Der dialektische Materialismus, die Philosophie des Marxismus, steht am höchsten Punkt einer langen Entwicklung der Philosophie. Um seine revolutionäre Bedeutung zu verstehen, müssen wir seine Geschichte verstehen. Teil 3: Die idealistische Dialektik Hegels. Hier geht es zu Teil 1 und Teil 2.
Im letzten Teil dieser Artikelserie haben wir gesehen, wie der philosophische Materialismus mit dem Entstehen der bürgerlichen Gesellschaft im Schosse des Feudalismus wieder auf die Tagesordnung gesetzt wurde. Gestützt auf ein streng naturwissenschaftliches Weltbild war dieser Materialismus die ideologische Brechstange der aufstrebenden Bourgeoisie gegen Adel und Kirche und deren überkommene feudale Verhältnisse.
Für diesen praktischen Zweck war irrelevant, dass der bürgerliche Materialismus philosophisch arm war. Er litt, wie wir erklärt haben, an einer starren und ahistorischen Auffassung der Natur, unfähig, die Dinge in ihrem Zusammenhang und ihrer Entwicklung zu begreifen. Der Mensch galt ihm als passives Objekt, das dem mechanischen Gang des «Uhrwerks» Natur ausgeliefert war. Für die Kraft des menschlichen Denkens und die bewusste historische Tätigkeit der Menschen, für die subjektive Seite der gesellschaftlichen Entwicklung, liess dieser leblose Materialismus kaum Platz.
Es ist es deshalb nicht erstaunlich, kommentiert Plechanow, dass den «fähigen und talentierten Menschen», die nicht selbst in den revolutionären Klassenkampf der Bourgeoisie einbezogen waren und die kein praktisches Bedürfnis nach einer Brechstange hatten, «diese Lehre grau und totenhaft vorkam». So in Deutschland, wo es die noch kaum entwickelte Bourgeoisie am Ausgang des 18. Jahrhunderts noch zu keiner lebendigen Kraft gebracht hatte. Ohne Verbindung zur materiellen Praxis einer gesellschaftlichen Kraft flüchtete sich die Philosophie des bürgerlichen Zeitalters ins Reich der abstrakten Theorie, in den Idealismus. Die grossen Köpfe in der Linie von Kant zu Hegel setzten zum Gegenschlag gegen den mechanischen Materialismus an.
Hegel ist der abschliessende Höhepunkt dieser Entwicklung des «deutschen Idealismus» und in Wahrheit der gesamten Philosophie, übertroffen nur noch von Marx und Engels, die direkt an diesem grossen Philosophen anknüpften.
Hegel war der philosophische Ausdruck der tiefen gesellschaftlichen Umwälzungen am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die rund um die Französische Revolution ganz Europa erschütterten. Es war eine Welt im Umbruch, im Kampf zwischen den fortschrittlichen Kräften der Revolution und den reaktionären Kräften der Restauration, zwischen dem Durchbruch der neuen bürgerlichen und dem Versuch der Wiederherstellung der alten feudalen Ordnung. Das schlug sich unverkennbar im hoch-dynamischen Charakter seiner Philosophie nieder, wo nichts bleibt wie es ist, sondern alles sich in ständiger Bewegung und Veränderung befindet, angetrieben durch den fortwährenden Kampf unversöhnlicher Gegensätze.
Während die vorherigen Philosophen versuchten, die Welt zu erklären, wie sie ist, rückte Hegel den gesamten Fokus auf die Welt, wie sie sich entwickelt. Um etwas zu begreifen, reicht es nicht, es in seinem momentanen Zustand zu betrachten. Das ist nur eine oberflächliche Erscheinung. Wir müssen seine Geschichte anschauen und sehen, wie es zu dem geworden ist, was es ist und wie es wird und vergeht.
Die starre mechanische Auffassung geht davon aus, dass die Dinge grundsätzlich in Ruhe sind. Sie kommen nur in Bewegung, wenn sie durch eine äussere Kraft angestossen werden. Die dialektische Auffassung erkennt umgekehrt, dass die Dinge in sich selbst bewegt sind durch ihren inneren Widerspruch: «Nur insofern etwas in sich selbst einen Widerspruch hat, bewegt es sich, hat Trieb und Tätigkeit» (Hegel). Plechanow fasst diese dialektische Auffassung zusammen: «Das Leben selbst trägt die Keime des Todes in sich. Jede Erscheinung ist in dem Sinne widerspruchsvoll, als sie aus sich selbst heraus die Elemente entwickelt, die früher oder später ihrer Existenz ein Ende machen, sie in ihr Gegenteil verwandeln».
Es ist das grosse Verdienst Hegels, diese dialektische Auffassung von Heraklit und den alten Griechen nach über 2000 Jahren wieder ausgegraben und zum ersten Mal umfassend ausgearbeitet zu haben.
Selbst wenn es scheint, als wären die Dinge unbewegt, so ist das doch nur eine oberflächliche Ruhe, das Resultat eines temporären Gleichgewichts im grösseren Prozess der Bewegung und Veränderung. Blicken wir unter die Oberfläche, so erkennen wir, wie in ihrem Innern Kräfte wirken, die es in dem gegebenen Zustand bewahren, und andere, die auf die Auflösung dieses Zustands hintreiben; die allmählich und kaum merkbar die Bedingungen untergraben, die das Gleichgewicht noch aufrechterhalten – bis es plötzlich einbricht und ein neuer Zustand entsteht.
