Rede von Jannick Hayoz am Gründungskongress
Vor 100 Jahren starb Lenin . Für uns ist das alles andere als eine rein historische Frage, sondern von höchster Aktualität. Lenin ist von grösster Bedeutung für die Partei, die wir gründen.
Lenin ist untrennbar verbunden mit der Russischen Revolution von 1917. Lenin und die Bolschewiki setzten das in die Tat um, was auch heute unser Ziel ist. Die Arbeiter in Russland übernahmen die Macht, stürzten die Herrschenden, enteigneten die Kapitalisten .
Ein englischer Journalist (Arthur Ransome), alles andere als ein Bolschewik, war dort, und war fasziniert: «Da war das Gefühl einer schöpferischen Kraft der Revolution. Der Ausdruck von etwas, das bis dahin im Bewusstsein der Menschheit verborgen war.» Er wurde Autor von Kinderbüchern. Aber er versuchte ehrlich , das Wesen dieser Revolution in Worte zu fassen. Die arbeitenden Massen, heute Rohstoff zur Ausbeutung, haben begonnen, ihr Leben selbst zu gestalten!
Das war ein Leuchtfeuer für die kriegsmüden Soldaten in den Schützengräben und für die ausgebeuteten Arbeiter in den Fabriken. Das löste Revolutionen aus in diversen Ländern, mit Wirkungen bis in die Schweiz.
Lenin war unbestreitbar der Architekt dieser Revolution. Darum zog er den Hass der Herrschenden auf sich wie keine zweite Person. Hoover, später Chef des FBI, schrieb: «Lenin führte in die menschlichen Beziehungen eine neue Dimension des Bösen und der Verdorbenheit ein, die von Dschingis Khan oder Attila nicht übertroffen wurde.» Es hat sich nichts geändert seither. Sie stellen Lenin bis heute als blutrünstigen Diktator und Psychopathen hin.
Aber warum reicht Lenins physischer Tod nicht? Sie müssen die Idee von Lenin zerstören, die Erinnerung an ihn anschwärzen. Denn sie haben Angst, dass seine Ideen in die Hände einer neuen Generation von Klassenkämpfern gelangen.
Und genau das passiert heute! Lenin erzeugt Enthusiasmus in einer neuen Generation von Klassenkämpfern. Das ist ein Symptom einer tiefen Radikalisierung.
Wir müssen von Lenin lernen, um den Kampf zu Ende zu bringen, den Lenin begonnen hat.
Als Marxisten verstehen wir, dass die Geschichte nicht einfach willkürlich von «grossen Männern» gemacht wird. Die Geschichte verläuft gesetzmässig, wie alles auf der Welt, wie die ganze Natur. Aber wir verleugnen auch nicht die entscheidende Rolle von Individuen. Einzelne Figuren können in kritischen Momenten eine entscheidende Rolle spielen, wenn sie ein Glied in einer objektiven historischen Kette sind.
Genau das war Lenin. Im Oktober war die Situation völlig gereift. Aber alle Figuren an der Spitze der Revolution (Kamenew, Sinowjew) sagten, man müsse warten. Lenin schrieb: «Warten wir! Worauf? Auf ein Wunder!» Ohne Lenin wäre die Stunde des Aufstands verpasst worden. Es hätte ohne Lenin keine Oktoberrevolution gegeben.
Aber Lenin wäre nichts gewesen ohne die zehntausenden namenlosen Bolschewiki in den Putilow-Werken, in der Flotte, in der Armee. Nur mit der bolschewistischen Partei konnte Lenin seine Rolle in der Geschichte spielen. Und diese Partei fiel nicht im Oktober vom Himmel, genauso wenig wie Lenin selbst. Sie wurde sorgfältigst aufgebaut über Jahre und Jahrzehnte. Das war Lenins grosses Verdienst. Nur er hatte das verstanden, bereits in «Was tun?» 1902, einem seiner ersten Meisterwerke.
Ein grosser Teil dieser Vorbereitungsarbeit machte Lenin aus dem Exil in der Schweiz. Einmal fragte die Bundesanwaltschaft bei der Polizei nach, was es mit diesem Lenin auf sich habe. «Wir messen der Angelegenheit keine grosse Bedeutung bei», antwortete die Polizei. Wir können von diesen Dummköpfen nicht erwarten, dass sie verstehen, was Lenin gemacht hat. Aber wir müssen es verstehen! Man muss den Kern einer kommunistischen Partei vor den grossen Ereignissen aufbauen.
Aber warum konnte gerade die bolschewistische Partei diese Rolle spielen, warum genau Lenin?
