Der ehemalige EZB-Chef Mario Draghi hat im Auftrag der EU eine aufschlussreiche Studie über die (fehlende) «Wettbewerbsfähigkeit Europas» erstellt. Der ehemalige «Retter» des Euros skizziert als Lösung eine imperialistische Offensive.

Draghis Studie spricht eine deutliche Sprache: Die EU wird von den USA und China abgehängt. Das zweite grosse Problem ist die mangelnde Innovationskraft der europäischen Industrie, wodurch die Arbeitsproduktivität in Europa von den USA und China abgehängt wird (siehe Grafiken unten).

Digitalisierung, Dekarbonisierung und Rüstung seien die drei grossen Zukunftsfelder, in die nun investiert werden muss, um im internationalen Wettbewerb der Monopole Siege zu erringen. Dafür müsse der Investitionsanteil an der Wirtschaftsleistung (BIP) um 5 % angehoben werden. 27 % des BIP sollen also in Investitionen fliessen, das gab es zuletzt in den boomenden 1960ern. Dies entspricht Mehrausgaben von 750-800 Mrd. Euro jährlich. Weil dies private Firmen nicht leisten werden, solle ein neuer «Marshallplan» aufgelegt werden, viermal grösser als jener nach dem Zweiten Weltkrieg. Höhere Budgetdefizite für diese Investitionen seien in Ordnung, so Draghi.

Doch Kapital allein genügt nicht. Laut Draghi werden Industrie, Forschung, Bildung, strategische Handelspolitik, Rohstoffsicherung, Autonomie in Schlüsseltechnologien und militärische Macht als politische Aufgabenfelder verstanden, die man koordiniert und zielstrebig verfolgen müsse. Um ausreichend Durchschlagskraft auf dem Weltmarkt zu entwickeln, müssen grössere europäische Konzerne entstehen, wofür es mehr Zentralisierung bräuchte (in allen Bereichen: Kapitalmarkt, Energieversorgung, Forschung, Top-Universitäten, EU-Budget und EU-Schulden, Aussenpolitik …). Denn: «Europa muss auf eine Welt mit weniger stabiler Geopolitik reagieren, in der Abhängigkeiten zu Schwachstellen werden und es sich für seine Sicherheit nicht mehr auf andere verlassen kann.»

Problem: Europa wird abgehängt

Draghi zeichnet ein Bild des Abstiegs der EU in den letzten Jahren: Das durchschnittliche jährliche Wirtschaftswachstum seit 2002 liegt in den EU-27-Ländern bei 1,4 %, in den USA bei 2 % und in China bei 8,3 %. Faktoren, die das Wachstum der EU in dieser Periode noch getragen haben – die Ausweitung des Welthandels; billige Energie aus Russland; niedrige Militärausgaben durch die globale US-Hegemonie – sind heute schon Geschichte.

Allein die Abkoppelung vom russischen Gas habe ein Jahr Wirtschaftswachstum vernichtet. Die Produktivität der europäischen Wirtschaft entwickelte sich mit plus 0,7 % pro Jahr gleichzeitig nur etwa halb so schnell wie jene der USA, die in der Informationstechnologie führend ist. Man habe die Digitalisierung schlicht verschlafen und seit der Finanzkrise 2008 fallen die privaten Investitionen in Europa besonders stark zurück. Das Fehlen eines geeinten europäischen Bankenmarktes und die weitgehend nicht erfolgte Privatisierung des Pensionssystems bedeuten, dass zu wenig Kapitalmasse für Investitionen in neue Technologien zur Verfügung steht, womit der Produktivitätsrückstand sich perspektivisch beschleunigt. Die «Kleinheit der europäischen Firmen» und der nationalen Märkte Europas (mit ihren unterschiedlichen Steuer- und Fördermodellen, technischen Regulatorien, kleinen Datensätzen …) ermögliche es nicht, die Skalenffekte der Künstlichen Intelligenz (KI) auszunützen. Eine KI-Modellierung etwa zur Entwicklung neuer Werkstoffe würde rund eine Mrd. Euro kosten, und die Kosten würden mit jedem weiteren Anwendungsgebiet explodieren. Soviel Risikokapital kann kein europäischer Konzern aufbringen. Die nationalstaatlich fragmentierten Energie- und Datenkabelnetze schränken überhaupt den effizienten Betrieb von Rechenzentren in Europa ein.