Die Dialektik ist eine fundamental historische Auffassung, sie ist die Lehre der Entwicklung. Aber sie lehrt uns auch, dass die Entwicklung keinen linearen Charakter hat. Sowohl graduelle, allmähliche wie auch plötzliche, sprunghafte Veränderung sind notwendige Seiten desselben Entwicklungsprozesses. Viele allmähliche, quantitative Veränderungen häufen sich an, ohne dabei das Wesen des Ganzen, seinen Zustand und seine Qualität, zu verändern. Bis ein Punkt erreicht ist, an dem der sprichwörtliche Tropfen das Fass zum Überlaufen bringt, wo nur ein kleiner zusätzlicher Schritt zu einem Sprung führt, mit dem sich die Qualität des Ganzen verändert; gerade so, wie das Erhitzen des Wassers zwar dessen Temperatur allmählich steigen lässt, aber erst am Siedepunkt einen neuen Aggregatzustand hervorbringt.
«Ein Teilchen des Baues seiner vorhergehenden Welt löst sich nach dem anderen auf», schreibt Hegel, «ihr Wanken wird nur durch einzelne Symptome angedeutet. (…) Dies allmähliche Zerbröckeln, das die Physiognomie des Ganzen nicht veränderte, wird durch den Aufgang unterbrochen, der, ein Blitz, in einem Male das Gebilde einer neuen Welt hinstellt.» (PhG S. 18) Diese Zeilen könnten nicht treffender sein für die heutige Periode. Zu Hegels Zeit lag die alte feudale Gesellschaft im Sterben, während die neue bürgerlich-kapitalistische Ordnung um ihren endgültigen Durchbruch rang. Heute liegt die alte kapitalistische Welt im Sterben, während die neue sozialistische es noch nicht geschafft hat, geboren zu werden.
Die Revolution ist der Blitz, der qualitative Sprung, der scheinbar auf einen Schlag eine neue Welt zum Vorschein bringt. Aber aus heiterem Himmel kommt der Blitz nur für jene, die nicht sehen, wie sich allmählich ein Gewitter zusammenbraut. Für das Auge, das in der Dialektik geschult ist, zeigen die scheinbar zufälligen und zusammenhangslosen «einzelnen Symptome» deutlich das Wanken der alten Welt an – und das Potenzial einer neuen, die sich in ihrem Schosse entwickelt hat und zur Verwirklichung drängt.
Hegel war angetreten, um den inneren, gesetzmässigen Zusammenhang in aller Entwicklung nachzuweisen. Was vorher als zufällige Ansammlung von Ereignissen, was als isoliert nebeneinanderstehende Ideen erschien, ordnete Hegel in den Entwicklungsgang der Menschheit und des Denkens ein. Jede geschichtliche Stufe ist notwendig für die Entwicklung, hat ihren Grund und ihre rationale Erklärung in den Bedingungen, die sie hervorbringen. Aber jede Stufe ist für sich genommen auch unzureichend, ist vergänglich und wird hinfällig unter neuen, höheren Bedingungen, die in ihrem eigenen Schosse erwachsen. Keine Erscheinung ist absolut, kein Zustand währt ewig. Das ist der tief revolutionäre Charakter der dialektischen Methode, die alles im Flusse der Bewegung sieht und damit im Verständnis alles Bestehenden gleichzeitig das Verständnis der Bedingungen «seines notwendigen Untergangs einschliesst» (Marx).
Aber das System Hegels war, in den Worten von Friedrich Engels, eine «kolossale Fehlgeburt». Hegel war Idealist und verkehrte das wirkliche Verhältnis zwischen Denken und Sein. Die Grundlage alles Bestehenden war ihm nicht die Natur, der Motor der Geschichte nicht die lebendigen Menschen mit ihren wirklichen Bedürfnissen, sondern die «absolute Idee», der «Geist» und damit Gott. Hegels revolutionäre dialektische Methode endete in einem neuen religiösen System, das den gesamten Entwicklungsgang der Geschichte auf den Kopf stellte und seine wirklichen Gesetzmässigkeiten verschleierte.
Um zu einer revolutionären Waffe zu werden, musste der revolutionäre Inhalt der Dialektik von ihrer reaktionären idealistischen Form befreit werden. Diese Aufgabe wurde gelöst, als die Entwicklung des Kapitalismus neue materielle Bedingungen schuf. Mit dem Proletariat betrat eine neue Klasse mit lebendiger Kraft die Bühne der Geschichte und ermöglichte Karl Marx, einem Schüler des grossen Hegel, das dialektische Verständnis des Kampfes der Gegensätze aus dem abstrakten Wolkenreich der Ideen auf den materiellen Boden des Klassenkampfes herunterzuholen.
von Martin Kohler für die Redaktion
Teil 1: Die Entstehung des philosophischen Materialismus
Teil 2: Der bürgerliche Materialismus und seine Grenzen
Bilder Quelle: Wikimedia Commons
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