die zu Beginn der Revolution nur eine winzige Kraft mit nicht mehr als 8000 Mitgliedern war, an die Macht.
Einhundert Jahre später stehen die MarxistInnen vor der gleichen Aufgabe wie Lenin und Trotzki 1917. Unsere Kräfte sind klein und unsere Ressourcen bescheiden, aber wir sind mit der mächtigsten Waffe bewaffnet: Die Waffe der Theorie. Marx sagte, dass die Theorie zu einer materiellen Gewalt wird, sobald sie die Massen ergreift. Wir haben lange Zeit gegen eine mächtige Strömung gekämpft. Aber der Fluss der Geschichte fließt jetzt stark in unsere Richtung.
Ideen, die heute nur von wenigen Menschen wahrgenommen werden, werden in dem vor uns liegenden Zeitraum von Millionen eifrig aufgenommen. Große Ereignisse können mit einer extremen Geschwindigkeit ablaufen und die gesamte Lage transformieren. Das Bewusstsein der ArbeiterInnenklasse kann sich innerhalb weniger Stunden verändern. Unsere Aufgabe ist es, die Kader auf diese großen, uns bevorstehenden Ereignisse, vorzubereiten. Unser Banner ist das Banner des Oktobers. Unsere Vorstellungen sind die Vorstellungen von Lenin und Trotzki. Das ist die endgültige Garantie für unseren Erfolg.
London, 05. Januar 2017
Alan Woods
In Defence of Marxism
Europa — von Emanuel Tomaselli, RKI Österreich — 16. 11. 2024
Berichte & Rezensionen — von Die Redaktion — 15. 11. 2024
Nordamerika — von der Redaktion — 13. 11. 2024
Europa — von Jack Halinski-Fitzpatrick, marxist.com — 11. 11. 2024