Draghi warnt: Bleibt die Produktivitätssteigerung auf dem Niveau des vergangenen Jahrzehnts, bedeutet dies, dass das EU-27-BIP bis 2050 stagniert. Denn allein aufgrund der Altersstruktur des Kontinents verkleinert sich ab 2040 der Arbeitsmarkt um zwei Mio. Lohnabhängige pro Jahr. Weniger Lohnabhängige, die ausgebeutet werden, bedeutet weniger Profit, so einfach ist das. Eine Kombination aus hoher Staatsverschuldung, anhaltend «hoher» Zinsen und höheren Ausgaben für die Investitionen in die Dekarbonisierung, Digitalisierung und Aufrüstung könnte eine neue Staatsschuldenkrise auslösen, selbst ohne neue wirtschaftliche oder militärische Krisen (und wir wissen: das ist ausgeschlossen).

Dekarbonisierung und Wettbewerbsfähigkeit

Die Hälfte der Unternehmen sehen laut Draghi in den Energiepreisen Europas ein Investitionshemmnis. Die gegenwärtige EU-Gesetzgebung bedeute, dass energieintensive Produktionszweige (Chemie, Metall, Papier) in den kommenden 15 Jahren 500 Mrd. Euro investieren müssen, um die gesetzlich vorgegebenen CO2-Einsparungsziele zu erreichen. Im Verkehrswesen müssen (bis 2050) jährlich 100 Mrd. Euro investiert werden. Letztlich müsse man diese Grundstoffproduktionen aus Sicherheitsgründen in Europa halten. «Cleantech» – also «grüne Technologien» – könnte die Energieerzeugung langfristig verbilligen und neue innovative Produkte mit Weltmarktpotential hervorbringen. Allerdings hinkt dieser Plan, weil China mittlerweile für viele neue Technologien bereits die Führerschaft in Entwicklung und Produktionskapazität übernommen hat. Selbst wo es Innovationen gebe, seien Konzerne und die europäischen Kapitalmärkte im Weltmassstab zu klein.

Militarisierung

Der Kampf um die Märkte und Einflusszonen wird klarerweise nicht nur auf dem Heimmarkt geführt, sondern weltweit. Draghi beschreibt: «Europa sieht sich nun mit konventioneller Kriegsführung an seiner Ostgrenze und hybrider Kriegsführung überall konfrontiert, auch Angriffe auf Energieinfrastruktur und Telekommunikation, Eingriffe in demokratische Prozesse und die Waffe der Migration. Gleichzeitig verlagert sich die strategische Doktrin der USA von Europa weg und hin zum pazifischen Becken (…), angetrieben von der wahrgenommenen Bedrohung durch China. Infolgedessen wächst der Bedarf an Verteidigung.» Abhängigkeiten von kritischen Rohstoffen und Zukunftstechnologien sind «strategische Schwachstellen», die etwa ein Fünftel der EU-Importe umfassen.

Der Zugang zu Rohstoffen und der Aufbau einer Lieferkette für die Chipproduktion wird teuer werden, da nicht mehr die effizienteste Produktion, sondern die Kontrolle über die Produktion zum zentralen Kriterium wird. China habe sich in Afrika einen grossen Vorsprung erarbeitet. Es sei eine Schwäche Europas, dass der Handel mit Rohstoffen privaten Akteuren und dem Markt überlassen sei. Vorbei sind die Zeiten, in denen die Vorzüge des «freien Marktes» auf Weltebene gepriesen werden. Stattdessen skizziert Draghi in klassisch imperialistischer Manier: «Die EU muss eine echte ‚Aussenwirtschaftspolitik‘ entwickeln, die auf Sicherung kritischer Ressourcen basiert.»

Im nächsten Jahrzehnt müssen die Rüstungsausgaben dafür um 500 Mrd. Euro gesteigert werden, zitiert Draghi Zahlen der EU-Kommission. Man habe sich zu sehr auf die USA verlassen und die eigenen Militärausgaben vernachlässigt. Die Rüstungslieferungen in die Ukraine hätten die Lagerbestände geleert und gezeigt, dass auch die Rüstungsindustrie zu klein dimensioniert sei. Technologisch seien europäische Panzer, U-Boote etc. jenen der USA ebenbürtig oder gar besser. Aber die Innovationskraft der europäischen Waffenindustrie drohe ins Hintertreffen zu kommen, da die USA jährlich 130 Mrd. Euro allein für militärische Forschung ausgeben, und die EU nur 10,7 Mrd. Euro (2022). Die Finanzen für die Entwicklung komplexer Militärsysteme der Zukunft können von den einzelnen europäischen Nationalstaaten nicht aufgebracht werden, daher auch hier: Mehr Europa, um Drohnen, Hyperschall-Raketen, Energie-Waffen, militärische KI, Meeresboden- und Weltraumwaffen zu entwickeln! Stattdessen würden aktuell viele Kapazitäten verschwendet, weil in der EU zwölf verschiedene Kampfpanzer hergestellt werden.

