Die Bilder des Massenaufstandes in Sri Lanka im Frühsommer gingen viral. Für Millionen Lohnabhängige und Jugendliche weltweit sind sie eine Quelle der Inspiration. Für die herrschende Klasse, auf der anderen Seite, ein fetter Grund zur Sorge. Denn auch wenn Sri Lanka ein kleiner Inselstaat ist, zeigt dieser die Vorbedingungen einer revolutionären Situation. Und genau diese Bedingungen reifen in einem Land nach dem anderen heran. Die Schlussfolgerung: Pessimismus ist fehl am Platz – Prepare for World Revolution!
Unmittelbarer Auslöser des Aufstandes in Sri Lanka war die Explosion der Energie- und Nahrungsmittelpreise, die – in Kombination mit dem Missmanagement des Regimes – zu einem regelrechten Wirtschaftskollaps führte. Die Inflation liegt offiziell bei über 50 Prozent, aber bei den meisten Grundbedarfsgütern ist sie weitaus höher. Die bereits unbeliebte Regierung von Gota Rajapaksa und sein korruptes Regime sank völlig in Ungnade. Die spontane Protestbewegung «Aragalaya» (der Kampf) hielt sich zunächst über drei Monate und drängte zahlreiche Minister zum Rücktritt.
Doch das Elend wurde nur grösser. Mitte Mai kündigte die Regierung internationale Zahlungsunfähigkeit an. Trotz einer Preiserhöhung nach der anderen gab die Regierung im Juni bekannt, dass das Land keinen Treibstoff mehr habe. Der Verkauf von Treibstoff wurde verboten. Nur noch Rettungsfahrzeuge konnten tanken. Um zu essen, müssen die Menschen arbeiten. Aber wie soll das gehen, wenn sie nicht zur Arbeit fahren können? Für viele kam das Verbot einem Urteil zum Hungern gleich.
Der Ausbruch der Wut war unvermeidlich. Am 9. Juli verschafften sich Zehntausende trotz Ausgangssperre Zugang zur Hauptstadt Colombo. Sie überwanden dazu erhebliche Transportschwierigkeiten und kamen mit dem Fahrrad, auf Anhängern von Tanklastwagen oder festgeklammert an Zügen.
Da nicht alle nach Colombo durchkamen, fanden in Städten im ganzen Land Demonstrationen statt – auch in Jaffna im Norden, wo mehrheitlich Tamilen leben. Die seit der britischen Kolonialherrschaft geschürte Spaltung zwischen Singhalesen und Tamilen verpuffte. Alle ethnischen und religiösen Unterschiede wurden durch die gemeinsamen Interessen der ganzen Bevölkerung gegen das Rajapaksa-Regime unwichtig. Das beweist: Im Kampf lernen die Massen schnell, dass Nationalismus und Identitätspolitik die Bewegung spalten und schlussendlich nur dem Regime dienen.
In Colombo wurden die Proteste mit Tränengas, Wasserwerfern und brutalen Angriffen der Sicherheitskräfte beantwortet. Letztere griffen auch eine Gruppe von Journalisten an. Aber an anderen Orten wurde deutlich, dass die Stimmung der Wut sogar einen Teil der Polizei und der Armee erfasst hatte: Ein Polizeibeamter warf seinen Helm ab und schloss sich den Demonstranten an und eine Gruppe von Soldaten marschierte mit wehenden Fahnen durch eine jubelnde Menge. Polizei-Barrikaden wurden weggefegt. Und dann standen Tausende vor dem Präsidentenpalast.
Tausende von ArbeiterInnen, Bauern und Jugendlichen strömten über die Treppen des Palastes. Innert Minuten gingen epische Bilder um die Welt: Nach einer Phase des Jubels und der Sprechchöre sahen sich die Menschen erstaunt im Luxus-Palast um. Ein Polizeibeamter setzte sich an das Klavier des Präsidenten und spielte ein Lied. Im Innenhof kühlten sich Dutzende Demonstranten im privaten Swimmingpool des Präsidenten ab. In einem Raum fanden sie Stapel von mehreren Dutzend Millionen Rupien, die der geflohene Präsident Gota vermutlich zurückgelassen hatte. Am Abend wurde vor dem Palast Bella Ciao gespielt, das Lied der italienischen antifaschistischen Partisanenbewegung im Zweiten Weltkrieg. Dieses wird heute als Revolutionslied in der ganzen Welt wiederbelebt.