John Reed beschreibt in «Zehn Tage, die die Welt erschütterten» eine der ersten Reden von Lenin nach der Machteroberung. «In abgetragenem Anzug, mit Hosen, viel zu lang für ihn. Zu unauffällig, um das Idol eines Mobs zu sein, aber doch geliebt und verehrt wie selten ein Führer in der Geschichte. Ein Volksführer eigner Art – Führer nur dank der Überlegenheit seines Intellekts.»
Lenins Kraft kam von Ideen! Die russische Arbeiterklasse drängte instinktiv in Richtung Revolution, mit oder ohne Lenin. Aber Lenin machte, über den Hebel der Partei, dieses halb-bewusste Streben bewusst . Genau das ist die Rolle einer revolutionären Führung. Sie macht keine Revolution für die Arbeiterklasse. Wir sind keine Putschisten. Sie zwingt die Arbeiterklasse auch nicht. Sondern sie klärt den Bewusstseinsprozess der Arbeiterklasse auf und hilft ihr, die Sache zu Ende zu denken.
Lenin stellte sich die grössten praktischen Aufgaben : Eine Partei aufbauen, die die Arbeiterklasse an die Macht bringt, international, und die Gesellschaft auf neuer Grundlage aufbaut. Aber die Aufgabe ist unlösbar, wenn man sich nur auf die engsten unmittelbaren praktischen Erfahrungen stützt. Mit solchem Empirismus muss man experimentieren. So kann man vielleicht Anschläge auf Politiker oder Schwarze-Block-Demos machen. Aber unsere Aufgabe ist unendlich grösser. Lenin nahm seine gigantische Aufgabe viel zu ernst, als dass er nur auf den engen Rahmen seiner eigenen Erfahrung gebaut hätte. Lenin verachtete Amateurismus.
Ein Kommunist muss sich auf die Lektionen der Kämpfe der ganzen Menschheit stützen. Genau das ist Theorie! Das gibt keine Formel für alle Probleme. Aber es gibt einen Leitfaden, um an die Kämpfe richtig heranzugehen.
Lenin war nicht von Anfang an Marxist. Aber als er den Marxismus gefunden hatte, liess er ihn nie wieder los. Weil der Marxismus eine Revolution in der Menschheitsgeschichte bedeutete. Die Geschichte war bis dahin hinter dem Rücken der Menschen verlaufen. Der Marxismus lüftete das Geheimnis der Logik der menschlichen Geschichte!
Schaut euch das «Kommunistische Manifest» an. Das wurde 1848 geschrieben, in einer historischen Periode, wo die proletarische Revolution noch nicht wirklich auf der Tagesordnung stand. Und dann schaut die Perspektive an, die das «Manifest» aufstellt: «Indem wir die allgemeinsten Phasen der Entwicklung des Proletariats zeichneten, verfolgten wir den mehr oder minder versteckten Bürgerkrieg innerhalb der bestehenden Gesellschaft bis zu dem Punkt, wo er in eine offene Revolution ausbricht und durch den gewaltsamen Sturz der Bourgeoisie das Proletariat seine Herrschaft begründet.» Wahre Theorie gibt Voraussicht. Und was für eine Voraussicht das ist ! Das ist die Perspektive der Pariser Kommune, der Russischen Revolution!
Wenn ihr heute an die Unis geht, dann heisst es überall, dass man «neue» Ideen brauche. Aber Lenin wollte das Rad nicht neu erfinden. Er stützte sich auf die höchsten Errungenschaften, eignete sich diese wirklich an und wandte diese Theorie an auf die neue Wirklichkeit, auf Russland, auf den Imperialismus usw. So übernahmen Lenin und die Bolschewiki die Macht. Das ist ein Fakt! Neu oder alt ist nicht die Frage. Die Frage ist wahr oder falsch!
Aber die Theorie des Marxismus war keine Formelsammlung für Lenin, sondern sein Leitfaden zum Handeln. Und das Herzstück dieses Leitfadens ist die Philosophie des dialektischen Materialismus.
In einer Phase der Reaktion um 1908 wollten Intellektuelle in der Partei den Materialismus über Bord werfen. Die Bolschewiki waren unter dem Druck der Repression und des Pessimismus zusammengeschrumpft. Lenin verteidigte die Philosophie des Marxismus mit allen Mitteln. «Ich lasse mich eher vierteilen, als dass ich mich damit einverstanden erkläre, an einem Organ oder an einem Kollegium mich zu beteiligen, das solche Sachen predigt», schrieb er in einem Brief. Die Verteidigung der marxistischen Philosophie hatte einen hohen Preis, es kam zu einem Split.