Imperialismus aus dem Lehrbuch

Draghis Bericht ist eine Blaupause für die Tendenzen des modernen Kapitalismus. Er drückt in den Worten eines ernsthaften Kapitalstrategen aus, was schon Lenin vor über hundert Jahren über die höchste und letzte Stufe des Kapitalismus, den Imperialismus, zu sagen hatte: Gekennzeichnet ist er durch allgemeine gesellschaftliche Fäulnis unter der eisernen Faust immenser Konzentration von Kapital und Macht. Profitabel einsetzen kann man die moderne Technologie nur, wenn man den Weltmarkt beherrscht. Diese Herrschaft muss aber (gewaltsam) erkämpft werden.

Was ein immenses Potenzial für die Befriedigung aller menschlichen Bedürfnisse in einer weltweiten demokratischen Planwirtschaft wäre, wird im Zwangskorsett von Nationalstaat und Privateigentum so zur Triebkraft für Militarismus gegenüber anderen Kapitalgruppen und Nationalstaaten und soziale Angriffe gegenüber der «eigenen» Arbeiterklasse. Draghi untermauert diese dem Kapitalismus innewohnenden Tendenzen mit Zahlen, Daten und Fakten.

Dabei nimmt er fest die Klassenposition der herrschenden Klassen Europas ein. Sein Bericht soll die politischen Eliten wachrütteln, um die Herausforderungen der imperialistischen Konkurrenz der USA und Chinas anzunehmen und ihnen offensiv entgegenzutreten. Die imperialistischen Leitgedanken seines Reports prägen die Politik in Europa schon jetzt. Aber der Haken an Draghis Perspektive ist: Einen letztendlich dafür notwendigen europäischen Zentralstaat wird es nicht geben. Der europäische Kapitalismus ist und bleibt nationalstaatlich strukturiert und es gibt keine soziale Klasse, die im Kapitalismus der Träger einer geschlossenen imperialistischen europäischen Zentralmacht sein könnte. Draghi hat recht darin, dass viele Zwergstaaten im Konzert der grossen EU-Mächte vernachlässigbare Grössen sind, deren Interessen man in Berlin oder Paris (und auch Peking und Washington) biegen kann. Aber wenn er etwa einen einzigen, gemeinsamen europäischen Panzer fordert, oder ein bis zwei europäische Mega-Banken, die auf Weltebene die Konkurrenz herausfordern können, stellt sich sofort die Frage: Welche im Konzert der sich gegenseitig verfeindeten europäischen herrschenden Klassen kontrolliert diese letztlich? Welches Land kontrolliert Europa selbst, Deutschland oder Frankreich? Die letzten Jahre zeigen, dass die Krise des Kapitalismus diese Widersprüche noch zuspitzt, anstatt sie aufzuheben, was aus Sicht des Kapitalstrategen notwendig wäre.

Die innereuropäischen nationalen Widersprüche können auf kapitalistischer Basis nie friedlich gelöst werden. Die globale militärische Macht der USA schwindet und ihre Staatsfinanzen sind völlig zerrüttet, China ist zunehmend von immenser Überproduktion geprägt. Perspektivisch aber bleibt Europa gegenüber diesen imperialistischen Konkurrenten durch seine Zersplitterung weiter im Hintertreffen, im Weltmassstab ist und bleibt Europa ein grosser Balkan. Diese Schwäche des Kapitalismus in Europa ist eine Chance für die Arbeiterklasse, die Herrschenden zu stürzen, die Konzerne zu enteignen, die Grenzen niederzureissen und eine friedliche, demokratische Planwirtschaft innerhalb der Vereinigten Sozialistischen Staaten Europas zu errichten. 


Arbeitsproduktivität EU vs. USA 1890-2022 (Index (USA = 100%))









Unterschied der Gas- und Energiepreise für die Industrie









Verteidigungsausgaben der EU-Mitgliedstaaten (% des BIP)