Was macht eine Revolution aus? Die Unterdrückten und Geknechteten können nicht weiterleben wie bisher – sie vertrauen nicht mehr auf die professionellen Politiker und Institutionen. Stattdessen beginnen sie, die Geschicke selbst in die Hand zu nehmen. Eine Revolution ist ein «gewaltsamer Einbruch der Massen auf die Bühne der Geschichte», wie der russische Revolutionär Trotzki schrieb.
Sri Lanka beweist eindrücklich die unglaubliche Macht der Massen und wie unbegründet Pessimismus ist: Die härteste Repression ist völlig wirkungslos, wenn sich die Massen richtig zu bewegen beginnen. Wenn die Arbeiterklasse ihre Angst verliert, kann kein Staat, keine Polizei und keine Armee der Welt sie aufhalten. Die Macht lag auf der Strasse.
Doch Sri Lanka zeigt noch etwas anderes: Die Massen stürzten die Rajapaksa-Clique ohne sozialistisches Programm, Organisation und Führung. Die Macht lag in den Händen der Arbeiterklasse und Jugend, doch ohne richtige Führung entglitt sie ihnen wieder. Ohne klaren Weg vorwärts zogen sich die Massen wieder zurück und gingen nach Hause. So konnte sich das Regime unter dem verhassten Wickremesinghe vorübergehend wieder stabilisieren. Die heutige Repression bedeutet nicht, dass die Revolution vorbei ist. Schliesslich wurde keines der dringenden Probleme der Bevölkerung gelöst. Doch eine wichtige Möglichkeit zum Sturz der herrschenden Klasse in Sri Lanka – und damit der Startschuss zur Weltrevolution beginnend in Südostasien – wurde verpasst.
In der Krise des globalen Kapitalismus trifft es zuerst die schwächsten Länder, die bei der Weltbank und imperialistischen Ländern verschuldet sind. Sri Lanka war das erste Land seit dem Ukraine-Krieg, das seine Schulden nicht mehr begleichen konnte. Bloomberg warnt vor einer «historischen Kettenreaktion von Zahlungsausfällen in den Schwellenländern». 19 Länder und damit 900 Millionen Menschen, darunter Ägypten, Bangladesh, Pakistan, El Salvador und Argentinien, seien vom Staatsbankrott bedroht. Angriffe auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen, Nahrungsmittelknappheit und steigende Preise zwingen die Massen in den Kampf und bereiten eine Revolution in einem Land nach dem anderen vor. Die Strategen des internationalen Kapitals verstehen die soziale Explosivität der Situation. Die US-Behörde für internationale Entwicklung erklärt offen: «Wenn wir aus der Geschichte etwas lernen, dann, dass die Regierung in Sri Lanka wahrscheinlich nicht die letzte ist, die fällt.»
Die letzten zwei Jahre Pandemie und der Ukraine-Krieg haben die kapitalistische Krise beschleunigt. Heute gibt es keine einzelnen Krisenherde, das Brennmaterial türmt sich überall auf, auch im Herzen des Kapitalismus: in Europa. Seit der Krise 2008 hat sich das Epizentrum von der Peripherie (Griechenland) zu den grössten vier Volkswirtschaften Italien, Frankreich, Grossbritannien und sogar Deutschland verschoben.