Aber für Lenin war es unter dem Strich keine Frage. Denn er verteidigte seine wichtigste Waffe, den Materialismus – die philosophische Ansicht, dass es eine objektive natürliche Welt ausserhalb von unserem Kopf gibt, die wir verstehen und verändern können.
Hier schrieb Lenin sein philosophisches Hauptwerk, «Materialismus und Empiriokritizismus». Dieses Buch verändert euch! Heute hat die Bourgeoisie kein Interesse mehr an der Wahrheit . Überall heisst es, alles sei «subjektiv». Das ist Gift für Revolutionäre, die die objektive Welt verstehen und verändern wollen! Das Buch von Lenin ist das Gegengift. Es gibt Revolutionären einen sicheren philosophischen Boden unter den Füssen.
Für seine Prinzipientreue beschimpften viele Führer der Zweiten Internationale, vermeintliche «Marxisten», Lenin als «Fanatiker». Ja, Lenin hatte einen eisernen Willen. Aber das war sekundär. Hinter Lenins «Sturheit» steckte nichts als eine unverhandelbare Klassenposition, völlige Unabhängigkeit von der Bourgeoisie! Das war diesen Opportunisten fremd, nicht sein harter Kopf!
Der Erste Weltkrieg hat alle Schwächen schonungslos entlarvt. Das erste Todesopfer des Krieges ist bekanntlich die Wahrheit. Verschiedene imperialistische Mächte versuchten jeweils, sich als Opfer darzustellen und so die Massen hinter sich zu vereinen. Die «sozialistischen» Führer knickten einer nach dem anderen ein. Sie stellten sich hinter ihre eigene Bourgeoisie und schickten die Arbeiterklasse ins Gemetzel. Lenin liess sich nicht von der öffentlichen Meinung erdrücken, sondern er konnte unabhängig von der Bourgeoisie denken.
Die Zweite Internationale brach zusammen. Es stellten sich riesige organisatorische Aufgaben. Was machte Lenin im Schweizer Exil? Er studierte Philosophie!
Das war nichts Akademisches. Er schmiedete die Waffen. Ich gebe euch eine seltene Einsicht eines bürgerlichen Schweizer Historikers zu dieser Periode: «Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass der geistige Sprengstoff, der in der Oktoberrevolution gezündet wurde, von Lenin in der Schweiz hergestellt worden ist.»
Der dialektische Materialismus liefert uns eine Methode, wie man die Einzelereignisse zu einem Gesamtbild zusammensetzen kann und wie man verstehen kann, wie sich unter der scheinbar statischen Oberfläche der Keim von etwas Neuem entwickelt.
Mit dieser Methode sah Lenin hinter der Fassade der bürgerlichen Propaganda und den Lügen der einzelnen Imperialisten das wahre Gesamtbild. Das kapitalistische System hatte seine Grenzen überschritten. Es war ein Krieg zwischen Räubern um die Neuaufteilung der Welt.
Wenn ihr die Mechanismen unter der Oberfläche des heutigen geopolitischen Chaos verstehen wollt, dann müsst ihr das Buch lesen, das Lenin damals mit Hilfe der dialektischen Methode schrieb: «Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus».
Und Lenin sah, wie unter der Oberfläche der Barbarei und der Zerstörung die Bedingungen der Revolution reiften. Das gab ihm die Anleitung zum Handeln. Er bereitete sich bereits auf die Revolution vor.
Darum beschäftigte sich Lenin Jahre vor 1917 mit der Staatsfrage, einer der Grundfragen der Revolution. Lenin begann, an einem seiner wichtigsten Bücher zu schreiben, «Staat und Revolution». Er ging zurück zu Marx und Engels.
Die Revolution kam und stellte genau die Staatsfrage, die Machtfrage! Es begann mit der Februarrevolution. Der Zarismus wurde gestürzt. Es entstand eine Situation der Doppelmacht: Auf der einen Seite gab es den Keim einer Arbeitermacht, die Sowjets; auf der anderen Seite gab es die Provisorische Regierung, die Regierung der Grossgrundbesitzer und Kapitalisten.
Hier seht ihr vielleicht am klarsten die Macht der Theorie – und wie verheerend der Empirismus ist. Nicht alle Führer der Bolschewiki waren wie Lenin. Viele waren ehrliche Kämpfer, aber Empiristen und «Practicos». Sie konnten den Kopf nicht über die engsten unmittelbaren organisatorischen Aufgaben heben.
Stalin gehörte zu diesen «Practicos». Er war ein Apparatschik durch und durch! Er interessierte sich nur für die unmittelbarsten organisatorischen und praktischen Fragen. Er hatte eine regelrechte Abneigung gegen die Theorie.
Er wurde im Februar 1917 mitgerissen von der Stimmung der Masse, die noch zu Gunsten der Reformisten war. Er stellte sich hinter die Reformisten – und damit indirekt hinter die Regierung der Kapitalisten. Stalin und Co. hätten die Partei in den Sumpf der Klassenkollaboration gesteuert!
Es brauchte Lenin, um die Partei auf Kurs zu bringen. Er wandte die marxistische Theorie vom Staat auf die konkrete lebendige Realität an. Marx sagte, dass jeder Staat ein Klassenstaat ist – entweder die Diktatur der Bourgeoisie oder der Arbeiterklasse. Auf dieser Basis sah Lenin, dass die Doppelmacht aufgelöst werden musste – entweder in eine brutale Militärdiktatur oder in einen richtigen Arbeiterstaat. Das waren die Alternativen. So lenkte Lenin die Partei und die Arbeiterklasse zur Machteroberung!
Der junge Arbeiterstaat wurde schnell in einen Kampf um Leben und Tod verwickelt. Russland war eine belagerte Festung. 21 imperialistische Armeen fielen ein. Für Lenin war völlig klar, dass nur die internationale Ausweitung der Revolution Russland retten konnte. Lenin und Trotzki bauten unter den härtesten Bedingungen des Bürgerkriegs eine neue Internationale mit einem sauberen kommunistischen Banner auf.
Aber die jungen, unerfahrenen Führer der Kommunistischen Internationale dachten, es reiche, einfach eine unnachgiebige revolutionäre Haltung zu haben, um zur Revolution zu kommen. Aber das reicht nicht! Man muss sich auf die konkrete Realität stützen, hat Lenin gesagt, und die Welt durch die Augen der Arbeiter anschauen, die noch keine Kommunisten sind. Man muss verstehen, wo das Bewusstsein steht, und mit der richtigen Taktik die Massen der Arbeiter gewinnen. Um die jungen Führer auszubilden, schrieb Lenin sein Buch «Der ‘Linke Radikalismus’, die Kinderkrankheit im Kommunismus». Das war Lenins definitive Antwort auf die Frage von Strategie und Taktik – eine Pflichtlektüre für jeden ernsthaften Revolutionär heute!
Aber das war alles im Eifer des Gefechts. Es konnte in keinem Land eine Partei wie die von Lenin aufgebaut werden. Die Russische Revolution blieb isoliert in rückständigen Bedingungen, die Revolution degenerierte und mit ihr die Komintern. Lenins letzter Kampf auf dem Totenbett war gegen die Bürokratisierung des Arbeiterstaats, angeführt von Stalin.
Die Bourgeoisie kann übermächtig erscheinen. Alle Machtmittel sind in ihren Händen: die Fabriken, die Presse, die Universitäten, und auch militärisch-technisch haben wir keine Chance.
Wir sind klein und haben einen Sinn für Proportionen. Aber wir haben etwas viel Mächtigeres. Es gibt kein Rezeptbuch für die Revolution. Aber es gibt einen Kompass zur Revolution! Lenin und die Bolschewiki machten mit dem Marxismus die Revolution. Diese Ideen sind in unserer Internationale konserviert, der Revolutionary Communist International. Darum sind wir überzeugt, dass wir heute Lenins Kampf zu Ende führen können – zum endgültigen Sieg des Kommunismus.
7. bis 11. August 2024
Kommunisten müssen sich bewaffnen mit den Lektionen vergangener Kämpfe. Denn wer nicht aus der Geschichte lernt, ist verdammt dazu, alte Fehler zu wiederholen.
Lenin gründete 1919 die Dritte (Kommunistische) Internationale. Die frühen Jahre der Kommunistischen Internationale – bevor sie stalinistisch degenerierte – stellen den bisherigen Höhepunkt der internationalen kommunistischen Bewegung dar. Die Komintern vereinte Massen unter ihrem Banner. Ihre ersten vier Kongresse waren höchste Schulen des Kommunismus, angeleitet von den Führern der Oktoberrevolution, von Lenin und Trotzki.
Das Marxistische Sommercamp der RKP führt eine neue Generation von Klassenkämpfern durch die Lektionen der Kommunistischen Internationale.
Lernen wir von Lenin!
Mehr Informationen dazu findest du hier!
Schweiz — von Martin Kohler, Bern — 23. 12. 2024
Perspektive — von der Redaktion — 20. 12. 2024
Nah-Ost — von Hamid Alizadeh, marxist.com — 08. 12. 2024
Nordamerika — von Alan Woods, marxist.com — 27. 11. 2024