Die herrschende Klasse in den einzelnen Ländern hat immer mehr Schwierigkeiten, die Kontrolle zu wahren. Grossbritannien und Italien stecken bereits mitten in einer Regierungskrise. In Frankreich hat Macron kurz nach seiner Wiederwahl die Parlamentsmehrheit verloren. Ihnen allen gemein ist die Devise: Die Arbeiterklasse soll für die Krise des Kapitalismus bezahlen. In Deutschland sind Nahrungsmittelpreise bereits um 17 %, die Energiepreise um 35 % gestiegen. In Grossbritannien wird die Tarifobergrenze für Strom und Gas im Oktober um 80 % angehoben und das zusätzlich zu einer Teuerung von 10 %. Jeder vierte Brite plant denn auch die Heizung im Winter abgeschaltet zu lassen! Zynisch spricht die herrschende Klasse vom «Frieren für die Freiheit» (Gauck in Deutschland) und vom «Ende des Überflusses, der Sorglosigkeit und der Selbstverständlichkeiten» (Macron in Frankreich). Wir sehen gerade den grössten Einbruch der Lebensbedingungen in Europa seit 50 Jahren. Das ist soziales Sprengmaterial!
Die Anfänge davon sehen wir in Grossbritannien, wo die britische Arbeiterklasse gerade aus ihrem jahrzehntelangen Schlaf erwacht. Im Juni sahen wir den ersten landesweiten Bahnstreik seit 30 Jahren, bei dem mehr als 40’000 EisenbahnerInnen streikten. Die Solidarität in der Bevölkerung war riesig: 62 % unterstützten den Streik für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen. Die RMT-Streiks bei der Bahn haben Gewerkschaften und wütende ArbeiterInnen inspiriert und so eine Streikwellen in verschiedensten Sektoren und Berufsgruppen losgetreten. Die Beschäftigten im Busverkehr, in der Müllabfuhr, auf Flughäfen, im Baugewerbe und bei der Post haben Kampfmassnahmen ergriffen. Beamte, LehrerInnen, DozentInnen und sogar Anwälte sind auf dem Vormarsch. Sogar gewerkschaftlich unorganisierte Bereiche wie bei Amazon beginnen sich zu organisieren und treten in wilde Streiks.
Das sind klare Indikatoren für die Explosivität der Situation. Selbst die Boulevard-Zeitung «Sun» warnt vor einem «Klassenkrieg». Hier sehen wir klar, wie sich die Bedingungen in einem ehemals stabilen Land in der Krise völlig in ihr Gegenteil verkehren. Dasselbe Schicksal erwartet Frankreich und Italien, wo eine neue Gelbwesten-Bewegung oder auch eine revolutionäre Situation wie 1968 vorbereitet wird. Und auch der Klassenkampf in Deutschland, der lange Zeit hinter jenem in anderen Ländern zurückgeblieben war, kann mit der Energiekrise mit einem Schlag aufholen. Die Zeit, in der wir leben, ist eine Zeit des Krieges, der Krisen und der Revolution. Und das wird kein Land in der vergangenen Stabilität belassen – auch nicht die Schweiz!
Die sich weltweit verschärfende Krise wird die Massen dazu zwingen, in einem Land nach dem anderen den Weg der Revolution einzuschlagen. Die Massen in Sri Lanka haben ein Beispiel dafür gegeben, wie man kämpft. Im Laufe ihres Kampfes, durch ihre Teilerfolge und Rückschläge, werden immer breitere Schichten zu dem Schluss kommen, dass ihr Leiden nur durch den Sturz des Kapitalismus selbst beendet werden kann.
Aber um dies zu erreichen, braucht die Masse der ArbeiterInnen ihre eigene Partei, die erklären kann, dass eine sozialistische Revolution notwendig ist. Die Massen, die den luxuriösen Palast des Präsidenten gestürmt haben, haben gesehen, dass der Reichtum da ist. Das Problem ist nur, dass er sich in den falschen Händen befindet. Soziale Explosionen und das Potenzial für eine sozialistische Revolution sind im allgemeinen Gang des Klassenkampfes angelegt. Doch um sie zu verwirklichen, müssen wir jetzt an die dringliche Aufgabe gehen, eine revolutionäre Führung, das heisst die International Marxist Tendency (IMT), aufzubauen!
Olivia Eschmann für die Redaktion Der Funke
01.09.2022
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